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Ma­te­ri­al 6

M6 Um­gang mit Viel­falt

Ein ers­tes Prin­zip rus­si­scher Staats­füh­rung war die prag­ma­ti­sche An­er­ken­nung von Ver­schie­den­heit. Rus­si­sche Eli­ten waren nicht davon be­ses­sen, die von ihnen über­nom­me­nen Un­ter­ta­nen zu zwin­gen, sich einem ein­zi­gen kul­tu­rel­len Stil oder Gü­ter­recht an­zu­pas­sen. Dass si­bi­ri­sche Stäm­me, ko­sa­ki­sche Heer­scha­ren, pol­ni­sche Ad­li­ge und zen­tral­asia­ti­sche Mus­li­me ihre Ge­set­ze und Bräu­che und ihre Glau­bens­über­zeu­gun­gen hät­ten, war eine Tat­sa­che des Le­bens, die es, wo mög­lich, bei der Staats­füh­rung zu nut­zen galt. Die rus­si­sche Me­tho­de der Fes­ti­gung im­pe­ria­ler Macht be­stand darin, be­reits be­ste­hen­de so­zia­le Be­zie­hun­gen und Re­geln im We­sent­li­chen un­an­ge­tas­tet zu las­sen und Ein­hei­mi­sche dazu zu brin­gen, viele der Kern­auf­ga­ben des Staa­tes – Über­wa­chen, Ur­tei­len, Kas­sie­ren – zu über­neh­men.

Eine zwei­te Regel lau­te­te, dass Re­geln nicht für jeden gel­ten muss­ten. Die Au­to­kra­tie streng­te sich nicht sehr an, eine über­zeu­gen­de For­mel für die Auf­nah­me von Ter­ri­to­ri­en in das Ge­mein­we­sen zu fin­den, wie es die Ame­ri­ka­ner getan hat­ten. Jede neue Er­obe­rung konn­te ent­spre­chend ihrer be­son­de­ren Er­for­der­nis­se und Mög­lich­kei­ten be­wer­tet, be­han­delt, ab­ge­grenzt und ver­wal­tet wer­den. In mus­li­mi­schen Re­gio­nen konn­te die Au­to­kra­tie ver­fü­gen, dass Zi­vil­strei­tig­kei­ten und fa­mi­liä­re Kon­flik­te gemäß der Scha­ria ent­schie­den wür­den; in an­de­ren Ge­gen­den und was an­de­re Men­schen be­traf, konn­ten lo­ka­le tra­di­tio­nel­le Ge­pflo­gen­hei­ten als Grund­la­ge für Ge­richts­ent­schei­dun­gen an­er­kannt wer­den. Finn­land, das im Jahr 1809 als Be­loh­nung für Russ­lands kurz­le­bi­ge Al­li­anz mit Na­po­le­on ein­ge­glie­dert wurde, be­hielt sein Par­la­ment, sein Be­am­ten­tum und Ge­richts­we­sen und oben­drein, für eine ge­wis­se Zeit, eine ei­ge­ne klei­ne Armee.

Ein drit­tes Prin­zip war, dass Re­geln ge­än­dert wer­den konn­ten. Un­be­las­tet vom ein­engen­den Le­ga­lis­mus ver­trags­ge­mä­ßer Staats­füh­rung, ver­fas­sungs­recht­li­cher Prin­zi­pen oder par­la­men­ta­ri­scher Ver­tre­tun­gen, konn­ten za­ris­ti­sche Be­am­te die Re­ge­lun­gen für jedes ein­zel­ne Ge­biet und jede ein­zel­ne Grup­pe je­der­zeit an­pas­sen. In der Pra­xis übten dem Zaren na­he­ste­hen­de Be­am­te sehr gro­ßen per­sön­li­chen Ein­fluss auf die im­pe­ria­le Po­li­tik aus, so lange sie in den in­ne­ren Krei­sen pa­tri­mo­nia­ler Macht ver­blie­ben. Die Po­li­tik der Un­ge­wiss­heit hielt die Eli­ten auf Zack. […]

Das lm­pe­ri­um war von meh­re­ren Kar­ten der Ver­schie­den­heit über­la­gert. Die Re­li­gi­on war eine Ebene: Im lm­pe­ri­um leb­ten ver­schie­de­ne christ­li­che, mus­li­mi­sche, jü­di­sche und bud­dhis­ti­sche Glau­bens­rich­tun­gen sowie Ani­mis­ten. Eine an­de­re war die eth­ni­sche Zu­ge­hö­rig­keit: Be­ob­ach­ter des I8. Jahr­hun­derts zähl­ten zwi­schen sech­zig und acht­zig „Na­tio­nen“. Die geo­gra­fi­sche Lage, frü­he­re Sou­ve­rä­ni­tät, Stam­mes­bin­dun­gen und be­rufs­be­zo­ge­ne Ka­te­go­ri­en boten an­de­re Mög­lich­kei­ten des Blicks auf die Be­völ­ke­rung. Rus­si­sche Be­am­te fin­gen nicht mit dem Gan­zen an, son­dern mit den Tei­len. Doch die Teile waren in Be­we­gung, und eine feste An­ord­nung von Völ­kern, Räu­men und Kon­fes­sio­nen war nicht zu haben. Wan­de­rungs­be­we­gun­gen, Um­sied­lun­gen und Fern­kon­tak­te ver­misch­ten die Men­schen wei­ter­hin – und was am wich­tigs­ten war: Es lag nicht im In­ter­es­se der Gou­ver­neu­re, ewige ter­ri­to­ria­le Gren­zen fest­zu­set­zen und Macht für immer in die Hände von Stäm­men, Eth­ni­en oder Geist­li­chen zu legen. Rech­te wur­den Grup­pen über­tra­gen, aber so­wohl Rech­te als auch Grup­pen wur­den von Russ­lands im­pe­ria­len Füh­rern stän­dig im Fluss ge­hal­ten.

Bur­bank, Jane/Co­oper, Fre­de­rick: Im­pe­ri­en der Welt­ge­schich­te, Frank­furt am Main/New York (Cam­pus) 2012, S. 343f, 346.

 

Stun­den­ent­wurf: Struk­tur­merk­ma­le des Za­ren­reichs Russ­land als Im­pe­ri­um: Her­un­ter­la­den [docx][3 MB]

Stun­den­ent­wurf: Struk­tur­merk­ma­le des Za­ren­reichs Russ­land als Im­pe­ri­um: Her­un­ter­la­den [pdf][355 kB]

 

Wei­ter zu Ma­te­ri­al 7-10