Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Woher kommt und was ist eine Re­li­gi­on?

Ma­te­ri­al 1.2a

Und als mein Blick aus dem Fens­ter schweif­te, wäh­rend wir ges­tern wie­der ein Buch über den Islam lasen, dach­te ich plötz­lich, dass dort drau­ßen mehr oder je­den­falls Wich­ti­ge­res über Gott zu ler­nen wäre, als dass der Koran 114 Suren ent­hält und wel­ches die erste, zwei­te, drit­te, vier­te und fünf­te Säule des Is­lams ist. Der Islam oder das Chris­ten­tum oder das Ju­den­tum oder ir­gend­ei­ne an­de­re Re­li­gi­on ist schließ­lich nicht in Büros ent­stan­den, in Bi­blio­the­ken oder in Klas­sen­zim­mern. Die Re­li­gio­nen sind ent­stan­den, wo Men­schen sich in der Natur um­ge­schaut haben oder sich um ihre Liebs­ten sorg­ten, als sie selbst krank waren, hun­ger­ten oder sich ver­lo­ren fühl­ten, bei der Ge­burt ihres Kin­des oder beim Tod der El­tern, also mit den wich­tigs­ten Er­eig­nis­sen, die es im Leben eines Men­schen gibt. Und warum? Weil sie merk­ten, dass sie von Un­end­lich­keit um­ge­ben sind. Ja, Un­end­lich­keit. […]

Die­ses Stau­nen aber, das Stau­nen über all die Dinge, Er­schei­nun­gen und Ge­scheh­nis­se auf der Welt, die du siehst, aber nicht er­klä­ren kannst, weil sie un­se­ren be­grenz­ten Ver­stand über­stei­gen, man­che davon be­ängs­ti­gend, viele wun­der­schön – eben­die­ses Stau­nen ist der Ur­sprung des Is­lams und aller Re­li­gio­nen. (S. 11f.)

Eben hier ent­steht Re­li­gi­on: Sie ist eine Be­zie­hung zwi­schen dem End­li­chen, das wir sind, und dem Un­end­li­chen, das auch Gott ge­nannt wird. (S. 13)

Ein paar Tage und ei­ni­ge Ge­sprä­che zwi­schen Vater und Toch­ter spä­ter schreibt Ker­ma­ni:

Gleich kommst du von der Schu­le und möch­test etwas zu essen haben. Mit re­li­giö­ser Un­ter­wei­sung krie­ge ich dich lei­der nicht satt. Der Islam ist wich­tig, aber Nu­deln mit To­ma­ten­so­ße sind es auch. […]

Zu­ge­ge­ben, das war etwas flap­sig for­mu­liert, also das mit den Nu­deln, meine ich. Aber den­noch steckt ein wah­rer Kern darin. Denn na­tür­lich kön­nen wir über Re­li­gi­on nur nach­den­ken, wenn wir Zeit dafür haben, Ge­le­gen­heit, Muße. Wer hun­gert oder vor Durst ver­geht, wer in To­des­angst ist oder um­ge­kehrt in höchs­ter Ver­zü­ckung, der denkt nicht an Gott. Der denkt nur daran, was ihn ge­ra­de be­drängt oder be­glückt. Das ist ein Wi­der­spruch zu dem, was ich am ers­ten Tag schrieb, merke ich ge­ra­de. Denn da be­haup­te­te ich, Re­li­gio­nen be­gän­nen mit den fun­da­men­ta­len Er­fah­run­gen eines jeden Le­bens. Ich muss das ge­nau­er aus­drü­cken. Re­li­gio­nen set­zen in dem Au­gen­blick ein, wo wir über diese Er­fah­run­gen nach­den­ken, wo wir uns wun­dern, wo wir nach einer Er­klä­rung su­chen oder hilf­los sind. Sie be­gin­nen nicht mit den Er­fah­run­gen selbst, son­dern mit den Fra­gen, die sie auf­wer­fen. […]

Und wenn du jetzt das Wort »Islam« nimmst, ein­fach die drei wört­li­chen Be­deu­tun­gen: »sich un­ter­wer­fen«, »sich hin­ge­ben« oder »Frie­den schlie­ßen«, dann kommst du dem Kern un­se­res Glau­bens schon ziem­lich nahe. Denn der Mus­lim ist ein Mensch, der sich aus Ein­sicht in die ei­ge­ne, mensch­li­che Be­schränkt­heit dem Un­end­li­chen un­ter­wirft. Mus­lim ist aber auch ein Mensch, der sich lie­bend und ver­zau­bert dem Un­end­li­chen hin­gibt, etwa bei einer Wan­de­rung in der Natur oder wenn er stirbt und damit ins Un­ge­wis­se geht. Und Mus­lim ist je­mand, der Frie­den damit schließt, dass er von der Un­endlichkeit um­ge­ben ist und der nicht dau­ernd gegen das Un­er­klär­li­che auf­be­gehrt. An­ders ge­sagt, ein Mus­lim lebt im Ein­klang mit dem Un­end­li­chen, er be­jaht es und er­kennt an, dass es grö­ßer als er selbst ist: Allâhu akbar, wie es der Mu­ez­zin vom Mi­na­rett aus ruft, mit die­sem ge­heim­nis­vol­len Zit­tern auf dem zwei­ten, lang und dun­kel ge­spro­che­nen »a«: allâââhu akbar!

Allâhu akbar be­deu­tet ja nicht »Gott ist groß«, wie es oft über­setzt wird. Akbar ist die Stei­ge­rungs­form von kabîr, also ein Kom­pa­ra­tiv, und heißt »grö­ßer«. »Gott ist groß« heißt ei­gent­lich über­haupt nichts – ja, wie groß denn, groß wie ein Haus, wie ein Turm, wie ein Meer? Dann hätte Gott schließ­lich immer noch ir­di­sche Di­men­sio­nen. Wenn der Mu­ez­zin hin­ge­gen Allâhu akbar ruft, dann meint er, dass Gott alle mensch­li­chen und ir­di­schen Di­men­sio­nen über­steigt, »Gott ist grö­ßer«, so wie die Un­end­lich­keit jedes Maß über­steigt. Grö­ßer kann aber etwas nur sein im Ver­gleich zu etwas an­de­rem, und schon bist du zu­rück bei der Be­zie­hung, die das Wort »Islam« an­zeigt, der Be­zie­hung der Men­schen und üb­ri­gens auch der Tiere und über­haupt aller Ge­schöp­fe zu etwas, das grö­ßer, mäch­ti­ger, älter ist als sie selbst, der Be­zie­hung zu dem, das es immer schon gab und geben wird, eben der Be­zie­hung zum Un­end­li­chen also, wie wir vor­läu­fig Gott um­schrie­ben haben. (S. 43-46)

Das ist der Kern einer jeder Re­li­gi­on: in der Schöp­fung und jedem ein­zel­nen Atem­zug eine Ord­nung zu er­ken­nen, etwas Ge­form­tes also, Ge­woll­tes, Gutes, Sinn­vol­les, selbst wenn der Sinn nicht immer zu er­ken­nen ist. An­ders ge­sagt: zu be­strei­ten, dass das Leben nur ein blö­der Zu­fall ist. Das ist aber auch die Auf­ga­be einer jeden Re­li­gi­on, denn sonst fühl­te sich der Mensch ver­lo­ren, al­lein schon, wenn er in den Ster­nen­him­mel schaut. Und wie erst, wenn er sei­nem ei­ge­nen Tod ins Auge blickt. (S. 200)

Re­li­gio­nen sind kein Selbst­zweck. Es geht nie­mals nur um die Be­zie­hung des Ein­zel­nen zu der Un­end­lich­keit um ihn herum und das Un­end­li­che in ihm selbst. Es geht immer auch um die Be­zie­hung zur Ge­mein­schaft, und das eine hat mit dem an­de­ren zu tun. Des­halb ist die höchs­te Stufe […] nicht die, von Gott er­füllt zu sein, also außer sich, ver­zückt, glück­se­lig. Die höchs­te Stufe war und ist es in fast allen Re­li­gio­nen […], aus die­ser Er­leuch­tung her­aus sich wie­der den Men­schen zu­zu­wen­den und ihnen zu die­nen, für sie da zu sein, sie ohne Un­ter­schied zu lie­ben. (S. 163)

Oft denke ich: Der Koran, die Bibel, das Tao-Te-King1 , all die Hei­li­gen Schrif­ten der Mensch­heit - sie sind keine Vi­sio­nen, Leh­ren oder Phi­lo­so­phi­en, schon gar nichts Aus­ge­dach­tes oder Phan­ta­sier­tes. Sie sind Er­leb­nis­se, die in Form von Bil­dern, Ge­schich­ten, Ri­tua­len er­in­nert wer­den, weil sie zu ver­wi­ckelt sind für den Ver­stand, zu auf­wüh­lend für einen blo­ßen Un­ter­richt, zu wi­der­sprüch­lich für eine These […]. (S. 206)

(c) Nach Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022

Auf­ga­be

Ar­bei­tet her­aus, was in die­sen Text­aus­zü­gen über Ur­sprung und Be­deu­tung von Re­li­gio­nen ge­sagt wird. Tragt eure Er­geb­nis­se in das Ar­beits­blatt AB1.2b ein.

Ma­te­ri­al 1.2b

Schaubild über Ursprung und Bedeutung von Religion im Islam. Es geht hierbei um fundamentale menschliche Erfahrungen, die Reaktion der Menschen darauf, so wie die Bedeutung des Wortes Islam.

(c) Nach Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022

Ma­te­ri­al 1.2b Lö­sungs­vor­schlag

Lösungsvorschlag zu Material 1.2b, das ausgefüllte Schaubild

(c) Nach Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022

1 Hei­li­ge Schrift des chi­ne­si­schen Tao­is­mus (ca. 400 v. Chr.

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [docx][7 MB]

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [pdf][4 MB]