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M1.4 Syed Qamar Afzal Rizwi: Die stärks­te Waffe des Islam ist die Liebe

Der Su­fis­mus legt den Islam to­le­rant und fried­lich aus. Wir soll­ten ihn als Ge­gen­pol zum is­la­mis­ti­schen Ex­tre­mis­mus be­grei­fen.

Zeit on­line vom 20. Fe­bru­ar 2017

Mus­li­me soll­ten sich auf die fried­li­che und to­le­ran­te Aus­le­gung des Is­lams kon­zen­trie­ren, zum Bei­spiel, indem sie sich auf den Su­fis­mus be­sin­nen. Bis­her fin­den das viel­fäl­ti­ge Re­per­toire des Sufi­mus, seine Ri­tua­le und künst­le­ri­schen Werke in den De­bat­ten über die rich­ti­ge Re­ak­ti­on auf den ex­tre­mis­ti­schen Is­la­mis­mus zu wenig Be­ach­tung.

Die auf­ge­klär­tes­ten Jahr­hun­der­te der mus­li­mi­schen Zi­vi­li­sa­ti­on waren vom Su­fis­mus ge­kenn­zeich­net. Daher soll­te man heute die Ver­brei­tung sei­ner Leh­ren in Schu­len und Mo­sche­en glo­bal för­dern. Denn der Su­fis­mus ver­kör­pert ei­ni­ge wich­ti­ge Grund­wer­te der is­la­mi­schen Lehre: Hu­ma­nis­mus, Mit­mensch­lich­keit und Phil­an­thro­pie. Mit der stär­ke­ren För­de­rung der Ideen des is­la­mi­schen Sufi­mus könn­ten wir nicht nur ein Ge­gen­ge­wicht zum Ex­tre­mis­mus schaf­fen, son­dern auch zur zu­neh­men­den Is­lam­feind­lich­keit. […]

Welt­weit gibt es heute rund 15 Mil­lio­nen Sufis, die Umay­ya­den-Mo­schee in Da­mas­kus gilt als ein wich­ti­ges Zen­trum die­ser Rich­tung. His­to­risch ist Bag­dad die Wiege des Sufi-Is­lams. Der per­si­sche Ge­lehr­te Abdul Qadir Ji­la­ni (1088–1166) grün­de­te dort die Qadri-Schu­le, einen Orden, der sich in der is­la­mi­schen Welt weit ver­brei­te­te. Seine An­hän­ger­schaft fin­det sich noch heute von West­afri­ka bis nach In­di­en.

Der in­tel­lek­tu­el­le Su­fis­mus wurde von den gro­ßen Mys­ti­kern Ibn al-Arabi (1165-1240) und Celaled­din Rumi (1207-1273) ge­prägt. Rumi, der be­deu­tends­te per­si­sche Dich­ter des Mit­tel­al­ters und Grün­der des Or­dens der tan­zen­den Der­wi­sche, ist der po­pu­lärs­te Ver­tre­ter. Rumi fun­gier­te als Brü­cke zwi­schen der west­li­chen Ethik und einem is­la­mi­schen Ver­ständ­nis von Moral. Dich­ter und Den­ker des Is­lams haben Rumis Poe­sie immer wie­der auf­ge­grif­fen, um re­li­giö­se Dif­fe­ren­zen zu be­leuch­ten oder um mit Hilfe sei­ner Verse Zu­gang zu Fra­ge­stel­lun­gen der Mo­der­ne zu be­kom­men. Im Wes­ten ist Rumis Bot­schaft zum Syn­onym für die spi­ri­tu­el­le Ver­ei­ni­gung mit dem Ge­lieb­ten, mit Gott, ge­wor­den.

Für Rumi war Allah der Schöp­fer und der Gott aller Men­schen und aller Re­li­gio­nen. Trotz sei­ner äu­ßerst to­le­ran­ten Hal­tung ge­gen­über an­de­ren Re­li­gio­nen bezog er sein Got­tes­bild al­lein aus dem Koran. Im Su­fis­mus ist der Islam seit 1.500 Jah­ren eine ge­leb­te Er­fah­rung mit vie­len kul­tu­rel­len und in­tel­lek­tu­el­len Va­ria­tio­nen. Seine Pra­xis um­fasst viel mehr als die Wör­ter eines hei­li­gen Tex­tes.

Das Eins­sein mit Gott kann im Su­fis­mus auf un­ter­schied­li­che Weise er­reicht wer­den: über rhyth­mi­sches Tan­zen und Sin­gen, mit einer as­ke­ti­schen Le­bens­wei­se oder durch An­dachts­übun­gen. Auch Prak­ti­ken, die an­de­re Mus­li­me als haram, als ver­bo­ten an­se­hen, kön­nen da­zu­ge­hö­ren, der Kon­sum von Dro­gen zum Bei­spiel.

Die Sufis gehen über den tra­di­tio­nel­len Got­tes­be­griff ra­di­kal hin­aus. Ihnen zu­fol­ge sol­len sich die Mys­ti­ker aus dem her­kömm­li­chen Glau­bens­be­kennt­nis lösen und zu einer in­ne­ren Mitte ge­lan­gen, in der alle die glei­che Got­te­s­er­fah­rung ma­chen. Ibn al-Arabi zu­fol­ge ist Gott um­fas­sen­der als jede streng fi­xier­te Vor­stel­lung von ihm in einer hei­li­gen Schrift und damit auch grö­ßer als der im Koran vor­ge­stell­te Gott.

Weil er an­de­re Re­li­gio­nen to­le­riert und den Ab­so­lut­heits­an­spruch der Or­tho­do­xie kri­ti­siert, wird der Su­fis­mus in ei­ni­gen Län­dern der is­la­mi­schen Welt un­ter­drückt und ver­folgt. In Pa­kis­tan ver­üben Fun­da­men­ta­lis­ten immer wie­der An­schlä­ge gegen Sufi-Schrei­ne, im Iran hatte Re­vo­lu­ti­ons­füh­rer Kho­mei­ni Sufis wegen an­geb­li­cher Sit­ten­lo­sig­keit hin­rich­ten las­sen.

[…] Die Sufi-Dich­tung, die über die gött­li­che Liebe und mys­ti­sche Ver­ei­ni­gung mit Gott re­flek­tier­te, äh­nel­te oft welt­li­chen Lie­bes­ge­dich­ten. […] Rumi und Al-Arabi wer­den heute vor allem von West­lern und Mus­li­men im Wes­ten in ihrer Be­deu­tung ge­wür­digt. Aber auch in der Tür­kei, wo die Der­wisch-orden zwar seit 1925 ver­bo­ten sind, wächst die Zahl der re­li­gi­ös Ge­bil­de­ten, die den Su­fis­mus schät­zen, weil er zwi­schen den ver­schie­de­nen re­li­giö­sen Denk­schu­len ver­mit­teln kann. Und Ma­rok­kos König ist mit su­fi­schen Bru­der­schaf­ten in Kon­takt, damit sie ihn im Kampf gegen die Fun­da­men­ta­lis­ten ideo­lo­gisch un­ter­stüt­zen.

Die Sufis ver­fol­gen, wie alle an­de­ren Mus­li­me auch, zwei Leit­ge­dan­ken: die Ein­heit Got­tes, tawḥīd, sowie die Be­zeu­gung, dass es kei­nen Gott gibt außer Allah. Vor allem der frühe Su­fis­mus ver­trat die Vor­stel­lung einer An­nä­he­rung an Gott durch Liebe und frei­wil­li­ges Lei­den, das zur Ein­heit des Wil­lens füh­ren soll. Fer­ner geht es um die Fä­hig­keit, Gott und die Schöp­fung als zwei As­pek­te einer Rea­li­tät zu ver­ste­hen, die sich ge­gen­sei­tig re­flek­tie­ren und auf­ein­an­der be­ru­hen (waḥdat al-wujūd). Für Sufis ist der uni­ver­sel­le Re­fe­renz­rah­men selbst der Be­weis für die Exis­tenz Got­tes. […]

Die große Stär­ke des Su­fis­mus liegt darin, dass er einen nach­hal­ti­gen Dia­log zwi­schen den ver­schie­de­nen Glau­bens­rich­tun­gen an­sto­ßen kann. […] Weil der Su­fis­mus jede Form von Ge­walt ab­lehnt, kann er als Ge­gen­pol zum ge­walt­ori­en­tier­ten Ex­tre­mis­mus wir­ken.

Quel­le: Aus dem Eng­li­schen über­setzt von An­drea Back­haus. via zeit.​de

Syed Qamar Afzal Riz­vi­an ist ein pa­kis­ta­ni­scher Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler, Ana­lyst und Ko­lum­nist. Er be­schäf­tigt sich mit Frie­dens- und Kon­flikt­for­schung, Kon­flikt­ver­mei­dung und In­ter­na­tio­na­lem Recht mit Blick auf Süd­asi­en, den Mitt­le­ren Osten, die EU und die Ver­ein­ten Na­tio­nen.

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