Vergleichsaspekte |
E.T.A. Hoffmann, „Der goldne Topf”1 |
H. Hesse, „Der Steppenwolf“2 |
Identität, Entwicklung, Rolle |
Selbstfindung, Selbstbetrachtung, Selbstkonstitution |
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Anselmus als Prototyp des romantischen Naiven, der weltfremd schließlich Zugang zum Reich der Poesie findet.
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Selbstbild bleibt weitgehend implizit; Ganzheit der Persönlichkeit besteht in abstraktem Leben in der Poesie als Einheitsprinzip, aber um den Preis, dass er die bürgerliche Normalexistenz ablegen muss; in diesem Sinne keine
Versöhnung der Sphären möglich.
- geringer Grad der Selbstreflexion
- hoher Grad an Fremdbestimmtheit, wenig Handlungsantrieb
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Harry Haller als zeitkritische Diagnosefigur; Kritik am dualistischen Selbstkonzept (elitäre Geistigkeit vs. Bürgerlichkeit, aber auch vs. Leben, Vitalität, Genuss)
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Persönlichkeit als Vielfalt, bleibt in der Realisierung für H. abstrakt und wird nicht erreicht
- hohe und permanente Selbstreflexion (darin Faust ähnlich)
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geringer Grad an Selbstbestimmtheit und Handlungsantrieb (darin Anselmus ähnlich)
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Grundkonflikt |
Phantasie vs. bgl. Welt als romantischer Grundkonflikt (durchaus wiederum ironisiert)
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Steppenwolfdasein vs. Leben; Realisierung der vielschichtigen Persönlichkeit, an der H.H. Dualismus scheitert
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Die Entwicklung des Protagonisten |
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Entwicklung vom unbedarften, linkischen Studenten zu einem etablierten Mitglied der Märchenwelt; zugleich Aufgabe des bürgerlichen Lebens
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Parodie eines überkommenen Entwicklungsschemas (phantastisches Entwicklungsziel, Passivität des Anselmus)
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Neue Perspektiven und Ansätze zu einer Entwicklung werden beim Protagonisten Harry Haller bis zuletzt durch Rückfälle konterkariert – zu stark ist seine Fixierung auf die dualistische Fiktion ‚Mensch vs. Steppenwolf‘ mit ihren
lebensfeindlichen Implikationen.
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Unzufriedenheit |
nach anfänglicher Unzufriedenheit mit der ihn absondernden Blödigkeit mehr und mehr Unzufriedenheit mit dem bürgerlichen Leben; utopisches Ziel in Atlantis erreicht
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Wesenskonstitutiv für H.H., kommt zu keiner Beruhigung, weil komplementäre Strebungen bestehen bleiben
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zwei Seelen, innerer Dualismus |
implizit: Dualismus von Realismus und Phantasie.
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„Vielspältigkeit“ (77), Konzept des multiplen Ichs, der „nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus Tausenden“ (76) besteht.
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duale Anthropologie als Verkürzung und Irrtum des Steppenwolfs (auch in direkter Abgrenzung von Faust 79)
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Leben in der Theorie/Geistigkeit |
Reich der Phantasie als übersinnliche und in diesem Sinne geistige Welt
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einerseits Ziel H.H. (Leben mit den Unsterblichen), andererseits dem Zugang zum „Leben“ abträglich (Ursache für Einsamkeit, Unsinnlichkeit usw.)
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Umgang mit der Tradition |
Konstruktion eines Mythos der phantastischen Welt, mit dem Anselmus mehr und mehr vertraut wird (bzw. ihn möglicherweise auch selbst schreibt)
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überzeitliche Welt der „Unsterblichen“ (74, 198 ff.), als Manifestationen eines säkularen Jenseits’
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Motiv der Sauberkeit und Ordnung |
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Sehnsucht nach bürgerlicher Ordnung, wird mit Distanz gesehen (Ironie 20, Geputztheit Veronikas 74)
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Sauberkeit der Schrift als Ausgangspunkt des Weges in die Poesie
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Sehnsucht nach bürgerlicher Ordnung (Bohnerwachsidylle des Mietshauses)
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Verjüngung |
keine Verjüngung, oszillierender Entwicklungsprozess
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- Zuwendung zu Leben und Sexualität
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Form der Selbstüberwindung und Erneuerung durch „Zerstörung“ der alten Persönlichkeit, die auch als psychoanalytischer Prozess der Annäherung ans Unbewusste
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Scheitern |
Scheitern an einer ganzheitlichen Individualität |
- Anselmus stets nur Teil zweier sich ausschließender Welten
- Ganzheit der Dichtungswelt als irreale Utopie
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- Annahme zweier sich ausschließender Welten, die H.H. nicht versöhnen kann
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Modell des multiplen Ichs, Ziel ähnlich wie bei Faust Realisierung aller Persönlichkeits- und Erfahrungsmöglichkeiten
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Aspekte von Scheitern und Gelingen |
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Auf figurenpsychologischer Ebene kein Scheitern, sondern eine Entscheidung für eine Seite (die des Märchens). Durch Erzähler wird aber in der Schwebe gehalten, ob dies nicht ein Scheitern ist, das gerade im unaufgelösten Fortbestehen
der (vermeintlichen) Opposition von Märchenwelt und Realität ist.
- Lindhorst und Serpentina als Helferfiguren.
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Inwieweit die Entwicklung jedoch als geglückt oder – insbesondere angesichts Hermines Ermordung, die in Hallers abschließendem Gespräch mit dem „Unsterblichen“ Mozart alias Pablo von diesem als „Schweinerei“ (S. 278) kritisiert wird
– für gescheitert zu erklären ist, bleibt offen.
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Zumindest Bereitschaft, das Figurenspiel des Lebens erneut aufzunehmen und dabei den Rat, Lachen und Humor zu erlernen, künftig zu beherzigen.
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Melancholie |
Melancholie zu Beginn der 4. Vigilie als Zustand der Ahnung eines höheren Daseins, abnorme Sichtweisen der Wirklichkeit
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Der „melancholische Einsiedler“ (167) soll in einer „fortschreitenden Zerstörung“ seiner alten Persönlichkeit (u.a. Leben in bloßer, konsequenzloser Theorie) überwunden werden; „Zeichen des Wassermanns“ (27); Selbstmordmotiv
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Vorwort schildert „schwere Depression“ im Wechsel mit „verjüngt[er]“ (29) Erscheinung H.s → Seelenkrankheit als Zeitdiagnose
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Selbstmord
Auflösung, Entgrenzung, Selbstüberwindung
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Sprung von der Brücke? |
Steppenwolf als habitueller „Selbstmörder“ (62); „Selbstmördertum“ als psychologisch besondere Sensibilität, latent für die Auserwählten; Trost der „vom Schuldgefühl der Individuation Betroffenen“ (64) → Selbstüberwindung wie bei
Faust, aber mit dem Ziel der Aufhebung von Individuation.
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Diesseits und jenseits der Normalität |
Der Protagonist jenseits von Normalität |
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Konfrontation einer (parodierten) bürgerlichen Normalität und der Welt des Phantastischen
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Fähigkeit zur „Schau“ phantastischer Welten; dabei beständige Irritation über den Geisteszustand Anselmus‘ (Grenze zwischen gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit und Wahnsinn bleibt unklar)
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- Normalität für den bewusst eine Außenseiter-Existenz führenden Harry
- Haller in der ‚neutralen lauen Mitte‘ des Bürgerlichen (vgl. S. 72, 81)
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Wahnsinn |
- Zerissenheit Anselmus‘ zwischen Bürger- und Geisterwelt
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Anselmus Verhalten und Wahrnehmungen werden durchgehend in der Schwebe gehalten zwischen besonderer Inspiration und Wahrnehmungsvermögen und Wahnsinn (bürgerliche Normalperspektive: „Melancholie“ (S. 28), „überspannte
Einbildungskraft“ (S. 32), wird oft für „betrunken oder wahnwitzig“ (S. 16) bzw. „wahnsinnig“ gehalten (S. 32); Paulmann sieht „Anfälle“ (S.15, 38), wie sie „nur Wahnwitzige oder Narren“ (S.16) an den Tag legten; er gilt „für
seelenkrank“ (S. 26) und „mente captus“ (S. 90); „innern Wahnsinn“ (S. 91).
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Anselmus übernimmt dies z.T. als Selbstwahrnehmung: er „wäre wahnsinnig geworden“ (S. 26); beim Anblick Serpentinas schreit er jedes Mal laut in „wahnsinnigem Entzücken“ (S. 33, 50, 66) auf; „der Wahnsinn des innern Entsetzens“ (S.
79)). Gefühl in der Flasche mglw. als Höhenpunkt dieser (psychotischen?) Selbstwahrnehmung (vgl. 83 f.; Umkehrung der Wahrnehmungen im Vgl. mit den Studenten)
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Magisches Theater „nur für Verrückte“ (43, 222), ist quasi psychoanalytischer Weg in die Tiefendimensionen des eigenen Ichs und dessen verdrängte Persönlichkeitsschichten; als „Schule des Humors“ (S. 227) führt es in „kleinen
Scheinselbstmord“ (ebd.), damit „man die eigne Person nicht mehr ernst nimmt“ und seine „Persönlichkeitsbrille“ (S. 228) wegwerfe. Setzt Gewalt- und erotische Phantasien frei.
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Abgrenzung der multiplen Persönlichkeit von der Schizophrenie (246) und (romantische) Umdeutung von Verrücktheit als „Anfang aller Weisheit“ – zum „Anfang aller Kunst, aller Phantasie“ (S. 247)
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Der Einbruch des Phantastischen, Magischen, Übernatürlichen |
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Untertitel als „Märchen“ benannte Erzählung weist der Gattung gemäß zahlreiche phantastische Elemente auf, die mit der Realität interferieren: Die ambivalente Figur des Archivarius Lindhorst Parallelexistenz als unter die Menschen
verbannte Märchenfigur aus dem Elementargeister-Geschlecht der Salamander (sprechenden Tiere, exotische Pflanzen, drei Schlangen-Töchter), magische Kräfte, ist aber für die Erlösung seiner Familie auf Anselmus‘ Liebe zu Serpentina
angewiesen.
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Figur Äpfelweibs als Gegenspielerin Lindhorts und Anselmus‘ in diversen Gestalten und Gegenständen (Türklopfer (S. 20), Kaffeekanne (S. 43, 85), weise Frau Rauerin alias Liese, Hexe mit schwarzen Zauberkünsten, die nach ihrer
Niederlage im finalen Kampf mit dem Archivarius als „garstige Runkelrübe“ (S. 88) endet)
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„Punschgesellschaft“ (S. 73; Alkoholgenuss als Katalysator für die Bürger, das Märchenhafte zu schauen)
- „Fall ins Kristall“: Existenz in de Phiole
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Interferenz realer und phantastisch-psychischer Vorgänge; das Phantastische markiert keinen transzendenten Bereich (im Gegensatz zu den anderen Texten, Goethe: Theodizee-Problematik, Hoffmann: Kunstreligion), sondern verweist auf die
psychoanalytische Anthropologie (Freuds, v.a. C.G. Jungs).
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Märchenhafte geheimnisvolle Verbindungen: Aufscheinen des Portals in der alten Steinmauer mit der LeuchtInschrift „Magisches Theater“ – „Eintritt nicht für jedermann“ – „Nur für Verrückte“ (S. 42 f, S.50), Jahrmarktsbüchleins mit
„Traktat vom Steppenwolf“; Wink des Plakatträgers auf das Wirtshaus ‚Zum schwarzen Adler‘, wo er Hermine trifft.
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Unterhaltung mit Goethe in einem surrealen Traum voller erotischer Symbolik (Skorpion als „Wappentier der Weiblichkeit und Sünde“ (S. 123); „Primel“ als phallisches Symbol (S. 127); ein „winziges Frauenbein auf […] Samt“ (S. 128) als
Fetisch
- Erweiterung der Erfahrung durch körperlichen Rausch (Tanz, Drogen, Erotik)
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Maskenball: „Alles war Märchen“, darin Auflösung von Hallers Persönlichkeit, „Unio mystica der Freude“ (S. 216)
- Episoden mit phantastischen Visionen im Magischen Theater
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Erscheinungen, Visionen, Träume |
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Traum und „fantastische/wunderbare Erscheinungen“ als Zugang zum Reich der Poesie mit eigenem Wahrnehmungs- und Wirklichkeitspotential (zeitweise auch für Veronika, 61f.), in der bürgerlichen Sphäre Depotenzierung des Traums
- „Vision“ von Atlantis (101) infolgedessen schwebend
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- Traum als Ahnung eines irrealen Ideals (ähnlich dem Goldnen Topf)
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Traumgespräch mit Goethe im „Schwarzen Adler“ (122–128), an das immer wieder erinnert wird.
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Visionen in der „Traumstunde“ (258) im Magischen Theater als Wunschvorstellungen des Unbewussten.
- Rauscherfahrung des Maskenballs als Traum
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Einsamkeit |
Einsamkeit bzw. Isolation des Protagonisten |
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bei aller Blödigkeit und zweifelhaften Verhaltens Anselmus gesellschaftlich anerkannt (häufiger Gast bei Paulmann, Kontakt zu Heerbrand)
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zunehmende Entfremdung (zwischenzeitliche Rückkehr unerachtet) durch die Arbeit bei Lindhorst und Beziehung zu Serpentina und schlussendlich Verschwinden
in der märchenhaften Gegenwelt Atlantis.
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- bewusste Isolierung in der Gesellschaft.
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Intellektuelle Überlegenheit paart sich mit Depressivität und Todessehnsucht (die ihn, ähnlich wie Faust, fast zum Selbstmord führt); weder in der nach außen hin von ihm verachteten, heimlich aber vermissten Ordnung der
wohlanständigen Bürgerwelt noch im orgiastischen Chaos der Halbwelt (das an die Walpurgisnacht erinnert) heimisch.
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Leben mit den „Unsterblichen“ (insbesondere Mozart und Goethe) als elitäres Konzept mit fragwürdigen Konsequenzen (z.B. Abgrenzung genialer Ausnahmemenschen von der Masse der „Herdenmenschen“ (62), Abwertung der Demokratie (vgl. S.
85), Gewaltphantasie wie in der Hochjagd auf Automobile: ‚Reduzieren‘ der Überbevölkerung durch wahllose Massenerschießungen (vgl. S. 230 ff)).
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Weltflucht |
Welt der Poesie als Gegenwelt, in die sich Anselmus letztlich zurückzieht |
bewusste Weltflucht zu Beginn (Dachstube, Einsamkeit), die teilweise aufgehoben wird, aber sich in der Orientierung auf die „Unsterblichen“ hin durchhält
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Figuren(konstellation) |
Die Konstellation von Protagonist und Antagonist |
Das Äpfelweib (die Hexe alias Frau Rauerin bzw. Liese) als Antagonistin Anselmus‘ wie auch des Archivarius Lindhorst; Märchenfigur, Prinzip des Bösen, der dunklen Magie (Verhinderung der Heirat mit serpentina zugunsten Veronikas)
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Harry Haller als sein eigener Antagonist; innerer Grundkonflikt (womöglich ähnlich wie Mephisto). Konzept der multiplen Ich-Struktur (angelehnt an fernöstliche Mythologien sowie die Psychoanalyse nach C.G. Jung) wird Innerpsychisches
zum wesentlichen Schauplatz des Geschehens.
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Auseinandersetzung mit Dualismen („Zwei-Seelen“-Thematik im Faust (vgl. S. 79; göttliche Idealen vs. animalische Triebe, Vernunft vs. Sinnlichkeit, Geist vs. Natur) als vereinfachendes Konzept ablehnend
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Figurenkonstruktion, Frage der Figurenkonsistenz |
Figuren teilweise als inkonsistente Erscheinungen, die keine Person i.e.S. verkörpern:
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Märchenfiguren haben eine nichtreale Doppelexistenz (Lindhorst, Serpentina, Rauerin, Kater, Papagei)
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Serpentina als abstrakte Konstruktion ohne Merkmale einer Person (Schlange, figura serpentinata)
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Hermine als Hermaphrodit und Erinnerungsfigur (Hermann) |
Frauenfiguren |
Frauenfiguren als Repräsentantinnen einer Sphäre:
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Veronika diesseitig, als Figur ohne weiteres greifbar; auf Besitz und (spieß)bürgerliche Repräsentation aus (im Sinne der Zugehörigkeit zur bürgerlichen Sphäre Gretchen vergleichbar); Tochter des weltlichen Mentors Paulmann;
macht vorübergehend von schwarzer Magie Gebrauch
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Serpentina als Figur kaum greifbar, dadurch jenseitig, vergeistigt, irreal; auf Phantasie aus; Tochter des geistigen Mentors Lindhorst; Magie im Sinne von Inspiration
- beide letztlich (im Gegensatz zu Gretchen, Hermine und Maria) unsinnlich.
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Hermine ambivalente, vereint die – in Hoffmanns Figurenkonzeption getrennten – Bereiche des Wirklichen und des Phantastischen (Halbweltmilieu, Magisches Theater)
versucht, dem verbitterten Intellektuellen Haller Lebensleichtigkeit zu vermitteln (darin ähnliche Funktion wie Mephisto bei Faust, allerdings als positive weibliche Variante mit Geschlechter transzendierenden androgynen Zügen) und
ihn aus seiner einsamen, weltfremden Gelehrtenexistenz (sein Zimmer erinnert an Fausts Studierstube) zu befreien.
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Prostituierte Maria verschafft Haller Erfahrung erfüllender Sexualität; wird von Hermine instrumentalisiert (darin Gretchen ähnlich).
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Verhältnis zu den Frauen |
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Anselmus zwischen zwei weiblichen Figuren, bis zum Ende schwankend und eher unselbständig; beiden gibt er ein Eheversprechen (8. bzw. 9. Vigilie)
- kaum erotische Beziehung
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körperlich-diesseitige Liebe und platonisch ästhetisierte Liebe als zwei unvereinbare Möglichkeiten (auch realer (75) vs. imaginärer Kuss (71)).
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Hermine als Lebenskünstlerin als Komplementär- oder Spiegelfigur bzw. Projektion von Harry Haller, verkörpert, was ihm fehlt: Lebensfreude, Sinnlichkeit, Tanzen zu Unterhaltungsmusik, Spiel, Humor.
- für HH die androgyne Wiedergängerin seiner eigenen Erfahrungen
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ihre Ermordung in der letzten Vision des Magischen Theaters als symbolischer Akt dafür, dass er kein Alter Ego mehr benötigt, oder als unüberwundene Gewaltphantasie?
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Darstellung der Gesellschaft, Position des Protagonisten |
bürgerliche Gesellschaft (Berufe, Karriere, Geselligkeit in Biergärten und Punschgesellschaft) und Philister-Kritik vs. geheimer elitärer Bereich Lindhorsts
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Panorama der Großstadtgesellschaft (kleinbürgerliche Wohnverhältnisse, Gasthäuser, Professor, Bälle)
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Themen |
Fiktion und Realität |
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Schwebezustand durch romantische Ironie; Ebenen lassen sich nicht klar identifizieren.
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In der 12. Vigilie wird der Erzähler selbst unzuverlässig gemacht und als potentielle Märchenfigur markiert (u.a. gerade indem er durch den Brief Lindhorsts (97) seine Erzählung beglaubigt)
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Fiktionalisierung durch verschiedene Erzähler (Vorwort, Aufzeichnungen, Tractat)
- Traum als Zugang zu einer eigentlicheren Wirklichkeit
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Bedeutung des Ästhetischen |
Welt der Poesie als Gegenwelt zum bürgerlichen Diesseits, Mythos der romantischen Kunstreligion wird ironisiert (reine, weltabgewandte, absolute Kunst
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Im Unterschied zu Anselmus wird das Ästhetische nicht als Erlösung vom Realen zum Mythos verdichtet (Magisches Theater nur Mittel zum Zweck einer Entwicklung, die auf eine Realisierung aller Persönlichkeitsaspekte angelegt ist)
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Motive |
Zimmer und Räume |
Räume des Bürgerlichen (Salon Paulmann) vs. Palmbibliothek, Stadtvilla, Meierhof als Räume des Phantastischen
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Enge des gemieteten Zimmers im bürgerlichen Wohnhaus
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Türen |
Tür als Zugang zum Phantastischen (Schwarzes Tor, Tür von Lindhorsts Villa) |
Tür als Zugang zum Übersinnlichen/Unbewussten („Pforte“, „rätselhaften Spitzbogentür“ (50) in der Mauer als Zugang zum Magischen Theater (vgl. auch 222 und die „vielen Logentüren“ (225) dort), verschwindet; ähnlich auch die „Saaltür“ zum
Tanzsaal (122) als Tür zu Leben (132)
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Büsche, Bäume, Wald |
Welt der Phantasie als Naturraum:
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Holunderbaum als Ort der Vision und des Überganges in die Welt der Phantasie (hier mit Natur assoziiert)
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Wintergarten Lindhorsts als Zaubergarten Palmbäume der Bibliothek (jeweils mglw. Belebung durch Phantasie)
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Araukarie als „Kinderbaum“ (37): Ursprünglichkeit, Reinheit, Ordnung, auch heilig.
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Schlange |
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Erscheinung Serpentinas und ihrer Schwerstern: Verführung, Sehnsucht; Schlange als Bedrohung (Verwandlung der Klingelschnur)
- Schönheitslinie (Materialität der Schrift)
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Symbol des „tollen Traumparadies[es]“ (215) des Maskenballs |
Spiegel |
Zauberspiegel als Kommunikationsmedium und magisches Mittel der Verzauberung des Anselmus
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Spiegel als Symbol der Selbsterkenntnis für Haller („Tractat“ im Ganzen ein Spiegel, 74; Hermine als Spiegel 140 f., Taschenspiegel Pablos 224, 227, Spiegelung der vielen Identitäten 228 f., Zertreten des Spiegels 266 f.)
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Schreiben |
Schreiben als zentrales Motiv: Entwicklung vom Abschreiben bis hin inspirierten Schreiben; Lesbarkeit vs. Hieroglyphe, Pergamentrolle als Naturzeichen (65), Weg ins Phantastische
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Schreiben Goethes als Versuch, den Augenblick festzuhalten, ist unaufrichtig (125)
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Manuskript Hallers als authentische „Dichtung“ (29), „wunderlichen, zum Teil krankhaften, zum Teil schönen und gedankenvollen Phantasien“ (darin de Schreiben im Goldnen Topf vergleichbar) und sind „ein Dokument der Zeit“ (30)
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Mythos |
- Atlantismythe als Geschichte der Märchenwelt
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Goldner Topf als romantisches und romantikkritisches Märchen, dessen Status (Fiktionalität) gezielt in der Schwebe gehalten wird.
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Mythos als fiktive Vereinfachung (H.s dualistische Anthropologie „lediglich eine vereinfachende Mythologie“ (74 f.), muss zugunsten der Einsicht in die multiple Persönlichkeit überwunden werden.
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Hermine als „letzte Figur meiner tausendgestaltigen Mythologie“ (260) wird getötet
- → Steppenwolf als Anti-Mythos
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Rausch, Orgie, Fest, Drogen Wirtshäuser Unterhaltung, Zerstreuung
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Biergärten mit Doppelbier, „Schlampampen“ und Geselligkeit als (Ab)Weg in die bürgerliche Gesellschaft
- Punschgesellschaft als Einbruch des Phantastischen in die bürgerliche Welt
- Wirtshaus in der 3. Vigilie (erster Teil der Atlantismythe)
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sexuelle Rauscherlebnisse mit Maria wie auch Maskenball als Zugang zum Leben und als uni mystica, als Erfahrungen der Entindividuation, die den Weg zur Überwindung des alten Ichs weisen
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Exotik |
markiert Raum der Sehnsucht und des Ideals (Garten mit Palmen und exotischer Flora und Fauna, Palmbibliothek, Garten in Atlantis)
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markiert Raum der Sehnsucht und des Lebens (Exotik Pablos, „Negerhaftigkeit“ der Musik, aufrichtig, aber Gegensatz zu „wirklicher Musik“ (50), mglw. auch Araukarie)
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Musik |
wichtiges Motiv
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Gesang, „Kristallglocken“ als Mittel mit magischer Wirkung und als Sprache der Poesie (Holunderbaum, „liebliche[] Klängen“ (63) Serpentinas in der Palbibliothek, die „sonderbar metallartig tönende Stimme des Archivarius Lindhorst“
(25), „holdselige Harfentöne“ in Atlantis (99))
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immer wieder verbunden mit ausgeprägter Synästhesie (Motiv der Ganzheitlichkeit durch Poesie)
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zentrales Motiv
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Musik und Konzerterfahrungen als Inspirationsquelle. (Romantisches) Ideal der absoluten Musik als „Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt“ (174); Mozart und Bach als Vertreter der
„Unsterblichen“.
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Abgrenzung von Jazz („Untergangsmusik“ (49), aber immerhin authentisch). Wirkung der Musik (Gespräch mit Pablo 170ff., Tanzenlernen als Annäherung an diese Lebens-Musik
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Lachen, Humor |
meist Verlachen (oft des Phantastischen) |
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H. „kann nicht lachen“ (161), kommt erst über „das Lachen der Unsterblichen“ als überzeitlichem, göttergleichen Lachen „ohne Gegenstand“, reine „Helligkeit“ (198) „das helle, fremdartige Lachen“ im Magischen Theater (225) als
„Schule des Humors“ (227), „Gelächter des Jenseits“ (276, auch 261).
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Theorie des Humors (72 f.): Humor versöhnt „[i]n seiner imaginären Sphäre“ Pole, insb. Bürgerlichkeit und Steppenwolfdasein, und ist darin „eigenste und genialste Leistung des Menschentums“.
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Kontexte |
Übergeordnete Aspekte; das Werk im epochalen Kontext |
1814 erstmals erschienen, zweite überarbeitete Auflage 1819
Der goldne Topf als Märchen aus der neuen Zeit wie kaum ein anderes Werk die Epoche der Romantik:
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Poetisierung der Welt; „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“ (Novalis)3;
Reich der Phantasie, erschlossen durch die Poesie, wird zur – oft
genug real erscheinenden – Gegenwelt.
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Relativierung und Brechung der märchenhaften Utopie durch romantische Ironie (v.a. auch Ebene des Erzählens) und Humor. Das Wunderbare des Märchens ist gerade nicht losgelöst von der Alltagswirklichkeit, sondern darin verankert
(poetologisches Prinzip aus Die Serapionsbrüder: „Ich meine, daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, so daß jeder nachzusteigen vermag.“4)
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1927 erschienen (Weimarer Republik)
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Sonderstellung im Werk (Radikalität der Hauptfigur, das Zeitkolorit, die mehrperspektivische Komposition sowie die nicht nur neoromantisch affizierte, sondern gleichfalls der Neuen Sachlichkeit verpflichtete Sprachgestaltung).
Enormer Erfolg des Romans insbesondere bei jugendlichen Lesern im Verlauf der Rezeptionsgeschichte (auch international, z.B. Hesse-Boom in den USA ab den 1960er Jahren im Kontext der Hippie-Bewegung).
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Modernität: pazifistische Einstellung des Protagonisten, die Anwendung neuerer psychoanalytischer Erkenntnisse im Blick auf seelische Konflikte sowie die offene Darstellung sexueller Vielfalt. Andererseits aber deutliche Kritik an
den technischen Errungenschaften der Moderne sowie kulturpessimistischen Ansichten zur modernen Massenkultur und Abwertung des demokratischen Majoritätsprinzips.
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