M2.6 Aus den Hundert Briefen des Scharafuddīn Manērī
Gruppe 1
Aus Brief 1: Über das Einheitsbekenntnis (tauḥīd)
[…] Das ist der Sinn der Geschichte, dass Meister Manșūr Ḥallāj den Ibrāhīm al-Khawāșș in der Wüste umherwandern sah und sagte: »Was machst du da?« Der antwortete: »Ich habe meinen Fuß ganz aufs Gottvertrauen gesetzt.« Meister Manșūr sagte: »Du hast dein Leben damit verschwendet, dein Inneres zu kultivieren - wo aber ist das Entwerden im Einheitsbekenntnis?« - Es heißt, dass diejenigen, die diesen Standort erreichen, sich unterscheiden: Manch einer ist einmal in der Woche für eine Stunde in die göttliche Gegenwart zugelassen, manch einer täglich für eine Stunde, wieder ein anderer für zwei Stunden. Und es gibt auch solche, die fast immer entrückt sind.
Andere haben nach diesen vier Stufen noch von der Stufe des Entwerdens vom Entwerden gesprochen; das heißt, dass der Wanderer in seiner vollkommenen Entrücktheit durch sein Entwerden nichts mehr von seinem Entwerden weiß; denn dies bedeutet, die überwältigende Erscheinung von Gottesmajestät und Gottesschönheit zu finden, die ihn mit einem Schlag in die geheime Welt des Nicht-Seins trägt, so dass ihm alles entfällt. Weil nach Ansicht der Mystiker das Wissen des Menschen noch auf Getrenntsein hindeutet, liegt hier die Essenz der Vereinigung (cain al-jamc) oder die Vereinigung der Vereinigung (jamc al-jamc) vor, wo er sich selbst und alle Kreaturen in der Erscheinung des Lichtes Gottes verliert und auch sein Bewusstsein dieses Sich-Verlierens verliert.
Verliere dich in Ihm – das ist das Einheitsbekenntnis.
Verlier das Verlieren – das ist reine Abgeschiedenheit!
Gruppe 2
Aus Brief 27: Über die Nachfolge des Gesandten Gottes
Mein Bruder Schamsuddīn - Gott segne ihn! - möge wissen, dass die ewige Seligkeit und all-ewige Ehre des Menschen in der Liebe zu Gott dem Mächtigen und Erhabenen besteht, und dieses Glück und Ehrengewand ist dem Menschen versprochen, wenn er dem Herrn der Propheten folgt und sich nie davon entfernt, an dessen Lebensführung und Beispiel festzuhalten. »So folget mir, dann wird Gott euch lieben!« (Sura 3/29). Lege dir das Halsband seiner Nachfolge um deinen Hals und hänge den Ohrring des Gehorsams ihm gegenüber ins Ohr, nähere dich dem, was er befohlen, und halte dich fern von dem, was er verboten hat, und kultiviere das Schloss des Glaubens mit all seinen Pfeilern. Und bei jedem Pfeiler, an den du kommst, tu, was dort notwendig ist, auf dass der Vertrag der innigen Liebe und der Bund der Liebe mit dem Erhabenen Schöpfer dank der Führung Seines Erwählten geschlossen werde und befestigt bleibe. […]
O Bruder, Gotteserkenntnis ist das Saatkorn der Liebe. Jeder, der tiefer in die Welt der Gotteserkenntnis eindringt, brennt stärker im Feuer der Liebe, und sein Genuss und seine Freude werden beim Anblick des Geliebten und der Schau des Ersehnten immer stärker.
Gruppe 3
Aus Brief 61: Über Loslosung (tajrid) und Abgeschiedenheit (tafrid)
Mein Bruder Schamsuddīn - Gott ehre ihn! - möge wissen: Der Anfang dieser Angelegenheit sind Loslösung, die der Markt der Suchenden ist, und Abgeschiedenheit, die das Neujahrsfest der aufrichtigen Jünger ist. Was ist Loslösung? Dass du frei von allem, was du heute gefunden hast, hinausgehst. Was ist Abgeschiedenheit? Dass du nicht in den Banden des Morgen bist!
Heut’ und gestern, vorgestern und morgen
Sind nur eins beim Auferstehungs-Morgen.
Das zweite ist äußere und innere Abschließung. Was ist äußere Abschließung? Dass du die Leute lässt und dich zur Wand wendest bis zu dem Moment, wo du an Seiner Pforte die Seele hingibst. Was ist innere Abschließung? Dass du den Gedanken an »Anderes« aus deinem Herzen abwäschst und den Staub von Diesseits und Jenseits vom Herzen entfernst.
Das dritte ist, dass du nur einen Gedanken und ein Gedenken hast, so dass du jede andere Angelegenheit und Überlegung als verboten für dich ansiehst.
Viertens. Dass du »wenig essen, wenig reden, wenig schlafen« zu deinem Beruf machst; denn diese drei sind hilfreich. Viel Reden hält die zum Bösen anreizende Triebseele vom Gottgedenken ab; viel Essen bringt Schwere; viel Schlaf lenkt dich vom Denken ab. Du musst immer im Zustand ritueller Reinheit sein; denn äußere Reinheit weist auf innere Reinheit hin. Man fragte einen Derwisch: »Was ist das Geheimnis (sirr) der rituellen Reinheit?« Er sagte: »Die Reinheit des innersten Herzenskernes (sirr).« Ebenso wie man immer äußerlich rein sein muss, so auch innerlich - denn was kommt schon bei dem ausschließlich Äußeren heraus? Tu dies, bis der Allmächtige Erhalter mit einer göttlichen Anziehung - von der es heißt: Eine Anziehung Gottes wirkt so viel wie die Werke von Menschen und Geistern zusammen - dich ergreift und zu einem Platz bringt, zu dem dich alle inneren Kämpfe und guten Werke von Geistern und Menschen, selbst wenn du sie alle allein vollbrächtest, nicht hätten gelangen lassen. Das sagt sich ganz schön leicht; aber diesen Weg zu gehen ist ungeheuer schwer, denn man kann ihn nicht gehen mit Stock und Stützen, sondern muss ihn gehen mit Herz und Seele - und Herz und Seele wollen nicht immer gehorchen. Doch denen mit hohem Streben und den aufrichtig Liebenden ist das so leicht, wie es dir und mir ist, Wasser zu trinken und Brot zu essen. - Die Pforte, um diesen Weg zu betreten, ist Wissen und Erkenntnis.
Scharafuddīn Manērī (*? - †1381): Großer Sufi-Lehrer. Nahe Patna, Bihar (Indien) geboren. Studierte Traditionswissenschaft, suchte sich mystische Lehrer, ging erst in die Einsamkeit, wurde dann von seinen Jüngern dazu bewegt, sich in Bihar Scharif niederzulassen, wo er die letzten vierzig Jahre seines Lebens verbrachte. Seine »Hundert Briefe« genießen seit dem 14. Jahrhundert in Indien hohes Ansehen. Sie lesen sich mit der Betonung von Gottesliebe und Nachfolge wie eine Einführung in die Mystik und das rechte Verhalten des frommen Muslims
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