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AB 4-6: Ar­gu­men­te von Ge­no­zid­leug­nern

Ar­gu­men­te von Ge­no­zid­leug­nern – und was man dar­auf er­wi­dern kann

Die Ar­me­ni­er soll­ten le­dig­lich um­ge­sie­delt wer­den. Es gab kei­nen Plan zu ihrer Ver­nich­tung.

Die Um­sied­lung er­folg­te, ohne dass es einen Ziel­ort oder An­sied­lungs­plä­ne ge­ge­ben hätte.

An­sied­lungs­ver­su­che, wie es sie in Sy­ri­en gab, wur­den ge­zielt ver­hin­dert.

Die Ar­me­ni­er wur­den ohne ihren Be­sitz auf die Mär­sche ge­schickt.

Hans Lukas Kie­ser: „Von ernst­haf­ten Be­mü­hun­gen der Re­gie­rung um Wie­der­an­sied­lung konn­te keine Rede sein.“ (in Gutt­stadt, Wege ohne Heim­kehr, S. 24)

Der deut­sche Bot­schaf­ter in Kon­stan­ti­no­pel Hans Frei­herr von Wan­gen­heim am 7. Juli 1915 an Reichs­kanz­ler Beth­mann Holl­weg: „Die­ser Um­stand [die Aus­trei­bung und die Um­sied­lung der ar­me­ni­schen Be­völ­ke­rung] und die Art, wie die Um­sied­lung durch­ge­führt wird, zei­gen, dass die Re­gie­rung tat­säch­lich den Zweck ver­folgt, die ar­me­ni­sche Rasse im tür­ki­schen Reich zu ver­nich­ten.“

Der sog. „Ge­no­zid“ ist eine Folge der Kriegs­wir­ren des Ers­ten Welt­kriegs.

Ohne den Ers­ten Welt­krieg wären die Ver­trei­bung und Ver­nich­tung der Ar­me­ni­er in die­ser Di­men­si­on nicht mög­lich ge­we­sen.

Der für die Jung­tür­ken pro­ble­ma­ti­sche Kriegs­ver­lauf im Win­ter 1914/1915 (Kau­ka­sus­front, Schlacht von Sa­ri­ka­mis mit ca. 80.000 Ge­fal­le­nen) und im Früh­jahr 1915 (Dar­da­nel­len, Be­dro­hungs­la­ge für os­ma­ni­sche Haupt­stadt Kon­stan­ti­no­pel) führt zu einer Ra­di­ka­li­sie­rung der Maß­nah­men.

Die For­schung heute un­ter­sucht den Ers­ten Welt­krieg auch im Hin­blick auf den Damm­bruch „eth­ni­scher Säu­be­run­gen“, den die­ser in der Ge­schich­te dar­stellt.

Die Ar­me­ni­er haben das Os­ma­ni­sche Reich ver­ra­ten, waren Spio­ne im Auf­trag des Kriegs­geg­ners Russ­land. Aus die­sem Grund al­lei­ne war eine Um­sied­lung ge­recht­fer­tigt.

Ei­ni­ge tau­send Ar­me­ni­er in der Ost­tür­kei lie­fen zur rus­si­schen Armee über.

Es gilt die Re­la­tio­nen zu be­ach­ten: Die Mehr­heit der Ar­me­ni­er im Os­ma­ni­schen Reich ver­stand sich als Teil der os­ma­ni­schen Be­völ­ke­rung. So dien­ten u.a. auch mehr als 200.000 Ar­me­ni­er noch zu Be­ginn des Ers­ten Welt­kriegs in der os­ma­ni­schen Armee, bis sie dann aus der Armee ent­fernt wur­den – das heißt: ent­waff­net und er­mor­det wur­den.

In der rus­si­schen Armee kämpf­ten auch Rus­sen ar­me­ni­scher Her­kunft. Ein Teil des his­to­ri­schen Sied­lungs­ge­biets der Ar­me­ni­er lag auf rus­si­schem Ge­biet.

Zur Ein­or­dung: 1914 hat­ten der os­ma­ni­sche Staat und das rus­si­sche Za­ren­reich in etwa gleich viele ar­me­ni­sche Un­ter­ta­nen (siehe Neu­mann/Krei­ser in Ge­schich­te der Tür­kei).

Ei­gent­lich hat­ten die Ar­me­ni­er einen Ge­no­zid an den Tür­ken ge­plant. Die Po­li­tik der tür­ki­schen Re­gie­rung kam die­sem zuvor.

Im spä­te­ren Ver­lauf des Ers­ten Welt­kriegs, im Schutz der vor­rü­cken­den rus­si­schen Trup­pen, und im tür­ki­schen Un­ab­hän­gig­keits­krieg di­rekt im An­schluss an den Ers­ten Welt­krieg kam es zu Mas­sa­kern an Tür­ken, die auch von Ar­me­ni­ern ver­übt wur­den.

Der Ge­no­zid an den Ar­me­ni­ern, die sich zu­spit­zen­de Ver­trei­bung und Ver­nich­tung der Ar­me­ni­er, fällt hin­ge­gen in die An­fangs­zeit des Ers­ten Welt­kriegs, in die Zeit von 1915 bis 1916. Die Ein­par­tei­en­dik­ta­tur des jung­tür­ki­schen Tri­um­vi­rats, also die Re­gie­rung des Os­ma­ni­schen Reichs, ging in die­ser Zeit ge­zielt gegen einen Teil der os­ma­ni­schen Be­völ­ke­rung, gegen die Ar­me­ni­er, vor.

Das Vor­ge­hen einer Staats­macht gegen die ei­ge­ne Be­völ­ke­rung bzw. einen Teil der ei­ge­nen Be­völ­ke­rung lässt sich mit Mas­sa­kern von un­ter­schied­li­chen Be­völ­ke­rungs­grup­pen in einer Si­tua­ti­on all­ge­mei­ner Ge­walt­tä­tig­keit und krie­ge­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen nicht gleich­set­zen.

Über Jahr­zehn­te hin­weg haben ar­me­ni­sche Ter­ro­ris­ten tür­ki­sche Di­plo­ma­ten und Po­li­ti­ker um­ge­bracht – das ist der ei­gent­li­che Skan­dal.

Mitte der 1970er Jahre be­gann die ar­me­ni­sche Ter­ror­grup­pe ASALA (Ar­me­ni­an Se­cret Army for the Li­be­ra­ti­on of Ar­me­nia) At­ten­ta­te zu ver­üben. Mehr als 40 Di­plo­ma­ten und Be­am­te wur­den dabei ge­tö­tet. Die Mord­se­rie reich­te bis in die 1980er Jahre hin­ein.

Als Re­ak­ti­on auf die Morde ent­stand in der Tür­kei die of­fi­zi­el­le Ge­schichts­schrei­bung zu 1915. Die ers­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen zum Thema waren von tür­ki­schen Di­plo­ma­ten.

Genau ge­nom­men sind die Tür­ken die Opfer der im­pe­ria­lis­ti­schen Mäch­te des Ers­ten Welt­kriegs. Die hat­ten eine völ­li­ge Zer­schla­gung des os­ma­ni­schen Reichs ge­plant – dies haben die Jung­tür­ken und spä­ter Ata­türk durch ihre Po­li­tik und ihren Kampf ver­hin­dert.

Tür­ki­sche Re­pu­blik nach 1923:

„Die Re­pu­blik der Tür­kei grün­de­te sich auf die mit­tels Ver­trei­bung und Aus­lö­schung der Chris­ten er­folg­te Tür­ki­sie­rung Ana­to­li­ens und führ­te diese Po­li­tik fort: ,Die­ses Land ge­hört euch, den Tür­ken. Die­ses Va­ter­land war in der Ge­schich­te tür­kisch, es ist tür­kisch und wird immer tür­kisch blei­ben. Es ist nun wie­der in die Hände sei­ner ei­gent­li­chen Be­sit­zer zu­rück­ge­kehrt, Ar­me­ni­er oder an­de­re haben hier kei­ner­lei Rech­te‘, er­klär­te Mus­ta­fa Kemal 1923 in Adana.“ (siehe Corry Gutt­stadt: Wege der Heim­kehr, Seite 189)

Die meis­ten der Be­völ­ke­rungs­ver­lus­te der Ar­me­ni­er sind auf die Kriegs­si­tua­ti­on zu­rück­zu­füh­ren oder waren le­dig­lich lo­ka­ler Natur.

Die so­ge­nann­ten Um­sied­lun­gen be­gan­nen im Osten und Süd­os­ten der Tür­kei, also im Kriegs­ge­biet, wur­den dann aber auch in Zen­tral­a­na­to­li­en, im west­li­chen Klein­asi­en und in Thra­ki­en fort­ge­setzt, also fern­ab der Front.

Die Ver­trei­bung und Ver­nich­tung voll­zog sich weit­hin nach dem­sel­ben Mus­ter: Die männ­li­chen Ar­me­ni­er wur­den ge­tö­tet, die Frau­en, Kin­der und Alten auf die Mär­sche ge­schickt. Viele star­ben auf die­sen Mär­schen an Hun­ger, Durst, Krank­heit und Er­schöp­fung oder fie­len Mas­sa­kern zum Opfer. Die Über­le­ben­den wur­den in die sy­ri­sche Wüste ver­schickt. We­ni­ge über­leb­ten die Lager dort.

Beim sog. „Ge­no­zid“ sind le­dig­lich 300.000 Men­schen um­ge­kom­men.

Nach An­ga­ben des os­ma­ni­schen In­nen­mi­nis­te­ri­ums vom Mai 1919, die sich nach Kriegs­en­de auf die Er­mitt­lun­gen der Vor­mo­na­te für die Pro­zes­se gegen die Ver­ant­wort­li­chen für die Ver­trei­bung und Ver­nich­tung der Ar­me­ni­er vor den os­ma­ni­schen Son­der­ge­rich­ten stütz­ten, fan­den bei den jung­tür­ki­schen De­por­ta­tio­nen etwa 800.000 Ar­me­ni­er den Tod – siehe Taner Akcam: Ar­me­ni­en und der Völ­ker­mord. Die Is­tan­bu­ler Pro­zes­se und die tür­ki­sche Na­tio­nal­be­we­gung.

Hil­mar Kai­ser, His­to­ri­ker und Tur­ko­lo­ge (siehe Gott­schlich, Seite 185): Aus­wer­tung der os­ma­ni­schen Be­völ­ke­rungs­re­gis­ter. Da­nach min­des­tens 1,1 Mil­lio­nen ge­tö­te­te Ar­me­ni­er bis Ende 1916. Wei­te­re ar­me­ni­sche Opfer in den Kämp­fen in der Zeit 1917/1918.

Der tür­ki­sche Pu­bli­zist Murat Bardak­ci ver­öf­fent­lich­te 2008 die per­sön­li­chen Auf­zeich­nun­gen von Talaat Pasa, die er von sei­ner Witwe kurz vor ihrem Tod 1983 er­hal­ten hatte. Da­nach leb­ten vor 1915 1.256.000 Ar­me­ni­er im Os­ma­ni­schen Reich. 1917 wur­den nur noch 284.157 of­fi­zi­ell re­gis­triert. Somit waren rund 972.000 Ar­me­ni­er „ver­schwun­den“.

Viele Ar­me­ni­er wur­den gar nicht um­ge­bracht, son­dern haben le­dig­lich ihre Re­li­gi­on ge­wech­selt und als Mus­li­me wei­ter­ge­lebt.

Tau­sen­de, wenn nicht ei­ni­ge zehn­tau­send ar­me­ni­sche Kin­der, vor allem Mäd­chen, und junge Frau­en wur­den mus­li­mi­siert und tür­ki­siert. Sie fan­den Schutz in tür­ki­schen Fa­mi­li­en oder wur­den als Ar­beits­kräf­te miss­braucht.

Die Nach­fah­ren die­ser Über­le­ben­den haben in der Tür­kei be­gon­nen, über diese lange Zeit ta­bui­sier­te Fa­mi­li­en­ge­schich­te zu spre­chen. Fe­thiye Ce­tins Buch über ihre ar­me­ni­sche Groß­mut­ter, er­schie­nen 2004, hat eine Welle von fa­mi­liä­ren Nach­for­schun­gen aus­ge­löst.

Auch tür­ki­sche Mus­li­me wur­den zu Tau­sen­den vom Bal­kan ver­trie­ben – die Tür­ken wer­den aber nie­mals als Opfer the­ma­ti­siert. Auch hat die Tür­kei des­halb nie­mals For­de­run­gen an die Nach­fol­ge­staa­ten auf dem Bal­kan ge­stellt.

In bei­den Bal­kan­krie­gen kam es zu ge­ziel­ten und blu­ti­gen Über­grif­fen auf die Zi­vil­be­völ­ke­rung.

Ins­be­son­de­re die mus­li­misch-os­ma­ni­sche Be­völ­ke­rung fiel die­sen Über­grif­fen zum Opfer.

Es kam zu Mas­sen­ver­trei­bun­gen von Mus­li­men. Laut Mi­cha­el Schwartz wurde die Mehr­heit der mus­li­mi­schen Be­völ­ke­rung des os­ma­ni­schen Bal­kans ver­trie­ben. Gegen Ende des ers­ten Bal­kan­kriegs Mitte 1913 leb­ten von den 2,3 Mil­lio­nen Bal­kan-Mus­li­men nur noch 1,4 Mil­lio­nen in der Re­gi­on. 200.000 bis 623.000 Mus­li­me kamen zu Tode.

Die Tür­kei nahm im Zuge der Bal­kan-Krie­ge al­lein aus Süd­ost­eu­ro­pa ca. 413.000 mus­li­mi­sche Ver­trie­be­ne auf.

Phi­lip Ther: Ins­ge­samt muss­ten in den bei­den Bal­kan­krie­gen ca. 890.000 Men­schen flie­hen.

Die Be­völ­ke­rungs­struk­tur im tür­ki­schen Kern­land, in Klein­asi­en, ver­än­der­te sich durch die An­kunft der Flücht­lin­ge vom Bal­kan. Der An­teil der mus­li­mi­schen Be­völ­ke­rung (mit Ver­trei­bungs­er­fah­rung) wuchs. In Ana­to­li­en leb­ten zu die­sem Zeit­punkt be­reits Flücht­lin­ge, die nach dem Krim­krieg (1853-1856) und nach dem rus­sisch-tür­ki­schen Krieg (1877-1878) ins Reich ge­strömt waren (auch sie mit Ver­trei­bungs­er­fah­rung).

Das Os­ma­ni­sche Reich ver­lor in den bei­den Bal­ken­krie­gen seine letz­ten eu­ro­päi­schen Ge­bie­te. Das Groß­reich von einst war zer­fal­len. 85 Pro­zent des eins­ti­gen Ter­ri­to­ri­ums in Eu­ro­pa, Nord­afri­ka und im Mitt­le­ren Osten waren zu die­sem Zeit­punkt ver­lo­ren.

Jan Erik Zür­cher weist dar­auf hin: Wich­ti­ge Ver­tre­ter der Jung­tür­ken wie Enver oder Talaat stamm­ten aus den ver­lo­re­nen Pro­vin­zen in Süd­ost­eu­ro­pa.

Die Ar­me­ni­er haben mit der Il­loya­li­tät ge­gen­über dem os­ma­ni­schen Staat be­gon­nen (z.B. Auf­stand in Van).

Zu Van:

Im April 1915 wehr­ten sich ar­me­ni­sche Mi­li­zen in der ost­ana­to­li­schen Stadt Van gegen die tür­ki­schen Streit­kräf­te unter Füh­rung von Cev­det, dem Gou­ver­neur von Van, zu­gleich Mi­li­tär­füh­rer und Schwa­ger von Enver. Im Vor­feld waren be­reits Ar­me­ni­er in der Um­ge­bung von Van mas­sa­kriert wor­den. Im Mai 1915 rück­ten rus­si­sche Trup­pen in die Re­gi­on Van vor. Ab dem 16. Mai zogen die tür­ki­schen Trup­pen ab. Im Schutz der rus­si­schen Trup­pen konn­ten Ar­me­ni­er aus Van flie­hen. Dabei ver­üb­ten Ar­me­ni­er auch Ra­che­ak­tio­nen an Mus­li­men.

Zum Sün­den­bock-Vor­wurf:

Der Feld­zug gegen Russ­land an der Kau­kau­sus-Front im Win­ter 1914/1915 führ­te zu einer ver­hee­ren­den Nie­der­la­ge. Mehr als 80.000 os­ma­ni­sche Sol­da­ten star­ben. In die­ser Si­tua­ti­on be­nö­tig­te das jung­tür­ki­sche Tri­um­vi­rat, ins­be­son­de­re Kriegs­mi­nis­ter Enver Pa­scha, eine Er­klä­rung, eine Art Dolch­stoß­le­gen­de. Die Vor­gän­ge von Van wur­den für die­sen Zweck ge­nutzt.

Um­ge­sie­delt wur­den le­dig­lich Ar­me­ni­er gre­go­ria­ni­schen Glau­bens, ka­tho­li­sche oder pro­tes­tan­ti­sche Ar­me­ni­er waren von den Um­sied­lun­gen aus­ge­nom­men.

Taner Akcam1 : Dies war le­dig­lich eine Be­haup­tung, um die ver­bün­de­ten Deut­schen zu be­ru­hi­gen, die sich im Som­mer 1915 mehr­fach of­fi­zi­ell be­schwer­ten; die An­ord­nun­gen, Ka­tho­li­ken und Pro­tes­tan­ten zu scho­nen, die dar­auf­hin ge­trof­fen wur­den, wur­den um­ge­hend wi­der­ru­fen (eine durch­aus ty­pi­sche Pra­xis des Ko­mi­tees für Ein­heit und Fort­schritt). Le­dig­lich in West­ana­to­li­en gibt es (we­ni­ge) ka­tho­li­sche und pro­tes­tan­ti­sche Ar­me­ni­er, die nicht de­por­tiert wur­den.

Die os­ma­ni­sche Re­gie­rung hat die Ver­bre­chen an den Ar­me­ni­ern selbst un­ter­sucht und die Ver­ant­wort­li­chen ver­ur­teilt.

Taner Akcam: Ver­folgt wur­den nur Ver­bre­chen im Zu­sam­men­hang mit dem Be­sitz der Ar­me­ni­er. Weil das Ko­mi­tee für Ein­heit und Fort­schritt ge­plant hatte, den Be­sitz der Ar­me­ni­er zu ver­staat­li­chen, wurde (manch­mal) da­ge­gen vor­ge­gan­gen, wenn je­mand pri­va­ten Vor­teil aus der Si­tua­ti­on schlug. Dies ist für die Zahl von 1397 Pro­zes­sen ver­ant­wort­lich. Die Mas­sa­ker und Über­grif­fe gegen Ar­me­ni­er wur­den nicht un­ter­sucht.

Es gab Pro­zes­se gegen ein­zel­ne Per­so­nen, die dem Ko­mi­tee für Ein­heit und Fort­schritt hät­ten ge­fähr­lich wer­den kön­nen.

Auch auf Druck der Bri­ten und Fran­zo­sen setz­te die os­ma­ni­sche Re­gie­rung nach Kriegs­en­de Son­der­ge­richts­hö­fe ein. Es wur­den etwa 70 Straf­ver­fah­ren gegen Po­li­ti­ker und an­de­re Be­tei­lig­te an den Mas­sa­kern an den Ar­me­ni­ern ein­ge­lei­tet. Das Ge­richt ver­häng­te bis zu 20 To­des­ur­tei­le, von denen drei voll­streckt wur­den. Die Haupt­ver­ant­wort­li­chen waren zu die­sem Zeit­punkt längst nicht mehr in Land. Talaat, Enver und Cemal hat­ten am 1. No­vem­ber 1918 an Bord eines deut­schen U-Boots flie­hen kön­nen. Kein Ver­ant­wort­li­cher der hö­he­ren Ebene konn­te vor Ge­richt ge­stellt wer­den.

Wäh­rend der Um­sied­lung er­hiel­ten die Ar­me­ni­er Hil­fen, um die schlimms­ten Här­ten auf­zu­fan­gen.

Taner Akcam: Es gibt keine Hin­wei­se, dass der Staat Maß­nah­men ge­trof­fen hat, um den de­por­tier­ten Ar­me­ni­ern zu hel­fen. Im Ge­gen­teil: Wer Ar­me­ni­ern half, wurde staat­lich ver­folgt, selbst wenn es sich um Or­ga­ni­sa­tio­nen aus neu­tra­len Län­dern wie den USA han­del­te. Es wurde sogar staat­li­cher­seits gegen Hel­fer vor­ge­gan­gen. [Da­ge­gen er­hiel­ten Mus­li­me, die sich aus dem Bal­kan in Ana­to­li­en an­sie­del­ten viele und ge­ziel­te staat­li­che Hil­fen.]

Die sog. „Spe­cial Or­ga­ni­sa­ti­on“ war le­dig­lich im Krieg ein­ge­setzt und hatte keine Funk­ti­on bei dem Vor­ge­hen gegen die Ar­me­ni­er.

Taner Akcam: Die „Spe­cial Or­ga­ni­sa­ti­on“ (Teski­lat-i Mahsu­sa) war maß­geb­lich an den Ver­bre­chen gegen die Amer­nier be­tei­ligt und wurde zu die­sem Zweck aus­drück­lich vom Staat ein­ge­setzt. Die Be­zeich­nun­gen „be­waff­ne­te Ban­den“ oder „Frei­wil­li­ge(nver­bän­de)“ sind dabei äqui­va­lent (auch vom os­ma­ni­schen Staat) ver­wen­det wor­den. In die­sen Ver­bän­den wur­den be­vor­zugt ehe­ma­li­ge Straf­ge­fan­ge­ne vor­zei­tig am­nes­tiert, was zu deren zu­sätz­li­cher Bru­ta­li­sie­rung bei­trug.

Ar­me­ni­er wur­den nicht aus dem Wes­ten (Kon­stan­ti­no­pel oder Izmir) de­por­tiert.

Taner Akcam: die De­por­ta­ti­ons­ra­te im Wes­ten ist ge­rin­ger (wie auch der An­teil der Ar­me­ni­er an der Be­völ­ke­rung). Dies liegt daran, dass eine Ho­mo­ge­ni­sie­rung bis zu 95% wie an­ge­strebt in West­ana­to­li­en schon er­reicht war.

In Kon­stan­ti­no­pel wur­den vor allem al­lein­ste­hen­de Män­ner ohne Fa­mi­lie ge­zielt de­por­tiert. Diese wur­den dann unter ihrem je­wei­li­gen Ge­burts­ort ver­zeich­net.

Jür­gen Gott­schlich, Seite 184/185: In Izmir ver­hin­der­te Liman von San­ders als zu­stän­di­ger Ar­mee­chef an der Ägä­is­küs­te die De­por­ta­ti­on der Ar­me­ni­er, weil er Un­ru­hen in der über­wie­gend nicht-mus­li­mi­schen Be­völ­ke­rung in der Stadt be­fürch­te­te.

1 Vgl. Taner Akcam, Some Of­fi­ci­al De­nia­list Ar­gu­ments of the Tur­kish State and Do­cu­ments from the Ot­to­man In­te­ri­or Mi­nis­try, in: ders. S. 373-446.

 

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Wei­ter zu AB 4-7: In­ter­view mit Prof. Barth