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M3.7 und M3.8: Zusatz für bes. schnelle Kurse

M3.7   Hartmut Rosa: Hoffnung auf Selbstbestimmung?

(…) Die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben bildet seit dem 18. Jahrhundert das Grundversprechen der Moderne. Als normatives und politisches Projekt ist die Moderne darauf gerichtet, sich von autoritären und traditionellen Vorgaben einerseits und von Knappheiten und natürlichen Limitationen andererseits zu befreien, um eine selbstbestimmte Lebensführung zu verwirklichen: Nicht Kirche oder König, aber auch nicht die Vorgaben der Natur sollen uns »vorschreiben, wie wir zu leben haben (wir entscheiden unabhängig von der Natur, ob es im Zimmer warm oder kalt, hell oder dunkel ist, wann wir Erdbeeren essen oder Skifahren, und ob wir Mann oder Frau sein wollen). Wachstum und Optionensteigerung waren motiviert und legitimiert durch dieses Ziel. Damit verbunden ist die moderne Vorstellung von Authentizität, nach der wir die gewonnenen Autonomiespielräume so nutzen wollen und sollen, dass wir das und so sein können, wie es unseren Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen, unserer Persönlichkeit und unseren Träumen »wirklich« entspricht. Wir wollen uns »nicht verbiegen« müssen, sondern »uns treu sein können«. Kurz: Das Steigerungsgeschehen diente zunächst (wenigstens perspektivisch) dazu, Freiräume zu gewinnen (und wohlfahrtsstaatlich zu sichern), um einen eigenen Lebensentwurf zu verfolgen.

Heute dagegen lässt sich die völlige Preisgabe und Umdrehung dieses Verhältnisses beobachten: Der Lebensentwurf dient dazu, im Steigerungsspiel mitzuhalten, wettbewerbsfähig zu bleiben oder zu werden. Individuell wie kollektiv richten sich Gestaltungsphantasien und -energien immer stärker darauf, die Steigerungsfähigkeit zu erhalten. Das Grundversprechen der Moderne ist damit gebrochen. Die individuellen und politischen Autonomiespielräume werden durch die Steigerungszwänge aufgezehrt.

Quelle: Rosa, Hartmut: Resonanz statt Entfremdung: Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne, in: Ders. u.a. (Hg.): Zeitwohlstand, Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben, München 22015, S. 63-73, hier S. 65.

M3.8 Niko Paech: Prophetie: Ausbruch aus der Fremdversorgung

(48)  Nach dem Kollaps... wir schreiben das Jahr 2050. Verheerende Finanzzusammenbrüche, ein Rohölpreis von mindestens 250 Dollar pro Barrel, die Coltan- und Phosphor-Krise, extreme Flächenknappheit, spürbare Auswirkungen des Klimawandels, das Bienensterben, Nahrungs- und Trinkwasserengpässe etc. haben weite Teile der globalen Mobilität und Industrie zusammenbrechen lassen. Um dennoch politische und soziale Stabilität zu wahren, musste die verbliebene Erwerbsarbeit so umverteilt werden, dass eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 20 Stunden längst als normal empfunden wird. Weiterhin vollzog sich ein Strukturwandel hin zu kürzeren Versorgungsketten und geringeren Spezialisierungsgraden. Lokal- und regionalwirtschaftliche, vor allem arbeitsintensivere Herstellungsprozesse, haben ebenfalls dazu beigetragen, die negativen Wirkungen des Kollapses zu dämpfen.

[49] Parallel zum Niedergang globalisierter Strukturen sind neue Regionalwährungen und Genossenschaftsunternehmen entstanden. So ließen sich Wertschöpfungsbeziehungen demokratischer gestalten, was unter anderem eine weniger zins- und renditeträchtige Kapitalbeschaffung der Unternehmen ermöglicht hat. Dies trug zur Dämpfung struktureller Wachstumszwänge bei. Innerhalb des gründlich verkleinerten und umgestalteten Industriekomplexes spielt die Neuproduktion von Gütern, welche im Übrigen fern jeglicher geplanten Obsoleszenz nunmehr reparaturfreundlich entworfen sind, nur noch eine untergeordnete Rolle. Fokussiert wird auf den Erhalt, die Um- und Aufwertung vorhandener Produktbestände, etwa mittels Konversion, Optimierung, Aufarbeitung, professioneller Nutzungsdauerverlängerung oder Nutzungsintensivierung.

Aus Konsumenten sind sog. »Prosumenten« geworden, die sich durch Suffizienz- und Subsistenzpraktiken zunehmend aus der Abhängigkeit von industrieller Fremdversorgung befreit haben. Auch die Landschaften haben sich verändert. Auf nicht mehr benötigten Flughäfen und Autobahnen befinden sich Windkraft- und Solaranlagen, um den minimierten Rest an Energienachfrage ohne weitere Natur- und Landschaftszerstörung zu befriedigen. Das Leben in der Postwachstumsökonomie ist von Sesshaftigkeit und materieller Genügsamkeit geprägt, aber sehr entspannt. Diese Auslegung einer nachhaltigen Entwicklung entspricht keiner Kunst des zusätzlichen Bewirkens, sondern des kreativen Unterlassens. Deshalb muss dazu nichts erfunden, wohl aber vieles reduziert und manche genügsame Versorgungspraktik schlicht eingeübt werden. Natürlich könnte damit bereits jetzt begonnen werden — aber Vorsicht: Wenn das zu viele tun, wird der Kollaps am Ende noch verhindert. Das wäre viel zu radikal.

Quelle: Paech, Niko: Suffizienz und Subsistenz, Therapievorschläge, in: Rosa, Hartmut u.a. (Hg.): Zeitwohlstand, Wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben, München 22015, S. 40-46, hier S. 48f.

Aufgabe zu den Zusatz-Materialien M3.7 - M3.8

Erörtert anhand der Texte von Rosa (M3.7) und Paech (M3.8) in Kleingruppen, inwiefern die islamische und christliche Mystik Ideen von Selbstbestimmung (Rosa) und Selbstversorgung (Paech) gedanklich und praktisch untermauern kann.

Abschluss für alle

Diskutiert in einem Rednerwettkampf (2 zufällig eingeteilte Gruppe, die pro oder contra vertreten) folgende These:

„Mystik kann aus den Zwängen der Leistungsgesellschaft befreien und dabei letztlich sogar das Klima retten!“

Materialien: Herunterladen [docx][194 KB]

 

Weiter zu DS 4: Kann Mystik zur Verständigung zwischen den Religionen beitragen?