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Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Men­schen­bild bei Hein­rich von Kleist

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Hein­rich von Kleist: Über das Ma­rio­net­ten­thea­ter, 1810 (Aus­zü­ge)


Als ich den Win­ter 1801 in M ... zu­brach­te, traf ich da­selbst eines Abends, in einem öf­fent­li­chen Gar­ten, den Herrn C… an, der seit kur­zem, in die­ser Stadt, als ers­ter Tän­zer der Oper, an­ge­stellt war, und bei dem Pu­bli­ko au­ßer­or­dent­li­ches Glück mach­te. Ich sagte ihm, dass ich er­staunt ge­we­sen wäre, ihn schon meh­re­re Mal in einem Ma­rio­net­ten­thea­ter zu fin­den, das auf dem Mark­te zu­sam­men­ge­zim­mert wor­den war, und den Pöbel, durch klei­ne dra­ma­ti­sche Bur­les­ken, mit Ge­sang und Tanz durch­webt, be­lus­tig­te. Er ver­si­cher­te mir, dass ihm die Pan­to­mi­mik die­ser Pup­pen viel Ver­gnü­gen mach­te, und ließ nicht un­deut­lich mer­ken, dass ein Tän­zer, der sich aus­bil­den wolle, man­cher­lei von ihnen ler­nen könne. Da diese Äu­ße­rung mir, durch die Art, wie er sie vor­brach­te, mehr, als ein blo­ßer Ein­fall schien, so ließ ich mich bei ihm nie­der, um ihn über die Grün­de, auf die er eine so son­der­ba­re Be­haup­tung stüt­zen könne, näher zu ver­neh­men. Er frag­te mich, ob ich nicht, in der Tat, ei­ni­ge Be­we­gun­gen der Pup­pen, be­son­ders der klei­ne­ren, im Tanz sehr gra­zi­ös ge­fun­den hatte. […] Ich er­kun­dig­te mich nach dem Me­cha­nis­mus die­ser Fi­gu­ren, und wie es mög­lich wäre, die ein­zel­nen Glie­der der­sel­ben und ihre Punk­te, ohne My­ria­den von Fäden an den Fin­gern zu haben, so zu re­gie­ren, als es der Rhyth­mus der Be­we­gun­gen, oder der Tanz, er­for­de­re? Er ant­wor­te­te, dass ich mir nicht vor­stel­len müsse, als ob jedes Glied ein­zeln, wäh­rend der ver­schie­de­nen Mo­men­te des Tan­zes, von dem Ma­schi­nis­ten ge­stellt und ge­zo­gen würde. Jede Be­we­gung, sagte er, hätte einen Schwer­punkt; es wäre genug, die­sen, in dem In­nern der Figur, zu re­gie­ren; die Glie­der, wel­che nichts als Pen­del wären, folg­ten, ohne ir­gend ein Zutun, auf eine me­cha­ni­sche Weise von selbst. Er setz­te hinzu, dass diese Be­we­gung sehr ein­fach wäre; dass jedes Mal, wenn der Schwer­punkt in einer ge­ra­den Linie be­wegt wird, die Glie­der schon Kur­ven be­schrie­ben; und dass oft, auf eine bloß zu­fäl­li­ge Weise er­schüt­tert, das Ganze schon in eine Art von rhyth­mi­sche Be­we­gung käme, die dem Tanz ähn­lich wäre. […]

Zudem, sprach er, haben diese Pup­pen den Vor­teil, dass sie an­ti­grav sind. Von der Träg­heit der Ma­te­rie, die­ser dem Tanze ent­ge­gen­stre­bends­ten aller Ei­gen­schaf­ten, wis­sen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte er­hebt, grö­ßer ist, als jene, die sie an der Erde fes­selt. Was würde unsre gute G... [da­mals be­kann­te Tän­ze­rin] darum geben, wenn sie sech­zig Pfund leich­ter wäre, oder ein Ge­wicht von die­ser Größe ihr bei ihren Ent­rechats und Pi­rou­et­ten, zu Hülfe käme? Die Pup­pen brau­chen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu strei­fen, und den Schwung der Glie­der, durch die au­gen­blick­li­che Hem­mung neu zu be­le­ben; wir brau­chen ihn, um dar­auf zu ruhen, und uns von der An­stren­gung des Tan­zes zu er­ho­len: ein

Mo­ment, der of­fen­bar sel­ber kein Tanz ist, und mit dem sich wei­ter nichts an­fan­gen lässt, als ihn mög­lichst ver­schwin­den zu ma­chen. Ich sagte, dass, so ge­schickt er auch die Sache sei­ner Pa­ra­do­xe führe, er mich doch nim­mer­mehr glau­ben ma­chen würde, dass in einem me­cha­ni­schen Glie­der­mann mehr Anmut ent­hal­ten sein könne, als in dem Bau des mensch­li­chen Kör­pers. Er ver­setz­te, dass es dem Men­schen schlecht­hin un­mög­lich wäre, den Glie­der­mann darin auch nur zu er­rei­chen. Nur ein Gott könne sich, auf die­sem Felde, mit der Ma­te­rie mes­sen; und hier sei der Punkt, wo die bei­den Enden der ring­för­mi­gen Welt in ein­an­der grif­fen. Ich er­staun­te immer mehr, und wuss­te nicht, was ich zu so son­der­ba­ren Be­haup­tun­gen sagen soll­te. Es schei­ne, ver­setz­te er, indem er eine Prise Tabak nahm, dass ich das drit­te Ka­pi­tel vom ers­ten Buch Moses nicht mit Auf­merk­sam­keit ge­le­sen; und wer diese erste Pe­ri­ode aller mensch­li­chen Bil­dung nicht kennt, mit dem könne man nicht füg­lich über die fol­gen­den, um wie viel we­ni­ger über die letz­te, spre­chen. Ich sagte, dass ich gar wohl wüss­te, wel­che Un­ord­nun­gen in der na­tür­li­chen Gra­zie des Men­schen, das Be­wusst­sein an­rich­tet. […] Bei die­ser Ge­le­gen­heit, sagte Herr C … freund­lich, muss ich Ihnen eine an­de­re Ge­schich­te er­zäh­len, von der Sie leicht be­grei­fen wer­den, wie sie hier­her ge­hört. Ich be­fand mich, auf mei­ner Reise nach Russ­land, auf einem Land­gut des Herrn v. G…, eines liv­län­di­schen Edel­manns, des­sen Söhne sich eben da­mals stark im Fech­ten übten. Be­son­ders der äl­te­re, der eben von der Uni­ver­si­tät zu­rück­ge­kom­men war, mach­te den Vir­tuo­sen, und bot mir, da ich eines Mor­gens auf sei­nem Zim­mer war, ein Ra­pier an. Wir foch­ten; doch es traf sich, dass ich ihm über­le­gen war; Lei­den­schaft kam dazu, ihn zu ver­wir­ren; fast jeder Stoß, den ich führ­te, traf, und sein Ra­pier flog zu­letzt in den Win­kel. Halb scher­zend, halb emp­find­lich, sagte er, indem er das Ra­pier auf­hob, dass er sei­nen Meis­ter ge­fun­den habe: doch alles auf der Welt finde den sei­nen, und fort­an wolle er mich zu dem mei­ni­gen füh­ren. Die Brü­der lach­ten laut auf, und rie­fen: Fort! fort! In den Holz­stall herab! und damit nah­men sie mich bei der Hand und führ­ten mich zu einem Bären, den Herr v. G… , ihr Vater, auf dem Hofe auf­er­zie­hen ließ.

Der Bär stand, als ich er­staunt vor ihn trat, auf den Hin­ter­fü­ßen, mit dem Rü­cken an einem Pfahl ge­lehnt, an wel­chem er an­ge­schlos­sen war, die rech­te Tatze schlag­fer­tig er­ho­ben, und sah mir ins Auge: das war seine Fech­ter­po­si­tur. Ich wuss­te nicht, ob ich träum­te, da ich mich einem sol­chen Geg­ner ge­gen­über sah; doch: sto­ßen Sie! sto­ßen Sie! sagte Herr v. G… , und ver­su­chen Sie, ob Sie ihm eins bei­brin­gen kön­nen! Ich fiel, da ich mich ein wenig von mei­nem Er­stau­nen er­holt hatte, mit dem Ra­pier auf ihn aus; der Bär mach­te eine ganz kurze Be­we­gung mit der Tatze und pa­rier­te den Stoß. Ich ver­such­te ihn durch Fin­ten zu ver­füh­ren;

der Bär rühr­te sich nicht. Ich fiel wie­der, mit einer au­gen­blick­li­chen Ge­wandt­heit, auf ihn aus, eines Men­schen Brust würde ich ohn­fehl­bar ge­trof­fen haben: der Bär mach­te eine ganz kurze Be­we­gung mit der Tatze und pa­rier­te den Stoß. Jetzt war ich fast in dem Fall des jun­gen Herrn v. G... Der Ernst des Bären kam hinzu, mir die Fas­sung zu rau­ben, Stöße und Fin­ten wech­sel­ten sich, mir trief­te der Schweiß: um­sonst! Nicht bloß, dass der Bär, wie der erste Fech­ter der Welt, alle meine Stöße pa­rier­te; auf Fin­ten (was ihm kein Fech­ter der Welt nach­macht) ging er gar nicht ein­mal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könn­te, stand er, die Tatze schlag­fer­tig er­ho­ben, und wenn meine Stöße nicht ernst­haft ge­meint waren, so rühr­te er sich nicht. Glau­ben Sie diese Ge­schich­te? Voll­kom­men! rief ich, mit freu­di­gem Bei­fall; jed­we­dem Frem­den, so wahr­schein­lich ist sie: um wie viel mehr Ihnen! Nun, mein vor­treff­li­cher Freund, sagte Herr C… , so sind Sie im Be­sitz von allem, was nötig ist, um mich zu be­grei­fen. Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der or­ga­ni­schen Welt, die Re­fle­xi­on dunk­ler und schwä­cher wird, die Gra­zie darin immer strah­len­der und herr­schen­der her­vor­tritt. - Doch so, wie sich der Durch­schnitt zwei­er Li­ni­en, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durch­gang durch das Un­end­li­che, plötz­lich wie­der auf der an­de­ren Seite ein­fin­det, oder das Bild des Hohl­spie­gels, nach­dem es sich in das Un­end­li­che ent­fernt hat, plötz­lich wie­der dicht vor uns tritt: so fin­det sich auch, wenn die Er­kennt­nis gleich­sam durch ein Un­end­li­ches ge­gan­gen ist, die Gra­zie wie­der ein; so, dass sie zu glei­cher Zeit, in dem­je­ni­gen mensch­li­chen Kör­per­bau am reins­ten er­scheint, der ent­we­der gar keins, oder ein un­end­li­ches Be­wusst­sein hat, d. h. in dem Glie­der­mann, oder in dem Gott. Mit­hin, sagte ich ein wenig zer­streut, müss­ten wir wie­der von dem Baum der Er­kennt­nis essen, um in den Stand der Un­schuld zu­rück­zu­fal­len? Al­ler­dings, ant­wor­te­te er; das ist das letz­te Ka­pi­tel von der Ge­schich­te der Welt.

© Kleist-Ar­chiv Sebd­ner, Heil­bronn ( www.​kleist.​org )

Ar­beits­auf­trä­ge zu Hein­rich von Kleist, Über das Ma­rio­net­ten­thea­ter

  1. Er­ar­bei­ten Sie aus dem Text, in wel­chem Sinn Kleist die Be­grif­fe „ Gra­zie “ und „ Anmut “ (beide wohl syn­onym zu ver­ste­hen) ver­wen­det.

  2. Er­läu­tern Sie, warum das Be­wusst­sein – nor­ma­ler­wei­se als Vor­zug ge­gen­über dem Tier her­aus­ge­stellt – im Sinne Kleists einen Nach­teil für den Men­schen dar­stellt.

  3. Be­stim­men Sie die Ver­or­tung des Men­schen bei Kleist
    1. zwi­schen an­de­ren Wesen: Tier (Bär), Ma­rio­net­te, Gott;
    2. in der ge­sam­ten Na­tur­ge­schich­te (seine Her­kunft, Ge­gen­wart, Zu­kunft).

  4. Der Titel lau­tet „Über das Ma­rio­net­ten­thea­ter“. Doch es geht we­ni­ger um diese Form des Thea­ters, als um eine be­stimm­te Auf­fas­sung vom Men­schen.

    Skiz­zie­ren Sie Kleists Men­schen­bild so­weit es sich vom Text her er­schlie­ßen lässt.

 

Nach der Er­ar­bei­tung des bi­blisch-christ­li­chen Men­schen­bil­des

Ver­glei­chen Sie Kleists Men­schen­bild mit dem bi­bli­schen Men­schen­bild in Gen 1-3 (ggf. auch Gen 4).

 

zu­rück: Er­he­bung des ak­tu­el­len Lern­stands

wei­ter: Bi­bli­sche Be­zü­ge

 

Hein­rich von Kleist, Über das Ma­rio­net­ten­thea­ter (Aus­zü­ge): Her­un­ter­la­den [doc] [32 KB]

Ar­beits­auf­trä­ge zu Kleist: Her­un­ter­la­den [doc] [26 KB]