Wie spricht Gott zum Menschen? – Die Poesie der Heiligen Schriften
Aus dem Bildungsplan Baden-Württemberg (2016):
Die Schülerinnen und Schüler können:
- pbK 2.1 (3) grundlegende religiöse Ausdrucksformen (Symbole, Riten, Mythen, Räume, Zeiten) wahrnehmen, sie in verschiedenen Kontexten wiedererkennen und sie einordnen.
- pbK 2.2 (1) religiöse Ausdrucksformen analysieren und sie als Ausdruck existentieller Erfahrungen verstehen.
- pbK 2.2 (3) Texte, insbesondere biblische, sachgemäß und methodisch reflektiert auslegen.
- pbK 2.4 (2) Gemeinsamkeiten und Unterschiede religiöser und nichtreligiöser Überzeugungen benennen und sie im Hinblick auf mögliche Dialogpartner kommunizieren.
- pbK 2.5 (1) sich mit Ausdrucksformen des christlichen Glaubens auseinandersetzen und ihren Gebrauch reflektieren.
Verlauf
Hinführung
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Bildbetrachtung: Foto vom Schwarzwald bei Dämmerung
(alternatives Bild: Caspar David Friedrich: Uttewalder Grund, ca. 1825)
Stellt euch vor, ihr steht in dieser Landschaft allein an der Stelle, wo das Foto aufgenommen wurde. Welche Gefühle, welche Stimmung löst diese Landschaft in euch aus?
(TA: Beim Anblick dieser Landschaft würde ich mich so fühlen:
ruhig, berührt, beeindruckt, aufgehoben, einsam, ängstlich, klein, …)
Sozialform: Bildbetrachtung, Unterrichtsgespräch
Medien: Foto aus 4.1a, Tafel
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Es ist gar nicht so einfach, solche zum Teil auch gegensätzlichen Gefühle in Worte zu fassen. Der Erzähler in Kermanis Buch sagt dazu: „Allein, wollte ich selbst diese Stimmung beschreiben, wenn etwas zugleich schön und traurig ist, lebendig und totenstill, müsste ich einen Aufsatz verfassen. Goethe gelingt es, dieses widersprüchliche Gefühl auf ganz wenige Zeilen … zu verdichten ...“
Wie macht Goethe das? Schauen wir uns das Gedicht mal an, auf das Kermani hier Bezug nimmt.
AB4.1b Gedicht: SuS äußern spontane Beobachtungen.
Impuls: Der Erzähler sagt zu der Wirkung des Gedichts Folgendes: „das Gefühl, das mich dabei überkommt, entsteht gar nicht durch die Worte, die ja auch ganz einfach sind; das Gefühl entsteht vielmehr durch die Melodie der Verse...“
PA: Probiert mal aus, wie man das Gedicht vortragen muss, um diese widersprüchlichen Gefühle deutlich zu machen: Variiert dabei in der Länge der Vokale, in der Tonlage, wo ihr Pausen setzt usw.
→ Einige SuS tragen vor1
→ Kurzer Austausch im UG
Medien: AB4.1b
Überleitung
Ihr fragt euch vielleicht, warum Kermani in seinem Buch über ein Gedicht von Goethe schreibt. - Weil es ihm als Beispiel für die Wirkung von Dichtung dient. Denn auch der Koran ist (wie Teile der Tora) in dichterischer Form verfasst.
Wie wir gesehen haben, ist nach Kermani die große Leistung von Dichtung
- dass sie Inhalte verdichtet („Dichtung ist Verdichtung – viel Botschaft in wenigen Worten.“, S. 74)
- dass durch die Versmelodien Gefühle geweckt werden, die im Text inhaltlich angelegt sind.
Sozialform: Lehrervortrag
Das wollen wir jetzt überprüfen, indem wir uns einen Surenabschnitt anschauen:
4.1c auf Folie
Wie wirkt dieser Text auf euch?
(Hä?; rätselhaft, fremd, unverständlich, nicht melodisch, chaotisch, unheimlich…)
Sozialform: Unterrichtsgespräch
Medien: Folie 4.1c
Erarbeitung
Kermani sagt, dieser Eindruck entstände durch die Form, und er führt das in seinem Buch an einer Stelle aus, die wir jetzt lesen.
Ein*e S liest den Anfang des Textes auf AB4.2 bis Z. 16, dann wird eine Rezitation auf YouTube eingespielt:
- Youube2 . (V. 1-5 einschließlich Basmala3 bis 0:33min).
→Kurzer Austausch über Höreindruck
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Weitere Lektüre in EA mit Arbeitsauftrag:
Erarbeite aus dem Text, worum es in den Versen 1-5 der Sure 101 laut Kermani geht.
(Unheilsankündigung, „welches Ende droht, wenn die Menschheit nicht umkehrt“)4
Sozialform: Unterrichtsgespräch
Arbeite in Stichworten aus dem Text heraus, mit welchen Mitteln der Koran seine Wirkung auf die Leser*innen und Hörer*innen entfaltet.
- Gleichnisse
- Klänge, Reime, Rhythmen → schöne Rezitation
- Paradoxe
- Unklare Bedeutung von Wörtern und Satzkonstruktionen
- Rätselhaftigkeit
- Unerwartete Zusammenstellung einfacher Wörter und Bilder
- Doppeldeutigkeit
- Lücken (=Leerstellen)
- Altertümliche, feierliche Sprache
- Zusatzaufgabe: Der Erzähler schlägt seiner Tochter das Experiment vor, den Anfang der Sure 101 (Verse 1-5) in eigenen Worten wiederzugeben. Folge diesem Vorschlag.
Welche Konsequenzen ergeben sich für das Verständnis des Korans, wenn man davon ausgeht, dass er ein Werk der Dichtung ist?
- Metaphern müssen als solche wahrgenommen werden
- schwer zu verstehen (und zu übersetzen)
- muss interpretiert werden…
- spricht Gefühle beim Menschen an
Vertiefung Option 1
Sprechblase 4.3a wird projiziert:
Fast alle Muslime glauben, dass der Koran in seiner heutigen arabischen Form das unveränderte, reine Wort Gottes ist, das dem Propheten Mohammed offenbart wurde, dass er zeitlos ist und damit auch auf heutige Probleme und Fragen antwortet5. Versetzt euch in einen muslimischen Gläubigen, der überzeugt ist, dass der Koran das unveränderte, zeitlose Wort Gottes ist, und der gleichzeitig Kermanis Gedanken einleuchtend findet. Wie könnte er auf den Einwand in der Sprechblase antworten?
→ Kurzes UG
Medien: 4.3a
Arbeitsteilige GA zu 4.3b:
Lest euren Textabschnitt und formuliert zusammenfassend in der 2. Spalte der Tabelle, warum es laut Kermani für den Koran und andere Heilige Schriften nicht nur eine Deutung geben kann und darf.6
- Gruppe 1: Ab „Sprache ist selten eindeutig“ bis „Wer sich verändert hat, bist du selbst, du hast dieselben Seiten mit neuen Augen gelesen.“ (S. 36f.)
- Gruppe 2: Ab „Warum das so ist?“ bis „Die Menschen aber unterscheiden sich … und so unterschiedlich leuchtet ein und derselbe Koran in ihren Lektüren auf.“ (S. 38f.)
- Gruppe 3: Ab „Was ich damit meine?“ bis „Die Bücher, die Propheten, die Dichter, … sind nur Wegweiser zu dir selbst.“ (S. 39f.)
- Gruppe 4: Ab „Aber wenn das so ist, …“ bis „Und Gott weiß es besser.“ (S. 40) und ab „Gottes unantastbares Wort…“ bis „Wenn Religionen ein Weg sind. Kann auch der Islam nicht unveränderlich sein.“ (S. 41f.)
→ Präsentation und Ergebnissicherung (z.B. Abschnitte der Gruppen sammeln und für alle kopieren, um langes Abschreiben zu vermeiden)
Medien: 4.3b
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UG: Welche Gedanken und Bilder haben euch gefallen, mit welchen hattet ihr Schwierigkeiten?
Ggf. weiterer Impuls: Welche Chancen, welche Schwierigkeiten liegen möglicherweise darin, wenn man eine Heilige Schrift als das unveränderte, überzeitliche Wort Gottes sieht?
Alternative Vertiefung Option 2
Das melodische Rezitieren der Heiligen Schriften (Kantillation) findet sich bereits im Judentum. Es ist die Aufgabe eines jeden 13jährigen Jungen bei seiner Bar Mizwa (Mädchen bei ihrer Bat Mizwa) ein Stück aus der Tora vorzutragen. Mit diesem feierlichen Akt ist der Junge, das Mädchen in den Kreis der erwachsenen Gemeinde aufgenommen. Die Jugendlichen bereiten sich darauf ein bis drei Jahre vor. Lasst uns einen Auszug daraus hören: YouTube (1:24 bis zum Ende).7
→ kurzer Austausch
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Das Singen der Tora (eigentlich Sprechgesang) hat auch einen ganz praktischen Aspekt.
PA: Überlegt zu zweit, welche Vorteile es mit sich bringt, wenn man einen Text nicht nur liest, sondern melodisch wiedergibt.
- Man kann ihn sich besser merken.
- Man hört den Gesang besser (Lautsprecher-Funktion in der Synagoge)
- Der Vortrag klingt würdiger und schöner.
- Musik spricht Gefühle an
- …
- UG: Kennt ihr solche Sprechgesänge auch im Christentum? (z.B. gregorianische Gesänge, …)
Abschluss
Wir sammeln Fragen, die wir nach der heutigen Stunde unseren Interviewpartner*innen stellen wollen. z.B.: Welche Bedeutung hat die Bibel für dich? Gibt es einen Bibelspruch/einen Liedvers, der dich besonders begleitet hat? Erzähl mal.
Sozialform: Unterrichtsgespräch
Medien: Fragebogen AB 1.4
1 Ggf. Rezitation von Otto Sander via YouTube einspielen
2 Maryam Masud ist ein amerikanischer YouTube-Star (Stand 17.12.2022: 1,54 Mio Abonnenten; 2,6 Mio Follower auf Facebook; 161 Tsd. auf Instagram.
3 Zur Basmala evtl. kurze Lehrerinformation: „Die Basmala ist eine arabische Anrufungsformel, die mit Ausnahme der Sure 9 am Anfang jeder Sure des Korans steht und eine wichtige Rolle im Gottesdienst und Alltag der Muslime spielt. Sie lautet: bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi/‚Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes‘“ aus: Wikipedia
4 In der Sure al-Qaria geht es um das Jüngste Gericht/die Wiederauferstehung und die Rechenschaft. In den meisten Suren werden die Erinnerung an das Jüngste Gericht, die Warnung vor der Strafe, die lebhafte Beschreibung der Hölle zusammen mit der Betonung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes, der lebendigen Beschreibung des Paradieses dargestellt. Das ist ein wichtiges Charaktermerkmal des Korans. Da dies in dem von Kermani gewählten Textausschnitt nicht deutlich wird, sollte die Lehrkraft darauf hinweisen, damit nicht der falsche Eindruck entsteht, dass der „islamische“ Gott vor allem ein strafender Gott sei.
5 Nach Angelika Neuwirth besetzt „der Koran […] im Islam einen wesentlich höheren Rang als die Bibel bei Juden und Christen“: Während sich nach christlicher Vorstellung Gott in dem Menschen Jesus „verkörpert“ habe (Inkarnation), gelte der Koran für Muslime als „die akustisch zugängliche Verkörperung des Gotteswortes“. (Neuwirth, Angelika: Ist der Koran vom Himmel gefallen? Die Eigenart des Koran in der neueren Koranforschung, in: Welt und Umwelt der Bibel, Katholisches Bibelwerk e.V., Stuttgart, Heft 1, 2012, 11.
6 Im Islam gibt es eine sehr umfangreiche Koranexegese-Tradition und entgegen vieler Vorurteile geht die große Mehrheit der muslimischen Gelehrten und der Muslim*innen insgesamt ganz selbstverständlich davon aus, dass der Koran interpretiert werden muss.
7Zum vertieften Verständnis der Bar Mizwa ist der Kurzfilm „Alon und seine Bar Mizwa“ via planet-schule.de zu empfehlen.
Unterrichtsverläufe: Herunterladen [docx][133 KB]
Unterrichtsverläufe: Herunterladen [pdf][701 KB]
Weiter zu 5. DS: Christlich-muslimischer Dialog