M2.2 Claus Eurich: Stille
Für so manchen Zeitgenossen wirkt sie unheimlich. Da ist kein Futter für die ausgetretenen Wege der Gedankenlabyrinthe, kein Anstößiges, um sich aufzuregen und ins sofortige Urteilen zu gehen. Kein äußerer Reiz lockt, kein unruhiges, gieriges, manchmal frevelhaftes Spiel der Augen; keine ablenkenden Töne. Die Fülle der Stille hat keine Ecken und Kanten, keinen Überfluss an Phänomenen, die Aufmerksamkeit beanspruchen.
Man kann von der Zeit, in der wir leben, auch als von derjenigen sprechen, die der Stille zum Feind wurde. Sie erträgt sie nicht. Die dünne zivilisatorische Haut trägt Brandzeichen aus dem Krieg gegen die Stille. Sie darf nicht sein – so zweckfrei, geldfremd und ehrlich wie sie manchmal ist, vorausgesetzt, man spannt sie nicht für einen Nutzen ein, etwa als meditatives Geschäftsmodell.
Zweifellos ist die Stille eine Herausforderung. Man muss ihr gewachsen sein. Und wer das nicht bereits in jungen Jahren als etwas Selbstverständliches erfahren hat, dem wird es zu einem langen Schulungsweg, zu einem engen Pfad der Sozialisation. Keine Meditations-App kann ihn verbreitern. Man muss sie von innen her wollen und sich mit Hingabe und Übung auf die Suche und in Resonanz begeben.
Geschützte Orte, wie Kirchen oder Friedhöfe, führen nicht von vorneherein in die Erfahrung der Stille, wenn der Mensch zunächst nicht still in sich ist, in sich ruht, von Sehnsucht getragen. Dann allerdings kann sie auch im diffusen Lärm der Großstadt gefunden werden, strahlt aus dem Hintergrund des Unsagbaren und füllt die Leere, die hinter den Fassadenwelten und Ablenkungsmaschinen lauert.
Was aber nun meint Stille überhaupt? Ist nicht das Wort die Königsdisziplin im Sein des Homo Sapiens – und besonders des christlichen?
Stille ist mehr als nur eine Pause zwischen Gesprächen, Ruhe in der Nacht oder betroffenes Schweigen. Sie hat ihren Eigenwert. Wesenhafte Stille führt in einen alles umfangenden Raum, dessen Tiefe in Resonanz mit der eigenen Seelentiefe gehen kann. Dann liegt die Stille wie ein verborgener See, wie eine unsichtbare Dimension inmitten der Vita Activa (des aktiven Lebens).
Stille allein ist dem Geheimnis des Glaubens gemäß. So wie es im Psalm 37,7 heißt: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn.“ Gerhard Tersteegen ergänzt in einem Liedtext 1729: „Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige…“ Weitestgehend ist dies in den kultischen Vollzügen der Religionen in Vergessenheit geraten. Stattdessen Worte über Worte. Vielleicht, weil man Angst davor hat, was die Stille Unkalkulierbares mit den suchenden und hoffenden Menschen macht. Vielleicht aber auch, weil manchen Liturgen selber die Stille fremd ist und sie ihr deshalb mit Unsicherheit und Argwohn begegnen.
Für das Wort hat die Stille unermessliche Bedeutung. Es regeneriert sich in ihrem Feld. Geklärt und gereinigt wird es essentiell. Eine Aura des Ewigen haftet an jenen Worten, die aus tiefer Stille in das Licht der Phänomene treten. Sie sind autoritativ von innen her.
Die essentielle Stille können wir aus der Tiefe unseres Herzens ersehnen, nicht aber durch bloßes Wollen ergreifen. Sie lässt sich nicht zwingen, in kein Um-Zu pressen. Das bloße Sein reicht; das unschuldige, nackte Da-Sein, ohne Zwang zum Wollen und zum Haben, aber erfüllt von Sehnsucht. Dann ist es wie ein Hinabsinken – durch das Schweigen und die ihm folgende Ruhe hindurch zum Grund, wo sie wartet. Unvermutet treten wir in sie ein, und die Stille umhüllt uns, wie ein Lächeln.
Dr. Claus Eurich beschreibt sich selbst als Philosoph, Publizist, Kontemplationslehrer. Er war wesentlich am Aufbau des Instituts für Journalistik der TU Dortmund beteiligt und hatte dort von 1976 bis 2017 die Professur für Kommunikation und Ethik inne.
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