Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Auf­ga­be I A: Er­ör­te­rung eines li­te­ra­ri­schen Tex­tes

Ste­fan Metz­ger

Bei­spiel­auf­ga­be zur li­te­ra­ri­schen Er­ör­te­rung

Thema: Jo­hann Wolf­gang von Goe­the, Faust

Hin­weis: Bei­spiel­auf­ga­ben wer­den an ent­spre­chen­der Stel­le vom Mi­nis­te­ri­um ver­öf­fent­licht.

Lö­sungs­hin­wei­se zur li­te­ra­ri­schen Er­ör­te­rung

Die Auf­ga­be kon­fron­tiert die Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit einer Po­si­ti­on zur Gat­tung des „Faust“ aus der Se­kun­där­li­te­ra­tur, die sich pro­vo­kant gegen Goe­thes Ein­ord­nung des Dra­mas als „Tra­gö­die“ stellt. Die zwei­tei­li­ge Auf­ga­ben­stel­lung ver­langt zu­nächst, dass die Be­grün­dung Borch­mey­ers knapp und klar her­aus­ge­ar­bei­tet wird. In der Er­ör­te­rung wird eine dif­fe­ren­zier­te Aus­ein­an­der­set­zung mit Borch­mey­ers These, bei Faust hand­le es sich um eine „un­tra­gi­sche Ge­stalt“, er­war­tet. Die Ar­gu­men­ta­ti­on ist je­weils durch Be­le­ge ab­zu­si­chern. Der Schwer­punkt liegt auf dem zwei­ten Auf­ga­ben­teil.

1. Ar­beits­an­wei­sung

Nach einer funk­tio­na­len Ein­lei­tung füh­ren die Schü­le­rin­nen und Schü­ler zum vor­ge­leg­ten Text­aus­zug hin. Borch­mey­er for­mu­liert gleich zu Be­ginn die Kern­the­se, beim „Faust“ hand­le es sich um eine „‚ver­kapp­te‘ Ko­mö­die“ (Z. 1). Denn, so Borch­mey­er, der Prot­ago­nist sei eine „un­tra­gi­sche Ge­stalt“ (Z. 6). Dies wird an drei Punk­ten fest­ge­macht: Ers­tens sei Faust keine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­gur, zum einen weil er selbst nicht leide. Zum an­de­ren über­schrei­te er die Gren­zen des Mensch­li­chen und könne daher nicht „Furcht und Mit­leid“ (Z. 11) er­re­gen, die nach Aris­to­te­les we­sent­lich für die Tra­gö­die seien. Zum Zwei­ten schei­te­re Faust nicht, son­dern ent­zie­he sich immer wie­der dem Schei­tern. Er löse zwar tra­gi­sche Er­eig­nis­se aus, sei aber selbst nicht von ihnen be­trof­fen. Zudem sei er – drit­tens – kein „ein­ma­li­ges In­di­vi­du­um“ (Z. 30), son­dern ein Typus, des­sen hoch­flie­gen­des Stre­ben immer wie­der von den Zu­fäl­len des Le­bens durch­kreuzt werde.

2. Ar­beits­an­wei­sung

Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler dis­ku­tie­ren und pro­ble­ma­ti­sie­ren die Aus­füh­run­gen Borch­mey­ers und ent­wi­ckeln eine ei­gen­stän­di­ge Po­si­ti­on. Sie soll­ten dabei auch Grund­kennt­nis­se der Gat­tungs­theo­rie her­an­zie­hen; es kann aber dabei nicht darum gehen, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler die in­ten­si­ve gat­tungs­theo­re­ti­sche De­bat­te zum „Faust“ auf­grei­fen oder mit einer dif­fe­ren­zier­ten Theo­rie der Komik ope­rie­ren; bei­des führ­te zu weit. Auch Über­le­gun­gen zum Faust II und sei­nem Aus­gang kön­nen nicht er­war­tet wer­den.

Borch­mey­ers Ar­gu­men­ta­ti­on gegen die Tra­gö­die kann deut­lich pro­ble­ma­ti­siert wer­den und ist nur in An­sät­zen plau­si­bel. Das liegt nicht nur daran, dass er pro­vo­kant for­mu­liert. Wenn er bei­spiels­wei­se sagt, dass Faust „erst recht nicht ko­misch“ (Z. 28) schei­ne, wird ein di­rek­ter Wi­der­spruch zu sei­nem Ar­gu­men­ta­ti­ons­ziel nur durch die Mo­da­li­tät des Ver­bes „schei­nen“ ver­mie­den.
Borch­mey­er be­grün­det seine Po­si­ti­on zum einen damit, dass Faust kein Mit­leid er­re­ge. Das ist si­cher rich­tig. Auch die Be­grün­dun­gen des Text­aus­zu­ges, dass Faust nicht leide und durch die Über­schrei­tung der Gren­zen des Men­schen aus­ge­zeich­net sei, sind zu­nächst ein­leuch­tend. Das zwei­te Ar­gu­ment könn­te durch Ver­weis auf sei­nen mo­no­ma­ni­schen Cha­rak­ter und seine Dis­tan­ziert­heit er­gänzt und prä­zi­siert wer­den. Kri­tisch ein­ge­wen­det wer­den könn­te, dass Faust als Mo­dell­fall des neu­zeit­li­chen Men­schen bis zu einem ge­wis­sen Grad sehr wohl ein Wie­der­er­ken­nen in die­ser Figur und ihrem Schei­tern er­mög­licht.
Borch­mey­ers zwei­tes Ar­gu­ment, dass sich Faust dem Schei­tern immer wie­der ent­zie­he, ist bei nä­he­rer Be­trach­tung kaum zu hal­ten. Schon die Szene „Nacht“ zeigt das wie­der­hol­te Schei­tern an der Über­win­dung der mensch­li­chen Er­kennt­nis­gren­zen, das am Ende nur durch die Kind­heits­er­in­ne­rung iro­nisch un­ter­bro­chen wird. Zudem ist die Magie, die Borch­mey­er an­führt (vgl. Z. 19), in die­sem Kon­text keine Flucht aus der Wis­sen­schaft, son­dern kann ver­stan­den wer­den als die Form des Prak­ti­sch­wer­dens von Wis­sen­schaft, mit­hin als die Idee der Tech­nik. Mit dem Ein­ge­hen der Wette wird das Schei­tern dann ge­ra­de­zu zum Pro­gramm. Die Ver­jün­gung in der „He­xen­kü­che“ (vgl.  Z. 19 ff.) be­raubt Faust kei­nes­wegs der Er­in­ne­rung, son­dern macht aus ihm eine mons­trö­se Ge­stalt mit jun­gem Kör­per und er­fah­re­nem Geist. Diese Kon­ti­nui­tät ver­weist auf ein tie­fe­res Miss­ver­ständ­nis Borch­mey­ers: Die Ver­jün­gung ist keine Flucht, son­dern die Be­din­gung der Mög­lich­keit, durch die Be­zie­hung zu Gret­chen als har­mo­ni­schem mensch­li­chen Wesen die er­füll­te Liebe als eine der Mög­lich­kei­ten, die „der gan­zen Mensch­heit zu­ge­teilt ist, […] in mei­nem in­nern Selbst [zu] ge­nie­ßen“ (V. 1770 f., zit. in Z. 27 f.). Auch dies muss wegen des in­ne­ren Wi­der­spruchs zum Pro­gramm des Selbst­ge­nus­ses schei­tern.
Borch­mey­ers drit­tes Ar­gu­ment be­ruht auf der Fest­stel­lung, Faust sei ein „Typus“ (Z. 30). Das stimmt be­dingt. Es ist zum einen zu eng: Faust ver­kör­pert nicht einen be­stimm­ten Cha­rak­ter­ty­pus, son­dern er ver­kör­pert ein an­thro­po­lo­gi­sches Grund­kon­zept, den neu­zeit­li­chen Men­schen, mit­hin mehr als nur einen Typus. An­der­seits ist Faust kein ko­mi­scher Typus; sol­che Typen sind ja durch kli­schee­haf­te Zu­spit­zun­gen ge­kenn­zeich­net, die durch­aus ka­ri­kie­ren­de Züge an­neh­men kön­nen. Dies trifft für Faust nicht zu – im Ge­gen­satz etwa zum selbst­be­zo­ge­nen Ge­lehr­ten Wag­ner, dem nai­ven Schü­ler oder der be­rech­nen­den Marthe. Ins­be­son­de­re ver­tritt Faust nicht, wie Borch­mey­er es na­he­legt, den Typus des zer­streu­ten, welt­fer­nen Ge­lehr­ten, der die Zu­fäl­le und kon­tin­gen­ten Be­din­gun­gen einer Si­tua­ti­on man­gels ge­sun­den Men­schen­ver­stan­des ver­kennt (vgl. Z. 35 f.) und daran ko­misch schei­tert. Zum Drit­ten ist Faust deut­lich als in­di­vi­du­el­ler Cha­rak­ter aus­ge­bil­det. Ge­ra­de darin liegt seine Tra­gik be­grün­det. Er ist als tra­gi­scher Held nicht ein­fach böse, seine Schuld be­steht nicht in einer ein­fach will­kür­li­chen Ver­feh­lung; sie wird erst da­durch tra­gisch, dass sie un­aus­weich­lich ist, weil in ihr zwei Prin­zi­pi­en ge­gen­ein­an­der ste­hen. Faust schei­tert an der Hy­bris des mo­der­nen Men­schen, der alle mensch­li­chen Mög­lich­kei­ten in sei­ner er­le­ben­den In­di­vi­dua­li­tät aus­schöp­fen möch­te (vgl. V. 1770 f.), dies aber ge­ra­de als end­li­ches In­di­vi­du­um nicht kann. Daher ist die Aus­ge­stal­tung von Fausts in­di­vi­du­el­lem Cha­rak­ter im Drama zen­tral. Zudem schei­tert er exis­ten­ti­ell und wird immer wie­der auch als au­then­tisch Lei­den­der ge­zeigt (z.B. die Szene „Wald und Höhle“, die nicht nur Faust hohes Pa­thos par­odiert).

Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler kön­nen diese Aus­ein­an­der­set­zung ein­bet­ten in die wei­ter­ge­hen­de Frage nach der Gat­tungs­zu­ge­hö­rig­keit des „Faust“, wie sie zu Be­ginn des Text­aus­zu­ges an­ge­deu­tet wird. Auf­fäl­lig ist, dass Borch­mey­er nur dafür ar­gu­men­tiert, „das Tra­gi­sche“ schei­ne „zu ver­schwin­den“ (Z. 3 f.), indes im vor­lie­gen­den Text­aus­schnitt keine Ele­men­te des Ko­mi­schen auf­zeigt. Eine sol­che Ar­gu­men­ta­ti­on er­scheint ein­sei­tig und un­voll­stän­dig.1 Hier kann im Ge­gen­zug auf ver­schie­de­ne For­men von Komik im Text hin­ge­wie­sen wer­den. Der Au­ßen­text deu­tet ei­ni­ge zu Be­ginn an (vgl. Z. 2 f.), die Wort­er­klä­rung zur Farce kann den Schü­le­rin­nen und Schü­lern An­re­gun­gen geben. Ge­nannt wer­den könn­ten z.B. For­men des Wort­wit­zes (z.B. V. 2916, 3459 ff.), ko­mi­sche Fi­gu­ren (s.o., ggf. auch der Herr im Pro­log oder Me­phis­to als Narr, auch wenn er mehr ist als der ord­nungs­be­stä­ti­gen­de „Schalk“ (V. 339), auf den der Herr ihn re­du­zie­ren will), Dar­stel­lun­gen des Der­ben, Ob­szö­nen und Gro­tes­ken („He­xen­kü­che“, „Wal­pur­gis­nacht“), Par­odi­en (z.B. wenn in der Szene „Gar­ten“ zum Lie­bes­paar Gret­chen und Faust das lüs­ter­ne Ge­gen­mo­dell Marthes und Me­phis­tos mon­tiert wird) oder Sa­ti­re (z.B. Ge­sell­schafts­sa­ti­re in „Vor dem Tor“, Ge­sel­lig­keits­sa­ti­re in „Au­er­bachs Kel­ler“, Sa­ti­re der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on in „He­xen­kü­che“, Li­te­ra­tur­sa­ti­re im „Wal­pur­gis­nachts­traum“).
Auf der an­de­ren Seite kön­nen wei­te­re Cha­rak­te­ris­ti­ka der Tra­gö­die an­ge­führt wer­den, etwa die Fall­hö­he des Ge­lehr­ten, das Schei­tern an den mensch­li­chen Er­kennt­nis­gren­zen in „Nacht“, das Schei­tern einer lie­ben­den Hin­ga­be an Gret­chen an Fausts Selbst­zen­triert­heit oder die Gret­chen­tra­gö­die als Bür­ger­li­ches Trau­er­spiel (hier auch Form des Py­ra­mi­den­mo­dells, An­la­ge Gret­chens auf Iden­ti­fi­ka­ti­on und damit Mit­lei­den).
Soll­ten die Schü­le­rin­nen und Schü­ler zu dem Schluss kom­men, „Faust“ zeige Merk­ma­le bei­der Gat­tun­gen, soll­te diese Fest­stel­lung nicht bei einem blo­ßen So­wohl-als-auch blei­ben, das mit dem Eti­kett der Tra­gi­ko­mö­die ver­se­hen wird; hier soll­te in Grund­zü­gen ge­zeigt wer­den, wel­che Funk­tio­nen eine Ver­schrän­kung der Gat­tun­gen für das Drama haben könn­te (z.B. Er­träg­lich­ma­chen des Ent­setz­li­chen und Un­ge­heu­ren).

Für die Leis­tungs­be­wer­tung grund­sätz­lich maß­geb­lich sind struk­tu­rel­le Klar­heit, in­halt­li­che Dif­fe­ren­ziert­heit und Er­gie­big­keit der zu­grun­de­lie­gen­den In­ter­pre­ta­ti­on, ar­gu­men­ta­ti­ve Plau­si­bi­li­tät und ein si­che­res Ur­teils­ver­mö­gen. Auch für eine sehr gute Be­wer­tung wird keine Voll­stän­dig­keit der Er­ör­te­rung er­war­tet.
Die Lö­sungs­hin­wei­se stel­len nur eine mög­li­che Auf­ga­ben­lö­sung dar. An­de­re Lö­sun­gen sind mög­lich, wenn sie der Auf­ga­ben­stel­lung ent­spre­chen und sach­lich rich­tig sind.

 

1 In dem Auf­satz, der diese Stel­le ent­nom­men ist, wer­den wei­te­re Ele­men­te des Ko­mi­schen auf­ge­zeigt (z.B. Mi­schung der Sti­le­be­nen, Me­phis­to als Narr und Tricks­ter, ein­sei­ti­ge, bis zur Ka­ri­ka­tur ge­hen­de Fi­gu­ren wie Wag­ner, Dar­stel­lung des Sexus und von Ob­szö­ni­tä­ten, Ele­men­te des Kar­ne­val, Komik als tran­szen­die­ren­des Mo­ment).

 

Re­a­der: Neues Auf­ga­ben­for­mat Ab­itur 2021: Her­un­ter­la­den [docx][2 MB]

Re­a­der: Neues Auf­ga­ben­for­mat Ab­itur 2021: Her­un­ter­la­den [pdf][852 KB]

 

Wei­ter zu Auf­ga­be I B