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Auf­ga­be I B: Er­ör­te­rung zwei­er li­te­ra­ri­scher Texte

Sa­bi­ne Beh­rens

Bei­spiel­auf­ga­be zum Werk­ver­gleich

Thema: E. T. A. Hoff­mann: Der gold­ne Topf, Her­mann Hesse: Der Step­pen­wolf

Hin­weis: Bei­spiel­auf­ga­ben wer­den an ent­spre­chen­der Stel­le vom Mi­nis­te­ri­um ver­öf­fent­licht.

Lö­sungs­hin­wei­se zum Werk­ver­gleich

Die Auf­ga­ben­stel­lung ver­langt die poin­tier­te Dar­stel­lung der vor­ge­leg­ten These sowie ihre ver­glei­chen­de Er­ör­te­rung in Bezug auf die Fi­gu­ren An­sel­mus und Harry Hal­ler. Dabei sind we­sent­li­che Be­grif­fe des Zi­tats (ins­be­son­de­re: An­zie­hungs­kraft des Un­mög­li­chen; mensch­li­chesBe­dürf­nis, bis an die per­sön­li­chen, so­zia­len und na­tür­li­chen Gren­zen sei­ner Exis­tenz vor­zu­drin­gen“) zu er­läu­tern und auf die Fi­gu­ren zu be­zie­hen.

Fromms Kern­the­se, dass der Mensch das Be­dürf­nis ver­spü­re, „bis an die per­sön­li­chen, so­zia­len und na­tür­li­chen Gren­zen sei­ner Exis­tenz vor­zu­drin­gen“ und dabei „über den engen Le­bens­rah­men, in den er hin­ein­ge­zwun­gen ist, hin­aus­zu­bli­cken“, kann auch für An­sel­mus und Harry Hal­ler gel­tend ge­macht wer­den.

Eine Gren­ze mar­kiert die Trenn­li­nie, die Räume von­ein­an­der schei­det. Die Räume kön­nen sich so­wohl im wört­li­chen Sinne auf eine to­po­gra­fi­sche Ord­nung als auch im über­tra­ge­nen Sinne auf Le­bens­wel­ten als ver­schie­de­ne Exis­ten­z­wei­sen be­zie­hen.

An­sel­mus be­wegt sich im Span­nungs­feld zwi­schen bür­ger­li­cher Ord­nung (Stre­ben nach An­er­ken­nung und be­ruf­li­chem Er­folg, Hin­ge­zo­gen­heit zu Ve­ro­ni­ka als Re­prä­sen­tan­tin der bür­ger­li­chen Welt) und Fan­ta­sie­welt (Er­leb­nis­se unter dem Ho­lun­der­busch, Was­ser­spie­ge­lun­gen wäh­rend Boots­fahrt, Ko­pie­ren der ge­heim­nis­vol­len Schrif­ten im Haus des Ar­chi­va­ri­us ...) hin und her, bis er sich schließ­lich end­gül­tig für At­lan­tis als Reich der Fan­ta­sie und Poe­sie ent­schei­det und die bür­ger­li­che Welt hin­ter sich lässt. Sein kind­li­ches, fan­ta­sie­be­gab­tes Gemüt er­mög­licht ihm Er­fah­run­gen, die ihn die Welt der bür­ger­li­chen Ord­nung tran­szen­die­ren las­sen, ohne dass er sich zu­nächst be­wusst für eine der Exis­ten­z­wei­sen ent­schie­de. So nimmt er im Wech­sel gerne die Un­ter­stüt­zung sei­ner phi­lis­ter­haf­ten Freun­de wie dem Kon­rek­tor Paul­mann oder Ve­ro­ni­ka bzw. jene der mär­chen­haf­ten Fi­gu­ren wie Ser­pen­ti­na und dem Ar­chi­va­ri­us an.
Der Grenz­über­tritt fin­det seine Ent­spre­chung in der räum­li­chen Struk­tur der Er­zäh­lung: Indem An­sel­mus die Tür zum Haus des Ar­chi­va­ri­us als der Schwel­le, die beide Wel­ten von­ein­an­der schei­det, über­schrei­tet und das Äp­fel­weib ihm als feind­li­che Macht, die dies zu ver­hin­dern sucht und ihm in der Ge­stalt des sich ver­wan­deln­den Tür­klop­fers ent­ge­gen­tritt, über­win­det, er­öff­nen sich ihm fan­tas­ti­sche, mär­chen­haf­te Räume. Das Ein­ge­schlos­sen­sein in der Kris­tall­fla­sche mar­kiert einen Rück­schritt in sei­ner Ent­wick­lung, an deren Ende er die Sphä­re der bür­ger­li­chen Welt zu­guns­ten der fan­tas­ti­schen Welt ver­lässt, trifft ihn die Stra­fe doch just in dem Mo­ment, in dem er sich Ve­ro­ni­ka und damit der bür­ger­li­chen Welt zu­wen­det. Die Gren­zen die­ser Welt spürt er im Zu­stand des Ein­ge­schlos­sen­seins be­son­ders deut­lich und emp­fin­det sie als be­drü­ckend und ein­engend. Indem er die Er­star­rung einer bür­ger­li­chen Exis­tenz als be­las­tend emp­fin­det, lei­tet er seine Be­frei­ung ein, al­ler­dings ge­lingt diese erst mit my­thi­scher Un­ter­stüt­zung von außen, indem der Ar­chi­va­ri­us das Äp­fel­weib als feind­li­ches Prin­zip, das An­sel­mus’ Ein­tritt in die Welt des Zau­ber­reichs At­lan­tis zu ver­hin­dern sucht, be­siegt.
Am Ende hat An­sel­mus den „engen Le­bens­rah­men“ in den er „hin­ein­ge­zwun­gen“ ist, die bür­ger­li­che Welt, über­wun­den; er es­ka­piert und ent­schei­det sich be­wusst für eine Exis­tenz als Dich­ter in At­lan­tis als dem Reich der Fan­ta­sie und Poe­sie.

Auch Harry Hal­ler be­wegt sich zwi­schen zwei Wel­ten, näm­lich zwi­schen der bür­ger­li­chen Welt, der er sich nicht (mehr) als zu­ge­hö­rig fühlt, und der fan­tas­ti­schen Welt, für die v. a. das ma­gi­sche Thea­ter steht. Auch hier fin­den sich die ver­schie­de­nen Räume in der To­po­gra­fie der Schau­plät­ze wie­der, wenn Harry Hal­ler seine Stube im Hause sei­ner Ver­mie­te­rin und damit das bür­ger­li­che Mi­lieu ver­lässt, dabei über das nach Ter­pen­tin duf­ten­de Trep­pen­haus sin­niert, worin sich me­t­ony­misch seine Sehn­sucht nach einer wohl­ge­ord­ne­ten bür­ger­li­chen Exis­tenz aus­drückt, um dann gemäß sei­nes step­pen­wolf­haf­ten Um­her­ge­trie­benseins durch die Stra­ßen zu zie­hen und sich schließ­lich im zwie­lich­ti­gen Nacht­le­ben und ma­gi­schen Thea­ter als den Ge­gen­po­len einer bür­ger­li­chen Welt wie­der­zu­fin­den.
Ähn­lich wie An­sel­mus ent­springt der Im­puls, die Gren­zen in die eine oder an­de­re Rich­tung zu über­tre­ten, dabei zu­nächst we­ni­ger einem in­ten­tio­na­len Akt, son­dern ist viel­mehr das Er­geb­nis des Hin- und Her­ge­ris­sen­seins zwi­schen bei­den Polen. Gleich An­sel­mus be­darf auch Harry Hal­ler der Hel­fer­fi­gu­ren (Her­mi­ne, Pablo, Maria), die ihn zum Ein­tritt in die Welt des ma­gi­schen Thea­ters und des sinn­li­chen Ge­nus­ses be­we­gen. Damit er­weist sich auch der Step­pen­wolf als ein Cha­rak­ter, der das Be­dürf­nis ver­spürt, den „engen Le­bens­rah­men“ sei­ner bür­ger­li­chen Exis­tenz zu er­wei­tern, sich an­de­rer­seits aber auch von einer bür­ger­li­chen Exis­tenz an­ge­zo­gen fühlt.

An­ders als bei An­sel­mus ist die Grenz­über­win­dung Harry Hal­lers noch stär­ker ins In­ne­re der Per­son ver­la­gert, über­schrei­tet Harry Hal­ler doch v. a. die Gren­zen, die er sich selbst ab­ge­steckt hat (wenn er z. B. ent­ge­gen sei­ner Über­zeu­gung tan­zen lernt, Jazz­mu­sik hört und sich dem Sin­nes­le­ben hin­gibt), und schließ­lich seine duale Iden­ti­täts­kon­zep­ti­on zu­guns­ten einer Plu­ra­li­tät der As­pek­te sei­ner Per­sön­lich­keit über­win­det.

So­wohl An­sel­mus als auch Harry Hal­ler über­win­den so­zia­le, also ge­sell­schaft­lich ge­setz­te Gren­zen: An­sel­mus neigt zu Tag­träu­me­rei­en und fan­tas­ti­schen Ex­zes­sen, die von den Re­prä­sen­tan­ten des Dresd­ner Bür­ger­tums als gegen gel­ten­de Nor­men ver­sto­ßen­des Fehl­ver­hal­ten ge­deu­tet und auf über­mä­ßi­gen Al­ko­hol­kon­sum, Tag­träu­me­rei­en oder eine psy­chi­sche Stö­rung zu­rück­ge­führt bzw. all­ge­mein als Aus­druck man­geln­der Le­bens­tüch­tig­keit ge­deu­tet wer­den.
Auch Harry Hal­ler ver­letzt ge­sell­schaft­lich ge­setz­te Ver­hal­tens­nor­men, wenn er den Pro­fes­sor und des­sen Gat­tin bei einer Ein­la­dung in deren Hause brüs­kiert und sich dem Nacht­le­ben und Ex­zes­sen, die nicht zu­letzt durch ver­bo­te­ne Sub­stan­zen un­ter­stützt wer­den, hin­gibt.
Damit übt auch das, was, wie Fromm aus­führt, nicht er­laubt ist, eine An­zie­hungs­kraft auf beide Cha­rak­te­re aus, wenn man „er­laubt“ nicht nur im streng ju­ris­ti­schen Sinne ver­steht, son­dern auch als die Be­zeich­nung für ein Ver­hal­ten be­greift, das gegen ge­sell­schaft­li­che Nor­men ver­stößt. Al­ler­dings ist der Ver­stoß gegen diese Nor­men von An­sel­mus nicht be­ab­sich­tigt, son­dern eher Folge sei­ner Af­fi­ni­tät zu der für die Bür­ger un­ver­ständ­li­chen fan­tas­ti­schen Welt. Viel­mehr lei­det er unter der Zu­rück­wei­sung der Re­prä­sen­tan­ten der wohl­an­stän­di­gen bür­ger­li­chen All­tags­welt. Ähn­lich lei­det auch Harry Hal­ler dar­un­ter, dass er sich zwar zur bür­ger­li­chen Welt hin­ge­zo­gen fühlt, sich aber auch selbst in die­ser Welt fremd fühlt. An­ders als An­sel­mus will er sich aber auch gleich­zei­tig von einer klein­bür­ger­li­chen Welt, wie sie der Pro­fes­sor und des­sen Gat­tin ver­tre­ten, ab­gren­zen und drückt sei­nen Hass auf Mit­tel­mä­ßig­keit und bür­ger­li­che Werte (Zu­frie­den­heit, Goe­the­sta­tue) aus.
Auf beide Fi­gu­ren übt das, „was nicht mög­lich ist“ eine An­zie­hungs­kraft aus und beide stre­ben nicht nur da­nach, „bis an die na­tür­li­chen Gren­zen“ der Exis­tenz „vor­zu­drin­gen“, son­dern auch da­nach, sie zu über­win­den und dabei den ei­ge­nen exis­ten­ti­el­len Ho­ri­zont zu­min­dest zu er­wei­tern („über den engen Le­bens­rah­men [...] hin­aus­zu­bli­cken“), wenn nicht gar zu tran­szen­die­ren: An­sel­mus macht über­na­tür­li­che Er­fah­run­gen, wenn er plötz­lich die Spra­che der Natur deut­lich ver­steht, Ob­jek­te und Per­so­nen sich ver­wan­deln sieht und in einem rausch­haf­ten Zu­stand ge­heim­nis­vol­le Schrif­ten ko­piert, wobei sich ihm der Sinn die­ser Schrif­ten auf wun­der­ba­re Weise er­öff­net. Dass er sich von die­ser Er­wei­te­rung sei­nes Wahr­neh­mungs­rau­mes an­ge­zo­gen fühlt und sie sich wünscht, drückt sich v. a. in sei­ner sehn­suchts­vol­len Liebe zu der mär­chen­haf­ten Ser­pen­ti­na aus. Erst die Liebe zu ihr, zu der er als fan­ta­sie­be­gab­tes, kind­li­ches Gemüt fähig ist, lässt ihn die Be­schränkt­heit sei­ner bis­he­ri­gen Exis­tenz er­ken­nen und er­weckt in ihm die Sehn­sucht, „über den engen Le­bens­rah­men“, in dem er bis­her ge­lebt hat, hin­aus­zu­bli­cken, womit er auch seine per­sön­li­chen Gren­zen ver­schiebt.

Noch deut­li­cher als An­sel­mus fin­det Harry Hal­ler in einem Zu­stand der bür­ger­li­chen Mit­tel­mä­ßig­keit und Zu­frie­den­heit keine Er­fül­lung und er­wei­tert sei­nen Er­fah­rungs­ho­ri­zont, indem er psy­che­de­li­sche Er­leb­nis­se macht und v. a. in der Schluss­sze­ne im ma­gi­schen Thea­ter deut­lich die na­tür­li­chen Gren­zen der Rea­li­tät über­schrei­tet. Für Harry Hal­ler gilt dabei in be­son­de­rem Maße, dass er dabei bis an seine per­sön­li­chen Gren­zen vor­dringt, zer­fällt doch am Ende seine Per­sön­lich­keit, die be­reits zuvor in die dua­lis­ti­sche Ge­gen­über­stel­lung von bür­ger­li­chem Harry Hal­ler und Step­pen­wolf auf­ge­spal­ten war, in man­nig­fal­ti­ge Fa­cet­ten.
An­sel­mus’ Stre­ben nach einer Er­wei­te­rung sei­ner Exis­tenz lässt ihn eine neue Welt ent­de­cken, in der er ein er­füll­tes Da­sein füh­ren kann: Als Dich­ter lebt er glück­lich mit Ser­pen­ti­na in At­lan­tis. Die Per­so­nen, die er in der All­tags­welt zu­rück­lässt, pro­fi­tie­ren al­ler­dings kaum von die­ser Ent­de­ckung, hat er doch jeg­li­che Ver­bin­dung zu sei­ner ur­sprüng­li­chen Exis­tenz ge­kappt. Le­dig­lich dem Er­zäh­ler, und damit auch dem immer wie­der di­rekt an­ge­spro­che­nen Leser, wird in Aus­sicht ge­stellt, im Sinne des se­ra­pion­ti­schen Prin­zips ge­le­gent­li­che Aus­flü­ge in diese Welt der Fan­ta­sie und Poe­sie zu un­ter­neh­men und damit das ei­ge­ne Leben zu be­rei­chern.

Fromms Aus­füh­run­gen tref­fen somit auf beide Cha­rak­te­re zu, so­wohl An­sel­mus als auch Harry Hal­ler seh­nen sich da­nach, ihren Er­fah­rungs- und Da­seins­raum zu er­wei­tern. Die Grenz­über­schrei­tung hat aber bei den bei­den Cha­rak­te­ren eine un­ter­schied­li­che Qua­li­tät: Wäh­rend An­sel­mus zwi­schen ver­schie­de­nen Exis­ten­z­wei­sen schwankt, spielt sich der Grund­kon­flikt Harry Hal­lers v.a. in sei­nem In­ne­ren ab.

Die Lö­sungs­hin­wei­se stel­len nur eine mög­li­che Auf­ga­ben­lö­sung dar. An­de­re Lö­sun­gen sind mög­lich, wenn sie der Auf­ga­ben­stel­lung ent­spre­chen und sach­lich rich­tig sind.

 

Re­a­der: Neues Auf­ga­ben­for­mat Ab­itur 2021: Her­un­ter­la­den [docx][2 MB]

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Wei­ter zu Syn­op­se: the­ma­ti­sche Ver­gleich­s­as­pek­te zur Kon­textu­ie­rung