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Die Poe­sie des Koran

Ma­te­ri­al 4.2

Seit An­be­ginn hat­ten die Men­schen das Ge­spür, dass nicht nur Gott ein Dich­ter ist, son­dern um­ge­kehrt auch sie selbst von den höchs­ten Wahr­hei­ten nur in poe­ti­scher Spra­che reden kön­nen, also in Gleich­nis­sen durch Klän­ge und eben auch und vor allem in Pa­ra­do­xen, also in Sät­zen, die ei­gent­lich un­lo­gisch sind. Wes­halb? Eben weil die höchs­ten Wahr­hei­ten un­se­ren Ver­stand über­stei­gen. Sie sind grö­ßer als wir. Und unter allen Mit­teln der Phan­ta­sie ist das Pa­ra­dox oft am bes­ten ge­eig­net, etwas zu sagen, was sich in einem ge­wöhn­li­chen, rich­ti­gen Satz nicht sagen lässt. (S. 63)

Ich möch­te dir die Be­deu­tung der Form an einem win­zi­gen Bei­spiel auf­zei­gen, dem An­fang der Sure 101. Dafür muss ich dir neben der deut­schen Über­set­zung auch das ara­bi­sche Ori­gi­nal vor­le­sen, denn »Koran« heißt wört­lich »Re­zi­ta­ti­on«, also Vor­trag. Mo­ham­med hat kein Buch, nicht ein­mal eine Schrift emp­fan­gen. Nein, er hat im Traum einen Vor­trag ge­hört, den er nicht etwa auf­schrieb, son­dern sei­nen Lands­leu­ten vor­sang: Rat­ti­li l-qur' âna tartîlâ, heißt es des­halb in Sure 25,32: »Singe den Koran sang­wei­se!« Es gibt un­zäh­li­ge Be­rich­te von Ara­bern, die sich zum Islam be­kehr­ten, weil sie die Re­zi­ta­ti­on so schön fan­den - nicht er­bau­lich, nicht tief­schür­fend, nicht lehr­reich, son­dern schön! […]

Für den un­wahr­schein­li­chen und un­er­klär­li­chen Fall, dass du dir die Ohren zu­hältst, wenn ich an­fan­ge, die Sure 101 zu sin­gen, kön­nen wir uns auf YouTube auch eine pro­fes­sio­nel­le Re­zi­ta­ti­on an­hö­ren […].

Vers ara­bisch deutsch
1 al-qârica Die Qârica.
2 mâ l-qârica Was ist die Qârica?
3 wa mâ adrâka mâ l-qârica Was macht dich wis­sen, was die Qârica ist?

Der erste Vers be­steht aus einem ein­zi­gen Wort: al-qârica. Die Silbe al ist im Ara­bi­schen der Ar­ti­kel […]. Und qârica? Tja, qârica ist prak­tisch un­be­kannt, und zwar nicht nur uns, son­dern be­reits den Ara­bern zur Zeit Mo­ham­meds. […] Das hier ver­wen­de­te weib­li­che Par­ti­zip - also »die Schla­gen­de«, »die Scho­ckie­ren­de«, »die Po­chen­de«, »die Bre­chen­de« - kommt […] in so gut wie kei­nem an­de­ren ara­bi­schen Text vor. Man könn­te sagen, die Sure be­ginnt mit einem Wort, das sie selbst erst er­fin­det. Die Un­klar­heit der Be­deu­tung wird durch die Un­klar­heit des Sat­zes ver­stärkt, weil al-qârica zu­nächst völ­lig iso­liert da­steht, ohne Verb, Ob­jekt oder Ad­jek­tiv, ein­fach nur: al-qârica […]

Stell dir vor, auf Deutsch würde je­mand in Panik ein un­ver­ständ­li­ches Wort rufen, ir­gend­et­was mit Po­chen, Schla­gen, Bre­chen oder so, in einem dunk­len, tief aus dem Ra­chen schwal­len­den Ton. Was wür­dest du sagen? Hä?, wür­dest du sagen. Hä?, sag­ten Mo­ham­meds Hörer wahr­schein­lich auch.

Und was tut der Koran? Statt eine Ant­wort zu geben, drückt der zwei­te Vers genau diese Frage aus: mâ l-qârica - »Was ist die Qârica?«. Gleich­zei­tig führt die Sure den Span­nungs­bo­gen wei­ter, der auf­grund der Rät­sel­haf­tig­keit des ers­ten Ver­ses ein­ge­setzt hat, indem sie die Ant­wort ein wei­te­res Mal hin­aus­zö­gert. Du weißt immer noch nicht, was die Qârica ist!

Und auch im drit­ten Vers kommt die Ant­wort nicht, im Ge­gen­teil: wa mâ adrâka mâ - »Was macht dich wis­sen?« - schafft sogar ein neues Rät­sel. […] Die Ant­wort lau­tet je­den­falls wie folgt (ich über­set­ze wei­ter­hin so wört­lich wie mög­lich):

Vers ara­bisch deutsch
4

yawma yakûnu n-nâsu

ka-l-farâschi l-mabthûth

wie zer­streu­te Mot­ten,

Und die Berge sind wie

5

wa takûnu l-djibâlu

Ka-l-cihni l-manfûsch

Und die Berge sind wie

zer­zaus­te Wolle.

Immer noch keine Ant­wort! Statt­des­sen eine wei­te­re un­kla­re Satz­kon­struk­ti­on und dazu zwei mys­te­riö­se Bil­der. […] Also lass uns noch kurz die bei­den Bil­der be­trach­ten, die wir im vier­ten und fünf­ten Vers vor­fin­den: Men­schen, die wie zer­streu­te Mot­ten sind, und Berge, die wie zer­zaus­te Wolle sind.

Das wirkt erst mal mys­te­ri­ös - aber warum ei­gent­lich? Denn die Wör­ter selbst sind aus dem All­tags­le­ben ge­grif­fen und je­der­mann be­kannt: Men­schen, zer­streut, Mot­ten, Berge, zer­zaust, Wolle. Der Ein­druck des Un­heim­li­chen wird also we­ni­ger durch die Wör­ter selbst er­zeugt als durch ihre selt­sa­me, un­er­war­te­te Zu­sam­men­stel­lung: Was soll man sich unter Men­schen vor­stel­len, die wie zer­streu­te Mot­ten her­um­lie­gen? Oder unter Ber­gen, die wie zer­zaus­te Wolle aus­se­hen? Die Ara­ber des sieb­ten Jahr­hun­derts haben sich viel­leicht einen über­na­tür­li­chen Sand­sturm vor­ge­stellt oder ein schwe­res Ge­wit­ter. Heute würde man eher an einen Gift­un­fall den­ken oder einen Atom­krieg. So oder so ent­steht mit le­dig­lich fünf kur­zen oder sogar kür­zes­ten Ver­sen zu Be­ginn der Sure 101 ein Ge­fühl, wel­ches Ende droht, wenn die Mensch­heit nicht um­kehrt.

Dabei ist die Form ein Be­stand­teil der Mit­tei­lung. Die glei­che Sure in an­de­ren, »ver­ständ­li­chen« Sät­zen würde eine an­de­re, we­ni­ger be­droh­li­che Mit­tei­lung er­zeu­gen - ver­such's selbst, indem du den An­fang der Sure 101 in ei­ge­nen Wor­ten wie­der­gibst!

[…] Das macht es so schwie­rig, den Koran zu über­set­zen oder über­haupt Poe­sie, […] was machst du mit den Rei­men, Rhyth­men und Klän­gen, aus denen Verse be­ste­hen, den An­deu­tun­gen und dop­pel­ten Be­deu­tun­gen, den ab­ge­bro­che­nen Sät­zen, Lü­cken und Rät­seln, der al­ter­tüm­li­chen und al­lein da­durch schon frem­den, fei­er­li­chen Spra­che? (S. 69-73)

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022, S. 63, 69-73.

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [docx][7 MB]

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [pdf][4 MB]