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M3.1 Dorothee Sölle: Wertschätzung der Gebrochenheit

Ich will ein Beispiel […] erzählen. Es ist eine Geschichte über den Direktor eines großen Unternehmens. Er erfährt, dass sein Sohn tödlich verunglückt ist und er die Leiche identifizieren muss. Ein Beruhigungsmittel, das ihm von einem - freundlichen Polizisten angeboten wird, lehnt er ab. Sein Assistent schlägt ihm vor, den Rest der Woche frei zu nehmen, die Vorbereitung der Beisetzung könne er ihm abnehmen. Der Manager lehnt das mit den Worten ab: »Vielen Dank für das Angebot, aber ich schaffe es schon selbst. Bitte, berichten Sie den andern, was geschehen ist. Es wäre mir lieb, wenn Sie sich wie sonst benähmen. Kein Beileid! Keine Erwähnung!«

Ich kenne diesen Menschen nicht, aber was ich hier höre, lässt mich schaudern. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ein solcher Mann sich selber annehmen konnte im Unglück. Er zeigt keine Schwäche und gestattet auch anderen keine. Ihm werden keine Niederlagen glücken, am wenigsten die endgültige, der Tod. Er ist zur Stärke und zum Siegen verdammt. Sollte er sich einmal Gedanken um seinen eigenen Tod machen, so wird er sich wohl wünschen, in den Sielen zu sterben: ein rascher Herzinfarkt bei der Arbeit, ganz ohne Schmerz.

Dieser Mann kommt mir vor wie ein guter Vertreter der Ersten Welt, der etwas gelernt hat, was in den anderen Kulturen nicht selbstverständlich ist und auch in unserer wenige Generationen zuvor noch undenkbar war. Er behauptet sich, er gewinnt die eigene Welt durch Aktivität, durch Machen, durch Gestalten. Er ... Aber es ist ungerecht, das nur auf ihn zu beziehen, ich meine uns alle und sage also: wir. Wir sind schon lange nicht mehr nur Erduldende unseres Lebens. Wir brauchen uns nicht mehr in stummem Einverständnis unter alles zu beugen, was kommt. Wir sind Täter geworden und haben gelernt, die Gesetze von Vorgängen zu durchschauen, in sie einzugreifen, Krankheiten zu vertreiben, das Leben zu verlängern, Macher des eigenen Lebens und Schicksals zu sein.

Dabei verkümmert die pathische Begabung der Menschen, ihre Fähigkeit, etwas zu erleiden. Das Leben anzunehmen, sich Grenzen zuzugeben, das Leben auch im Fragment und in der Gebrochenheit als sinnvoll zu betrachten, all das wird nicht eingeübt. Wer nur gelernt hat, im Modus der Aktion zu leben, wer sich selber nur als Macher gerechtfertigt sieht, der kann nicht mit Situationen umgehen, in denen er oder sie nichts machen kann, in denen die Täterschaft an ihre Grenzen stößt. Kann der Macher auch machtlos sein, kann er oder sie die Humanität auch in den Niederlagen behalten, wenn sich doch der Sinn seines Lebens in der Aktivität und in der Herstellung des Lebens erschöpft? Kann er krank sein, und kann er sterben? Oder sind Krankheit und Tod nur noch die Orte dramatischer Sinnlosigkeit, an die man am besten gar nicht denkt, die man übersieht und verleugnet? |

»Es wäre mir lieb, wenn sie sich wie sonst benähmen. Kein Beileid! Keine Erwähnung!«, sagt der Manager. Business as usual. Weitermachen, als sei niemand aus dem Leben gestürzt und als hätte man den großen Riss in den Fundamenten des Lebens nicht gesehen. Aber der Sohn ist tot - und es kann nicht gut gehen, wenn jeder so tut, als sei nichts geschehen, als gäbe es die Welt noch, in der er vorher gelebt hat. Vielleicht wird der Vater krank über der Verleugnung des Todes, vielleicht, und das wäre schlimmer, wird er fühllos, hart, schmerzlos und funktioniert weiter in seinem Beruf ohne ersichtliche Schäden. Aber er hat ein Stück seiner Seele verloren. Seine Fähigkeit zu trauern, sich zu sehnen und sich zu erinnern, ist kaputtgegangen; er kann nicht unglücklich sein im Unglück.

Der Tod gehört nicht in die Lebenslandschaft der reinen Macher und Sieger. Unsere Friedhöfe liegen außerhalb, am Rand der großen Städte. Wir leben in einer Landschaft, in der alle jung und stark, reich, intelligent und schön sind — oder so tun müssen. Die Schwachen, die Alten, die Sterbenden zählen nicht, und darum hat das vergehende Leben keinen Namen. Es stirbt sich schwer in dieser Landschaft der Sieger, die ohne Erinnerung auskommt.

Quelle: Aus: Sölle, Dorothee, Mystik des Todes, Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau, 2013 (12003), S. 29-32.

Aufgabe:

Entwickelt in Partnerarbeit anhand Sölles Text (M3.1) das Gegenbild zum erfolgreichen „Macher“, Direktor und „Sieger“ und erklärt, was das mit Mystik zu tun haben könnte.

Materialien: Herunterladen [docx][194 KB]