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M3.2 Ahmad M. Ka­ri­mi: Sich ein­mi­schen – sinn­stif­tend auf die Wirk­lich­keit ein­wir­ken

Wer sein Leben aus geis­ti­ger Fülle und aus der Er­fah­rung gött­li­cher Rea­li­tät ent­wirft, kann sinn­stif­tend auf die Wirk­lich­keit ein­wir­ken. Das ist not­wen­dig ge­ra­de in einer Ge­sell­schaft, die alles Leben in quan­ti­ta­ti­ven Grö­ßen und nach ma­te­ri­el­len Wer­ten misst und alles den Leit­ka­te­go­ri­en von Pro­duk­ti­on und Leis­tung un­ter­ord­net. Die spi­ri­tu­el­le Tra­di­ti­on des Islam lehrt ja, auch im schein­bar Sinn­-losen Sinn zu er­bli­cken. Sie sieht in der ei­ge­nen Schwä­che, im ei­ge­nen Schei­tern, im Al­tern und selbst in Not und Krank­heit, Trau­er und Tod ver­bor­ge­ne Weis­heit, Stär­ke und Würde. Kon­kret und auf die po­li­ti­sche Rea­li­tät be­zo­gen heißt das: Auch in das An­ge­sicht der Flücht­lin­ge, der Not­lei­den­den un­se­rer Zeit, ist für den Gläu­bi­gen nicht nur das Elend ein­ge­schrie­ben, son­dern auch und ins­be­son­de­re Hoff­nung, Mut und die Zu­ver­sicht dar­auf, dass es eine Zu­kunft geben kann, die nicht mehr durch Krieg und Zer­stö­rung, son­dern durch Frie­den und Mensch­lich­keit ge­prägt ist. Aus den Er­fah­run­gen der Re­li­gio­nen her­aus ge­hö­ren diese Men­schen nicht zu den Frem­den, die vor einer Gren­ze ab­ge­wie­sen wer­den soll­ten, son­dern sie alle tra­gen, jeder für sich, die ganze Würde des Mensch­seins in sich, sie ver­die­nen je­weils einen Namen, eine ei­ge­ne Ge­schich­te, sie ver­die­nen eine ei­ge­ne Wür­di­gung, weil sie auf eine Zeit hof­fen, in der das Leben ge­lin­gen soll: Das ist die Zeit, für die sich die Re­li­gio­nen ein­set­zen.

Für die Sinn­stif­tung durch Re­li­gi­on gilt zudem: Sie kann nicht geist­los oder wis­sen­schaft­lich des­in­ter­es­siert sein und auch nicht als ir­ra­tio­nal ver­stan­den wer­den - und dies ge­ra­de in einer Zeit nicht, in der vor­wie­gend Ra­tio­na­li­tät und Al­go­rith­men die ge­sell­schaft­li­che Ent­wick­lung be­stim­men. […]

Wort und Tat müs­sen im Ein­klang ste­hen. So lehrt es der Koran. Eine in die­sem Sinn ko­hä­ren­te Po­li­tik ist die Vor­aus­set­zung für Nach­hal­tig­keit. Un­kon­trol­lier­ter Fort­schritt um jeden Preis ist Rück­schritt, ist in Wahr­heit geis­ti­ge Armut. Ent­wick­lung im bes­ten Sinne ge­lingt dann, wenn sie mit Acht­sam­keit und im Geist der So­li­da­ri­tät be­trie­ben wird, aber auch in ver­ant­wort­li­cher Rück­sicht auf das Ganze. Die ganz­heit­li­che, glo­ba­le Per­spek­ti­ve, wel­che von der Idee der Plu­ra­li­tät der Ge­sell­schaf­ten ge­tra­gen ist, ver­langt ge­ra­de heute nach Bin­dung und Ver­bind­lich­keit: Sie be­zieht sich auf Werte, die für alle gel­ten, so­dass kein Mensch ir­gend­wo il­le­gal ist und kein Flücht­ling wie eine Ware be­han­delt und ver­han­delt wer­den darf. […]

Der An­spruch muss sein, po­li­ti­sche und so­zia­le Ver­ant­wor­tung aus dem in­ne­ren Ver­ständ­nis der Re­li­gi­on her­aus zu for­mu­lie­ren und so Men­schen zu er­mu­ti­gen, sich po­li­tisch ein­zu­mi­schen und in der Ge­sell­schaft aktiv zu wer­den. Re­li­gio­nen sind selbst Teil der ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit. Sie kön­nen und sol­len auch einen ei­ge­nen An­spruch auf Par­ti­zi­pa­ti­on for­mu­lie­ren und sich für die Ge­stal­tung einer frei­en Ge­sell­schaft ein­set­zen, ge­ra­de in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung. Re­li­gio­nen ver­fü­gen über eine rei­che Er­fah­rung mit Tu­gen­den und Wer­ten. Genau dar­auf muss sich un­se­re Zeit mehr denn je zu­rück­be­sin­nen, wenn es um Frie­den, To­le­ranz, einen ver­ant­wort­li­chen Um­gang mit der Um­welt, die Be­wah­rung der Schöp­fung, die Her­aus­bil­dung einer durch­dach­ten Tie­re­thik und der­glei­chen geht. […]

Got­tes­dienst, so sagt die is­la­mi­sche Mys­tik, ist die Ein­sicht in die Weise des Wir­kens Got­tes, das über­all - also auch in der Wirk­lich­keit von Po­li­tik und Ge­sell­schaft - zu sehen ist, wenn man sei­nen Blick dafür ge­schärft hat.

Quel­le: An­selm Grün/ Ahmad Milad Ka­ri­mi, Im Her­zen der Spi­ri­tua­li­tät: Wie sich Mus­li­me und Chris­ten be­geg­nen kön-nen, Frei­burg im Breis­gau 2019, S. 229-231.

Auf­ga­be:
Ar­bei­tet in Part­ner­ar­beit Di­men­sio­nen ge­sell­schaft­li­cher Ein­fluss­nah­me und po­li­ti­schen En­ga­ge­ments her­aus, die sich aus dem mys­ti­schen Islam er­ge­ben.

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [docx][194 KB]