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Di­dak­ti­scher Kom­men­tar: Stun­den 11-12

„Gro­ßer Sprung nach vorn“ und Hun­ger­kri­se als Bei­spiel für ge­schei­ter­te Mo­der­ni­sie­rungsu­to­pie

Zur Vor­ge­schich­te des mit gro­ßen Er­war­tun­gen ver­se­he­nen „Gro­ßen Sprungs nach vorne“ ge­hör­te zu­nächst mal die Er­fah­rung von Be­frei­ung, Mit­spra­che und ma­te­ri­el­ler Er­leich­te­rung für hun­der­te Mil­lio­nen von Chi­ne­sen zu An­fang der 1950er Jahre. Die von ma­fiaar­ti­gen Gil­den un­ter­drück­ten Kulis und Ar­bei­ter der Städ­te wie auch die ab­hän­gi­gen Bau­ern konn­ten nun in Volks­ge­rich­ten über ihre ehe­ma­li­gen Un­ter­drü­cker rich­ten, er­hiel­ten An­tei­le an deren Land und Be­sitz und wei­te­re Wohl­fahrts­maß­nah­men der Volks­re­pu­blik. Im Ge­gen­zug ver­lo­ren 5 Mil­lio­nen Grund­be­sit­zer wäh­rend die­ser „Land­re­form“ ihr Leben. In den Städ­ten wur­den in we­ni­gen Jah­ren zu­nächst die Groß­in­dus­trie, dann nach ei­ni­gen Jah­ren auch die klei­nen Läden und Be­trie­be ver­staat­licht. Die Ver­staat­li­chung vie­ler Ge­wer­be führ­te dazu, dass das jahr­hun­der­te­al­te Kli­en­tel­sys­tem mit teil­wei­se kri­mi­nel­len Zügen auf­ge­löst wurde. Und den Chi­ne­sen, die Mit­glied in den Ge­werk­schaf­ten wur­den, wur­den be­son­de­re Vor­zü­ge zu­teil: Sie sind kran­ken­ver­si­chert, er­hal­ten öf­fent­li­che warme Mahl­zei­ten, be­kom­men Le­bens­mit­tel güns­ti­ger und kön­nen ihre Kin­der auf Ge­werk­schafts­schu­len schi­cken. Au­ßer­dem er­hal­ten sie er­mä­ßig­ten Ein­tritt, in Kinos, Ba­de­häu­ser und Thea­ter. Ganz be­son­ders pro­fi­tier­ten auch die Frau­en, die nie ge­kann­te Rech­te er­hiel­ten: sie waren recht­lich gleich­ge­stellt, die Schei­dung war er­laubt und Zwangs­hei­rat ver­bo­ten. Noch 40 Jahre vor­her waren sie ge­hal­ten, ihre Füße zu bin­den und damit zu ver­krüp­peln und wur­den zwangs­ver­hei­ra­tet. Die staat­li­chen Wohl­fahrts­maß­nah­men wur­den bald auf alle staat­li­chen Be­diens­te­ten aus­ge­wei­tet. Und auf dem Land brach­te die Bo­den­re­form ab Juni 1950 zum ers­ten Mal land­lo­se Bau­ern als Her­ren in Be­sitz von Äckern, in den Volks­tri­bu­na­len wur­den sie aber auch zu Mit­tä­tern der Fol­te­rung und Er­mor­dung der grund­be­sit­zen­den Schicht. 1952 er­klär­te Mao: „In 15 Jah­ren wird es die Pri­vat­wirt­schaft in die­ser Form nicht mehr geben.“ Ab jetzt wur­den Märk­te kon­trol­liert, Pro­duk­ti­on und Han­del ge­steu­ert (1953 ers­ter 5-Jah­res­plan). In Stadt und Land wur­den nun Ar­bei­ter und Bau­ern zu Kol­lek­ti­ven zu­sam­men­ge­fasst, es ent­stan­den die Volks­kom­mu­nen. Die Lo­sung hieß „Er­schüt­te­rung und Ter­ror“, über­all wur­den „Kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re, Ver­rä­ter“ etc. vor Tri­bu­na­le ge­stellt, etwa 2 Mio. hin­ge­rich­tet. Der Si­no­lo­ge John Fair­bank ur­teil­te 1985: „Im Grun­de war das Er­geb­nis der chi­ne­si­schen Re­vo­lu­ti­on nichts an­de­res als die Rück­kehr zu der Struk­tur des spä­ten Kai­ser­reichs mit mo­der­ner Tech­nik und Mas­sen­pa­trio­tis­mus.“ (S. 283/4)

In diese fun­da­men­ta­le Um­for­mung der chi­ne­si­schen Ge­sell­schaft hin­ein ver­kün­det Mao das Ziel des Gro­ßen Sprungs nach vorn, der sich bin­nen we­ni­ger Jahre zu einer der größ­ten Ka­ta­stro­phen der Mensch­heits­ge­schich­te aus­wach­sen soll­te. (vgl. AB 13)

Mao ver­folg­te das Ziel, durch eine ge­wal­ti­ge Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung die Ge­trei­de­er­trä­ge zu ver­drei­fa­chen und China gleich­zei­tig zu in­dus­tria­li­sie­ren. Dazu wur­den 100 Mil­lio­nen Men­schen in Be­we­gung ge­setzt, Dei­che und Be­wäs­se­rungs­an­la­gen wur­den ge­baut, jede Volks­kom­mu­ne pro­du­zier­te in ihren Hin­ter­hö­fen Stahl, aus Russ­land wur­den gegen Ge­trei­de­lie­fe­run­gen um­fang­rei­chen Ma­schi­nen­parks und ganze Fa­bri­ken im­por­tiert. Die Ko­or­di­na­ti­on er­wies sich als ein ein­zi­ger Fehl­schlag: Die Män­nern fehl­ten auf den Fel­dern, der Stahl war un­brauch­bar, die Dei­che hiel­ten nicht, so dass nach einem Jahr die Ern­te­er­trä­ge san­ken, bei gleich­zei­ti­ger Er­hö­hung der Ab­ga­ben an die Par­tei. Weil nicht sein konn­te, was nicht sein durf­te, trie­ben Volks­mi­li­zen die letz­ten Le­bens­mit­tel vom Lande ein, Ter­ror und Mord waren an der Ta­ges­ord­nung. Nach einer wei­te­ren im Grun­de aus­ge­fal­le­nen Ernte brach die Le­bens­mit­tel­ver­sor­gung in Tei­len des Lan­des zu­sam­men, Flucht­be­we­gun­gen tra­ten ein. Am Ende stan­den 30 – 40 Mil­lio­nen Tote, ver­hun­gert und er­mor­det, vom Rest der Welt fast un­be­merkt. Im Gro­ßen Sprung nach vorne zei­gen sich Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung, Ter­ror und Par­tei­herr­schaft im de­mo­kra­ti­schen Zen­tra­lis­mus als Struk­tur­ele­men­te der kom­mu­nis­ti­schen Herr­schaft unter Mao (Mao­is­mus). (vgl. AB 14, AB 15a, AB 15b, AB 16) Die­ser hatte im Un­ter­schied zur So­wjet­uni­on in China dem Po­lit­bü­ro das Amt des Staats­prä­si­den­ten vor­ge­setzt, das er selbst be­klei­de­te und damit wie ein Kai­ser die Ord­nung re­prä­sen­tier­te. Auch steht der Große Sprung in sei­ner Um­set­zung ganz in der Tra­di­ti­on der ge­wal­ti­gen Mas­sen­mo­bi­li­sie­run­gen des kai­ser­li­chen Chi­nas z.B. beim Bau der Gro­ßen Mauer oder des Kai­ser­ka­nals: zwangs­ver­pflich­te­te Män­ner tru­gen kör­be­wei­se Erde, Ef­fek­ti­vi­tät wurde nur durch den Ein­satz von bil­li­ger Mus­kel­kraft er­reicht.

Der Um­gang mit der Hun­ger­ka­ta­stro­phe ist bis heute streng re­gu­liert, eine öf­fent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung fin­det nicht statt, eine Ver­an­ke­rung in einem öf­fent­li­chen kul­tu­rel­len Ge­dächt­nis wird ge­zielt un­ter­bun­den. Der Si­no­lo­ge Jür­gen Os­ter­ham­mel cha­rak­te­ri­siert den „Gro­ßen Sprung nach vorn“ tref­fend:

“Die Hun­gers­not war we­ni­ger "Mas­sen­mord" im Sinne des ziel­stre­bi­gen Ver­suchs einer Re­gie­rung, Teile ihrer ei­ge­nen Be­völ­ke­rung um­zu­brin­gen, als die un­in­ten­dier­te Ne­ben­wir­kung einer il­lu­sio­nä­ren Po­li­tik usur­pa­to­ri­scher Macht­ha­ber. Sie waren be­reit, rück­sichts­los Men­schen­le­ben für hö­he­re Sys­tem­zie­le zu op­fern, und hat­ten den kor­ri­gie­ren­den Kon­takt zur Wirk­lich­keit ver­lo­ren. Des­halb be­deu­te­te es eine Re­vo­lu­ti­on in­ner­halb der Re­vo­lu­ti­on, als Deng Xia­o­ping, einst einer der ra­bia­tes­ten An­trei­ber des Gro­ßen Sprungs, 1978 mit der schein­bar harm­lo­sen Auf­for­de­rung "Die Wahr­heit in den Tat­sa­chen su­chen!" die Ab­kehr von sei­nem frü­he­ren Herrn und Meis­ter Mao Tse-tung ein­lei­te­te.“

Li­te­ra­tur:

  • Di­köt­ter, Frank, Maos gro­ßer Hun­ger. Mas­sen­mord und Men­schen­ex­pe­ri­ment in China (1958-1962), Bonn 2014
  • Jis­heng, Yang, Grab­stein – Mubei. Die große chi­ne­si­sche Hun­ger­ka­ta­stro­phe 1958-1962, Frank­furt/Main 2012

 

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Wei­ter zu Stun­den 13-14