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AB 1-1: Er­in­ne­rung bricht auf

M1 Meine Groß­mut­ter

Die An­wäl­tin, Men­schen­recht­le­rin und Schrift­stel­le­rin Fe­thiye Çetin wuchs als Tür­kin auf. 1975, mit 25 Jah­ren, er­fuhr sie, dass sie aus einer ar­me­ni­schen Fa­mi­lie aus der Süd­ost­tür­kei bei Elazığ stammt. Ihre Groß­mut­ter war als klei­nes Mäd­chen wäh­rend der De­por­ta­ti­on, auf dem gro­ßen Marsch der Ar­me­ni­er in Rich­tung Sy­ri­en, von ihrer Mut­ter ge­trennt und von einem tür­ki­schen Po­li­zei­of­fi­zier ad­op­tiert wor­den. Jahr­zehn­te spä­ter ver­öf­fent­lich­te Çetin den Be­richt ihrer Groß­mut­ter als Buch. Seit­her setzt sich die An­wäl­tin mit den Fol­gen der Ge­scheh­nis­se von da­mals aus­ein­an­der. Fe­thiye Çetin schil­dert in die­sem Text auf meh­re­ren Ebe­nen zu­gleich, wes­halb die Er­in­ne­rung an den Völ­ker­mord von 1915 so schwie­rig ist: Dar­ge­stellt wer­den die Um­stän­de der spä­ten Zeit­zeu­gen­schaft, die Er­leb­nis­se da­mals und die ver­zö­ger­te Auf­ar­bei­tung in den Jahr­zehn­ten da­nach.

Meine ar­me­ni­sche Groß­mut­ter er­zähl­te mir, wie eines Tages ein Gen­darm ins Dorf kam, ihren Groß­va­ter, ihre Onkel vä­ter­li­cher­seits sowie ihren Onkel müt­ter­li­cher­seits ab­führ­te und sie von ihnen da­nach nichts mehr hörte. Und wie ihre Mut­ter und deren Ge­schwis­ter im Dorf ihrer Schwä­ge­rin Zu­flucht such­ten, der Gen­darm aber auch dort­hin kam, alle Frau­en und Män­ner zu­sam­men­trieb und nach Palu1 brach­te. Die Män­ner wur­den ge­tö­tet und in den Fluss ge­wor­fen, so­dass die­ser ta­ge­lang rot wie Blut war. Da­nach wur­den sie in die Ver­ban­nung ge­schickt.

»Meine Mut­ter lief, so schnell sie nur konn­te, vor­ne­weg; denn sie woll­te in der Marsch­ko­lon­ne nicht zu­rück­blei­ben. Da wir Kin­der mit ihr nicht Schritt hal­ten konn­ten, zog sie uns an den Armen mit sich fort. Oft hörte man von hin­ten Schreie, Wim­mern und Wei­nen. Bei jedem Laut ging meine Mut­ter nur noch schnel­ler, weil sie auf kei­nen Fall woll­te, dass wir uns um­schau­ten. Am Abend des ers­ten Tages kamen zwei mei­ner Tan­ten an­ge­lau­fen und ge­sell­ten sich zu uns. Sie wein­ten bit­ter­lich.«

Meine Groß­mut­ter hielt inne und seufz­te tief. Ich küss­te ihre Hand.

Dann fuhr sie fort: »Meine Schwä­ge­rin, die nicht mehr lau­fen konn­te, tö­te­ten die Gen­dar­men mit dem Ba­jo­nett und lie­ßen die Lei­che am Weg­rand zu­rück.«

»War deine Schwä­ge­rin die Frau dei­nes On­kels?«

»Nein, die Frau mei­nes Groß­on­kels, und sie war schwan­ger. Wäh­rend des Mar­sches wur­den die Alten, Kran­ken und die, die nicht mehr lau­fen konn­ten, er­sto­chen und ein­fach zu­rück­ge­las­sen. So ver­sorg­te man die Wölfe und Vögel am Ge­bir­ge mit Fut­ter.« […]

Ich reich­te ihr den Kaf­fee, und sie fuhr fort: »Nach­dem wir die Maden-Brü­cke2 über­quert hat­ten, warf meine Groß­mut­ter vä­ter­li­cher­seits in Hav­ler3 ihre bei­den En­ke­lin­nen ins Was­ser. Die Kin­der waren die Töch­ter mei­ner Onkel. Ihre Müt­ter und Väter waren ge­tö­tet wor­den, und sie konn­ten noch nicht lau­fen. Eins der Kin­der ver­sank gleich im Was­ser, aber das an­de­re streck­te noch den Kopf her­aus. Meine Groß­mut­ter stieß den Kopf wie­der zu­rück, doch das Kind streck­te den Kopf wie­der hoch. Das aber war sein letz­ter Blick auf diese Welt, denn meine Groß­mut­ter stieß es er­neut hef­tig zu­rück. Dann sprang sie selbst in den wil­den Strom und war bald den Bli­cken ent­schwun­den.«

1 Stadt in der Pro­vinz Elazığ

2 Brü­cke be­nannt nach dem Quell­fluss des Ti­gris

3 Ort­schafts­na­me

aus: Fe­thiye Çetin: Meine Groß­mut­ter, in: Hülya Adak, Erika Glas­sen (Hrsg.): Hun­dert Jahre Tür­kei. Zeit­zeu­gen er­zäh­len. Tür­ki­sche Bi­blio­thek, S. 495–510, Uni­ons­ver­lag, Zü­rich 2010, S. 495ff.

 

AB 1-1: Er­in­ne­rung bricht auf: Her­un­ter­la­den [docx][33 KB]

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Wei­ter zu AB 1-2: Bild­ma­te­ri­al