Didaktische Leitidee
Eine allgemein akzeptable Definition von Mystik zu finden gilt verbreitet als „hoffnungsloses Unterfangen 1. In Folge beschränkt sich die Wissenschaft im interreligiösen Bereich gewöhnlich auf den Aufweis von „gemeinsamen Merkmalen“2. In diesem Sinn ist auch die folgende Unterrichtsidee zu Mystik (Christentum) und Sufismus (Islam) zu verstehen: Es soll den SuS möglich werden, inhaltlich-theologische Gemeinsamkeiten in spirituellen Bewegungen von Islam und Christentum auszumachen.
Da Texte, die sich in dieser Perspektive als „mystische/sufische“ lesen und vergleichen lassen, oft durch eine bildreiche, metaphorische und anspielungsreich-emotionale Sprache charakterisiert sind, schien es ratsam, im Material nicht nur dezidiert mystische/sufische Texte, sondern auch „Einleitungstexte“ als inhaltliche „Übersetzungshilfen“ und „Stabilisierungsanker“ für die SuS anzubieten und als solche vorab erschließen zu lassen.
Die Unterrichtsgang in vier Doppelstunden besteht nun skizzenhaft darin, zuerst einen assoziativen und selbsterschließenden Einstieg ins Thema zu finden. Diese induktive Aneignung des Themas (über kurze Sentenzen, Bilder, ein kleines Video und zwei Überblickstexte) scheint uns besonders hilfreich, um von vornherein den eigenen Gedankenraum aktiv mitzunehmen, denn genau mit diesem interagieren Mystik/Sufismus ja auf besondere Weise.
In einer zweiten Doppelstunde geht es um die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten einer Verbindung zu Gott. Hier wird insbesondere die Bedeutung der Stille als mystischer/sufischer Korrespondenzraum mit Gott erschlossen. Mit dieser Vorbereitung ergibt sich nun die Möglichkeit, auch inhaltliche Setzungen in klassischen Originalschriften (Manērī und Meister Eckhart) zu rezipieren. Hierbei werden die Inhalte (fast könnte man sagen: phänomenologisch) interreligiös miteinander verglichen, so dass mit dieser Perspektive eine Wahrnehmungsoption für das Mystische/Sufische auch gerade deshalb in den Schüler*innen entstehen kann, da sie etwas Vergleichbares in unterschiedlichen Religionen beobachten können.
In einer dritten Doppelstunde wird versucht, auch das aktive, gesellschaftskritische Potential der spirituellen Ansätze sichtbar zu machen. Sowohl an islamischen, als auch an christlichen Beispielen soll deutlich werden, wie und warum Mystiker*innen/Sufis zu ihren kritischen Perspektiven kommen und mit welch gestalterischem und engagiertem Anspruch sie sich auf die jeweilige Gegenwartskultur beziehen. Erfahrungsgemäß können Jugendliche in diesen Perspektiven auch ein Befreiungs- und Entlastungspotential angesichts ihrer übernormierten Gegenwart erblicken.
Mit der vierten Doppelstunde wird das sensible Gespräch zwischen den Religionen, auch mit Blick auf die Wahrheitsfrage (Vgl. im Bildungsplan ibK 3.4.6 (2)) in den Blick genommen. Über zwei „Alltags“-Situationen aktiviert, in denen Fragen nach Anspruch von und Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen aufbrechen, analysieren die Schüler*innen Positionen und Interaktionen in einem Gespräch zwischen christlicher Mystik/Spiritualität (repräsentiert durch Anselm Grün) und islamischem Sufismus (repräsentiert durch Ahmad Milad Karimi). Die Aufgabe, 10 Gebote oder 10 Tipps für das Gespräch zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen zu formulieren, könnte idealerweise dazu führen, die Erfahrungen und Erkenntnisse eines besonderen Projekts interreligiöser Verständigung mit den Erfahrungen, Bedürfnissen und Gewichtungen der Schüler*innen zusammenzuführen.
Insgesamt wird in dem Modul entdeckbar, dass mystische christliche Vorstellungen – überraschenderweise, zum Teil sogar sprachlich - gar nicht so weit entfernt sind von islamischen Vorstellungen. Es ist aber genauso wichtig, dass die Schüler*innen an ihrer eigenen Religion etwas entdecken, was sie bisher vielleicht v.a. mit anderen Religionen (z.B. dem Islam oder auch dem Buddhismus) assoziiert hätten. Dass auch biblische Texte (im Material wird in den Aufgaben auf das Mk-Evangelium Bezug genommen) bereits mystische Dimensionen besitzen (bzw. genauer: solche, die sich in einem mystischen Kontext deuten lassen), öffnet auch für die Lektüre von Bibeltexten neue Möglichkeiten.
Was die im Modul verwendeten Texte interreligiös miteinander verbindet, ist der Bezug zu dem einen, transzendenten Gott und damit die Dimension der unio mystica – also die Idee einer Vereinigung göttlicher und menschlicher Wirklichkeit. Die Texte sind so ausgewählt, dass sie inhaltlich gut zusammenpassen und sich die theologischen Themen wiederholen – insofern scheint uns auch die vorgeschlagene arbeitsteilige Gruppenarbeit an verschiedenen Texten sinnvoll ergänzend und wiederholend.
In diesem Modul soll Mystik als „Bollwerk gegen die Vereinnahmung und Funktionalisierung Gottes bzw. des Glaubens“3 stark gemacht werden, eine Idee, die interreligiös in Islam wie Christentum gleichermaßen gilt und Mystik wie Sufismus eine genuin innovative und befreiende Dimension zuerkennt. Allerdings kann in vier Doppelstunden nur ein erster Einblick in die betreffenden Bewegungen geboten werden.
Der Sufismus wird in der ersten DS durch den kurzen Film wie auch durch den Text M1.4 recht positiv als freie und friedfertige Alternative zu einem dogmatischen oder gar extremistischen Islam profiliert. Man muss sich allerdings klar machen, dass „der Sufismus“ aus vielfältigen Orden und Bewegungen mit unterschiedlichen sheiks besteht, bei denen man durchaus auch orthodoxe und autoritäre Positionen finden wird4, dass zu manchen Richtungen des Sufismus Formen der Heiligenverehrung gehören, die nicht nur von Salafismus und islamischer Orthodoxie kritisiert wird, sondern auch für Protestant*innen sehr fremd sein dürften, dass der Sufismus es in vielen islamischen Ländern schwer hat z. B. gegen die vermeintlich einfacheren Botschaften von Wahabbismus und Salafismus, so dass „die islamischen Mystiker (…) als verletzliche gesellschaftliche Gruppe innerhalb der muslimischen Welt, deren Form von Religionsausübung immer wieder angegriffen wird“, anzusehen sind5.
Dem Verdacht, dass mit dem Sufismus eine kleine Strömung aufgegriffen wird, die nicht für den Islam repräsentativ sei6, ist allerdings entgegenzuhalten, dass nicht wenige S*S für den Islam sehr hartnäckige Klischeebilder im Kopf haben, die den vielfältigen Facetten allein des Islam in Deutschland7 keinesfalls gerecht werden und darum jedes Unterrichtselement zu begrüßen ist, das den S*S dazu verhilft, mehr und differenzierter wahrzunehmen8.
Auch für die christliche Mystik bleiben in diesem Modul viele wichtige Aspekte unbearbeitet. Wer das Modul erweitern will, kann dafür auf ergiebige Unterrichtmaterialien für die Kursstufe zurückgreifen9 . Wer die Erfahrungsseite vertiefen will, könnte sich im Kurs oder über die Recherche einzelner S*S mit christlichen Meditationsformen beschäftigen10. Interessant könnte auch ein Blick auf charismatische Formen der Frömmigkeit sein, die in der Lebenswelt mancher S*S und weltweit für das Christentum eine wichtige Rolle spielen. Instruktiv, um das Verständnis der mystischen Traditionen im diffusen Feld von Spiritualität zu schärfen, könnte auch ein Vergleich zwischen „mystisch geprägter Frömmigkeit“ und „esoterischer Religiosität“ sein11 .
Themen dieses Moduls (je 1 DS):
- Gott erfahren? Annäherungen und erste Orientierung
- Wie kann der Mensch mit Gott in Verbindung kommen? Die Bedeutung der Stille
- Alles nur Innerlichkeit? - Gesellschaftskritische Dimensionen der Mystik in Islam und Christentum
- Verständigung zwischen den Religionen und die Wahrheitsfrage
1 Schäfer, Peter, Die Ursprünge der jüdischen Mystik, Berlin 2011, S. 15. Vgl. Leppin, Volker, Ruhen in Gott, Eine Geschich-te der christlichen Mystik, München 2021, 15ff.
2 Ebd., S. 16. Volker Leppin verweist drauf, dass man, anders als „in den Anfängen der modernen Religionswissenschaft“, in denen „Mystik“ in vielen Religionen entdeckt wurde, heute vorsichtig geworden ist, diesen Begriff mit seinem christli-chen Kontext auf religiöse Strömungen anderer Religionen zu übertragen (ebd., S. 20f).
3 Zimmerling, Peter, Evangelische Mystik, Göttingen 2015, S. 262.
4 Vgl. Weidner, Stefan, Warum der Sufismus gar nicht so friedlich ist. In sueddeutsche.de
5 Marian Bremer, Ist der Sufismus in Gefahr? In qantara.de
6 Vgl. auch die Antwort von Karimi auf eine entsprechende Frage im SRF-Gespräch (M4.2).
7 Vgl. dazu etwa Herrmann, Andreas, Zum Wohl ihrer europäischen Heimat. In zeitzeichen 2/2023, S.27.
8 Wer den S*S vertiefte Einblicke in Sufi-Praktiken hier bei uns geben will, könnte ergänzend z.B. den Bericht von einem Sufi-Gottesdienst am 14.Januar 2022 verwenden: https://www.zdf.de/kultur/forum-am-freitag/forum-am-freitag-vom-14-januar-2022-100.html; Interview und Kommentar: Abdul Ahmad Rashid (02-2023), die S*S zur MTO Shamaghsoudi Schule des islamischen Sufismus recherchieren lassen, die vor Kurzem in NRW als Körperschaft des Öffentlichen Rechts anerkannt wurde mto.org/ oder zur „Schule der Sufi-Lehren in Deutsch-land“ sufischool.org
9 Z.B. Kliemann,P./ Reinert,A., Gott erfahren? In: Thema: Gott, Material für den Unterricht in der Kursstufe, Stuttgart 2007, 29ff. sowie dies.: Thema: Gott. Texte – Hintergründe – Informationen, Stuttgart 2009, 226 – 272.
10 Vgl. etwa die Reihe „Mystik Light“ in TheoLogo von Wolfram Kerner, der in die Praxis des „Herzensgebets“ einführt. YouTube
11 Peter Zimmerling beschreibt einige Parallelen, aber auch 7 Unterschiede. In: Zimmerling, Peter, Was ist Mystik? Hinter-gründe und Zugänge. In: Welt und Umwelt der Bibel 3/2016, Gott erfahren. Mystik in Christentum, Judentum und Islam, S. 12f.
Unterrichtsverläufe: Herunterladen [docx][63 KB]
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