M1.3. Andreas Ebert: Christliche Mystik
Der Christ des 21. Jahrhunderts wird Mystiker sein - oder er wird nicht sein." So hat es der katholische Theologe Karl Rahner ausgedrückt. Ein erstaunliches Urteil aus dem Munde eines Universitäts-lehrers. Denn die Mystik ist keine Sache akademischer Wissenschaftler. Und auch keine Sache kirchlicher Amtsträger. Die Mystik ist im Laufe der Geschichte meist Laiensache gewesen - und nicht selten Frauensache. Gerade zu einer Zeit, als die Frauen in der Kirche zum Schweigen verdammt waren. Vielleicht waren sie gerade deshalb fähig, nach innen zu lauschen.
Alle großen Religionen haben einen „mystischen“ bzw. spirituellen Flügel - meist am Rand der Institutionen mit ihren Dogmen, Ritualen und Schriften. Das Wort Mystik kommt vom griechischen Ver-bum ‚myein‘ (die Augen schließen), verwandt damit sind ‚mystes‘ (der Eingeweihte) und ‚mysterion‘ (das Geheimnis).
In der Mystik geht es „um die Erkenntnis Gottes auf dem Weg der Erfahrung“. Sie ist häufig ein Protest gegen eine veräußerlichte Religion. Deswegen gehört zur Geschichte der Mystik auch die Verfolgung ihrer Anhänger. Denn die Mystik relativiert andere Formen des Zugangs zu Gott, die durch religiöse Autoritäten vermittelt und kontrolliert werden. Und doch kann keine Religion ohne ihre Mystiker lebendig bleiben. Sie halten das Feuer der Gottessehnsucht und Gottesliebe lebendig. Die Mystik ist gleichsam die Seele der Religion. Sie ist die Erfahrungsseite des Glaubens.
„Im Zentrum der mystischen Erfahrung steht die ‚unio mystica‘, die Vereinigung mit Gott. Dieses Ziel mystischen Glaubens kann mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet werden: etwa als Schau des göttlichen Lichts, als Vergöttlichung, als bildlose Freiheit. Entscheidend ist, dass die unio sowohl Liebe als auch Erkenntnis umfasst und als unverdientes Geschenk empfunden wird. Gott wird dabei sowohl im Modus der Gegenwart als auch des Entzugs erfahren. Er bleibt auch im Rahmen mystischen Erlebens der „Fernnahe“ (Marguerite Porete). Die unio führt zu einer Form von Selbsttranszendenz, die gleichzeitig Selbstwerdung und Selbstverlust umfasst.“
Christliche Mystik ist so alt wie die Kirche. Paulus wurde durch eine direkte mystische Begegnung mit dem Auferstandenen zum Christen - und nicht durch menschliche Vermittlung. Er spricht von einer mystischen Erfahrung, wenn er sagt: "Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal. 2,20). Die Kirche wird bereits bei Paulus als "mystischer Leib" verstanden, in dem alle geheimnisvoll miteinander und mit Christus verbunden sind.
Vertieft haben sich mystische Erfahrungen und Auffassungen im frühen Mönchtum der "Wüstenväter" und "Wüstenmütter". Evagrius Pontikus (346-399) entwickelte eine Stufenleiter, auf der der gefallene menschliche Geist allmählich zur Einheit mit dem göttlichen Geist zurückkehrt. Am Ende steht die innere Schau des Geheimnisses der göttlichen Dreifaltigkeit, in die der Schauende vollständig aufgenommen wird. 150 Jahre nach seinem Tod wurde Evagrius als Ketzer verurteilt: Seine Ansichten drohten angeblich die Grenzen zwischen dem erhöhten Christus und dem Glaubenden zu verwischen.
Dieser Vorwurf verfolgte die Mystiker seither auf Schritt und Tritt und führte auch zur posthumen Verurteilung des Theologen und Philosophen Meister Eckhardt (1260-1326). Eckhardt vertrat die Meinung, dass es im Innersten des Menschen ("Seelengrund") einen Ort gibt, wo der Abstand zwischen Geschöpf und Schöpfer aufgehoben werden kann. Durch die Loslösung von der äußeren Welt wird die Gottesgeburt in der Seele vorbereitet.
Der junge Martin Luther hatte eine gewisse Sympathie für die Mystik, weil sie die Passivität des Menschen gegenüber Gott betont und davon ausgeht, dass man nicht durch Spekulation, sondern durch Erfahrung zum Glauben findet. Sein eigenes ‚Turmerlebnis‘, bei dem er von der Erkenntnis der bedingungslosen Liebe Gottes überwältigt wurde, trägt wohl mystische Züge. Bald aber musste sich Luther mit den ‚Täufern‘ (Karlstadt, Müntzer) auseinandersetzen, die sich auf innere Gotteserfahrungen unabhängig vom biblischen Wort beriefen. Das war für Luther gefährliche ‚Schwärmerei‘.
Gottes Geist ist nach Luther an das äußere Wort der Predigt gebunden und ist unabhängig vom biblischen Wort nicht zu haben. Seither hatten es Mystiker im Luthertum immer schwer. (…) Erst der Pietismus, der persönliche Bekehrung und ein geheiligtes, praktisches Christentum anstrebte, entdeckte mystische Quellen neu. Insbesondere ist der Liederdichter Gerhard Teerstegen (1697-1769) zu nennen, der die Lehre des mittelalterlichen Mystikers Johannes Tauler (1300-1361) aufgreift, dass das göttliche Wort im Seelengrund geboren wird.
In der sogenannten Aufklärung, die nur noch die Vernunft gelten ließ, geriet die Mystik in Vergessenheit. Auch viele bedeutende evangelische Theologen des 20. Jahrhunderts standen ihr kritisch bis ablehnend gegenüber und wollten das Heilsgeschehen ganz auf das Hören des Wortes beschränken. Erst seit ein paar Jahren wendet sich das Blatt. Jörg Zink und Dorothee Sölle etwa plädieren leidenschaftlich für eine neue evangelische Mystik, in der sich Kontemplation (Innenschau und Gottesliebe) und das Engagement für eine gerechtere Welt verbinden.
Andreas Ebert (1952 - 2022) war bayerischer Pfarrer und baute unter anderem das Spirituelle Zentrum Sankt Martin in München auf.
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