Erklärungsansätze
Unterschiede in der Einstellung gegenüber Mathematik spiegeln sich einerseits
in der oben erwähnten Unterrepräsentanz von Frauen innerhalb der Mathematik
wider und andererseits in der gängigen Zuordnung von Mathematik zur männlichen
Lebenswelt. Diese beiden Aspekte sind nicht unabhängig voneinander, sondern
verstärken sich in einem Teufelskreis gegenseitig: Die Unterrepräsentanz
der Frauen trägt mit dazu bei, dass Mathematik als „männlich“
angesehen wird, diese Zuordnung hält wiederum Frauen davon ab, sich intensiver
damit auseinander zu setzen.
Eine Reihe von Untersuchungen ist der Frage nachgegangen, wie dieser Teufelskreis
zu durchbrechen ist. Das Forschungsinteresse umfasste den gesamte Bereich Naturwissenschaft,
Mathematik und Technik. Als Beispiel für eine sehr frühe Arbeit zu
diesem Thema sei die Untersuchung von Ilse Brehmer, Hildegard Küllchen
und Lisa Sommer (1989) genannt. Sie untersuchten die Gründe für das
geschlechtstypische Verhalten bei der Fächerwahl für die Leistungskurse
in der Oberstufe und fragten nach den Bedingungen, unter denen „typische“
bzw. „untypische“ Wahlen getroffen werden. In ihren Interviews stießen
sie auf die folgenden geschlechtstypischen Unterschiede, die Rückschlüsse
insbesondere auf unterschiedliche Einstellungen gegenüber dem Fach Mathematik
zulassen:
Mädchen, die sich für einen Leistungskurs Mathematik entschieden,
und insbesondere solche, die sich besonders für Mathematik und Naturwissenschaften
interessierten, gaben deutlich seltener Studien- oder Berufswünsche als
Hauptmotiv an als Jungen. Jungen wiesen dagegen ganz selbstverständlich
auf die Nützlichkeit der gewählten Fächer für bestimmte
Berufe hin. Nach Ansicht der Forscherinnen deutet diese Tendenz auf einen eklatanten
Mangel an Vorbildern und antizipierten Berufsmöglichkeiten für Frauen
in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichen hin. Dieser Eindruck wird
in der schulischen Umgebung verstärkt: Ein Blick auf die Lehrerschaft zeigt,
dass der Frauenanteil für das Fach Mathematik – immer noch –
gering ist. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg
(Stand September 1991) betrug der Anteil der männlichen Lehrkräfte
für Mathematik an Gymnasien insgesamt 80% (74% Vollzeit, 6% Teilzeit);
der Anteil der Frauen betrug entsprechend 20% (7% Vollzeit, 13% Teilzeit). Diese
Zahlen sind in ihrer krassen Ausprägung sicherlich nicht repräsentativ
für die gesamte Bundesrepublik, tendenziell sind sie jedoch verallgemeinerbar.
Für die Gruppen mit untypischem Wahlverhalten war weiterhin bemerkenswert,
dass den Lehrkräften offensichtlich eine wichtige Rolle zukam. Diese Möglichkeit,
durch Beratung und Ermunterung Einfluss zu nehmen, sollte demnach nicht unterschätzt
werden. Für mathematisch-naturwissenschaftlich orientierte Mädchen
spielte außerhalb der Schule die Unterstützung vor allem des Vaters
eine wesentliche Rolle bei einer untypischen Leistungskurswahl.
Insgesamt stellte sich schulischer Erfolg als zentrales Motiv für die Leistungskurswahl
heraus. Dieser wurde allerdings von Jungen und Mädchen in Bezug auf das
eigene Leistungsvermögen unterschiedlich interpretiert. Lernerfolge führten
bei Jungen eher zur Ausbildung eines stabilen und positiven Selbstkonzepts als
bei Mädchen. Mädchen verfügten trotz der eigenen hohen Leistungsanforderungen
über kein ungebrochenes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, beurteilten
sich selbst kritischer und neigten eher dazu, die eigenen Fähigkeiten zu
unterschätzen. Jungen dagegen stellten sich häufig eher zu positiv
dar. Diese Befunde decken sich mit den Ergebnissen von Langzeitstudien zum Erwerb
von Selbstvertrauen in der schulischen Sozialisation (vgl. Horstkemper 1987).
Zur Erklärung dieser Unterschiede werden Ergebnisse der Attributionsforschung
herangezogen. Hier hat sich gezeigt, dass Mädchen bezüglich ihrer
Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften signifikant häufiger als
Jungen Erfolge auf Glück zurückführen und Misserfolge durch mangelnde
Begabung erklären.
Diese ungünstige Ursachenzuschreibung – Erfolg wird durch eine äußere
und instabile Ursache, Misserfolg durch eine persönliche und unveränderbare,
stabile Ursache erklärt – führt zu Vermeidungsstrategien, dadurch
zu weiteren Misserfolgen und erweist sich damit über längere Sicht
als selbsterfüllende Prophezeiung (vgl. dazu Beerman, Heller & Menacher
1992).
Wir können festhalten, dass Mädchen im allgemeinen ein geringeres
Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten und Leistungen zeigen.
Dies wirkt sich wiederum negativ auf die Motivation aus, sich eingehender damit
auseinanderzusetzen. Diese Haltung der Mädchen fügt sich schließlich
stimmig in das vorherrschende Bild ein: Ihnen wird von vornherein weniger zugetraut,
ihr »Versagen« wird nicht nur toleriert, sondern als »natürlich«
gegeben hingenommen.
Für die Jugendlichen kommt der Auseinandersetzung mit den Rollenbildern
in der Zeit der Pubertät besondere Bedeutung zu. Die Attribute von Weiblichkeit
und Männlichkeit werden von ihnen verinnerlicht und sie wollen den Vorstellungen
in der Regel möglichst gut entsprechen.
Für Mädchen heißt das in erster Linie: attraktiv für das
andere Geschlecht sein; für Jungen Stärke und Überlegenheit zeigen.
Bettina Hannover hat analysiert, in welcher Weise sich die Auseinandersetzung
mit den Rollenbildern auf die Interessenentwicklung bei Jugendlichen in der
Pubertät auswirkt. Dazu untersuchte sie vergleichend in koedukativen Klassen
und in reinen Mädchenklassen die Bedingungen, unter denen Mädchen
sich für als „unweiblich“ geltende Fächer entschieden
(Hannover 1992). Als zentralen Begriff verwendet sie dabei das spontane Selbstkonzept
einer Person. Damit wird beschrieben, welche Aspekte der eigenen Person in einer
gegebenen Situation abweichend, neu oder auf andere Weise besonders hervorgehoben
sind. Ihre Ergebnisse sprechen dafür, dass Mädchen, die im Unterricht
das spontane Selbstkonzepts der eigenen Geschlechtszugehörigkeit aktivieren,
eher weniger Interesse für typische „Jungenfächer“ entwickeln.
Da dieses Selbstkonzept durch die Anwesenheit männlicher Klassenkameraden
stärker aktiviert wird als in reinen Mädchenklassen, schlägt
sie beispielsweise in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern
die Trennung in geschlechtshomogene Gruppen als eine Möglichkeit vor, diesen
auf die Mädchen sich negativ auswirkenden Einflussfaktor auszuschalten.
Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Forschungsergebnisse ist in den letzten
Jahren vielfach mit der zeitweisen Aufhebung der Koedukation experimentiert
worden.
Speziell für das Fach Mathematik liegt eine empirische Untersuchung zur
Auswirkung eines zeitweise monoedukativ durchgeführten Unterrichts vor
(Nyssen, Ueter & Strunz 1996). Im Rahmen des BLK-Modellversuchs „Zur
Förderung von Selbstfindungs- und Berufsfindungsprozessen von Mädchen
in der Sekundarstufe I“ wurde an einer der beteiligten Gesamtschulen über
die Klassenstufen 7 bis 9 Mathematik monoedukativ unterrichtet. Die Auswertung
der Unterrichtsbeobachtungen sowie der Vergleich der monoedukativen und koedukativen
Unterrichtssituationen bestätigten die oben genannten Forschungsergebnisse.
Die Mädchen in der monoedukativ unterrichteten 9. Jahrgangsstufe entwickelten
großes inhaltliches Interesse am Fach und arbeiteten sehr konstruktiv
und mit Freude mit. Hinzu kommt, dass sie sich eine sehr ruhige und konzentrierte
Arbeitsatmosphäre schafften, die sich deutlich von der eher konkurrenz-betonten
Atmosphäre in der Jungengruppe unterschied. Noch wichtiger erscheinen mir
die Ergebnisse aus der Beobachtung der wieder zusammengeführten 10. Jahrgangsstufe.
Nach einer anfänglichen Zurückhaltung der Mädchen war im weiteren
Verlauf feststellbar, dass die Mädchen ihr Selbstbewusstsein in die eigenen
Kompetenzen behielten und sich mit ihrem Sozialverhalten im Unterricht nicht
nur gegenüber den Jungen durchsetzten, sondern sogar die gesamte Unterrichtssituation
positiv beeinflussten.
Ähnliche positive Effekte werden beim Einsatz des Computer – z. B.
im Rahmen des ITG-Unterrichts – mit zeitweise getrennten Gruppen berichtet.
Allerdings muss davor gewarnt werden, in der rein organisatorische Maßnahme
des getrennten Unterrichts die Lösung eines pädagogischen Problems
zu sehen.
Ich habe unterschiedliche Einflussfaktoren aufgezeigt, die sich auf die Mädchen
und ihre Einstellung zur Mathematik eher negativ auswirken. Eine genaue Wirkungsanalyse,
die auch Rückschlüsse auf die Leistungsunterschiede zulässt,
liegt mit der Promotion von Carmen Keller vor, die ich abschließend zu
diesem Teil in Kürze skizzieren möchte.
Carmen Keller befragte in der Deutschschweiz parallel zu TIMSS ca. 6600 Schülerinnen
und Schüler der Klassenstufen 6 bis 8 über ihr Interesse an Mathematik,
das Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, ihre Beteiligung
am Unterricht sowie die Geschlechter-Stereotypisierung von Schulfächern
(Keller 1997 & 1998). Dieser letzte Fragenkomplex wurde auch den Lehrkräften
vorgelegt. Die Ergebnisse der ersten Auswertung dieser Fragebogen bestätigen
im wesentlichen allgemein zu beobachtenden Tendenzen: Mädchen zeigen ein
signifikant geringeres Interesse an Mathematik als Jungen und ihr Selbstvertrauen
in Mathematik ist deutlich geringer als das der Jungen. Mädchen wie Jungen
betrachten – mit zunehmender Klassenstufe zunehmend – Mathematik
als männliche Domäne. Die Lehrpersonen ordnen Mathematik sogar in
noch stärkerem Ausmaß der männlichen Lebenswelt zu.
Carmen Keller hebt hervor, dass diese Stereotypisierung der Mathematik für
Mädchen und Jungen nicht das Gleiche bedeutet. Jungen ordnen Mathematik
dem eigenen, Mädchen dagegen dem anderen Geschlecht zu. Die Identifikation
mit Mathematik ist für Mädchen – vor allem mit einsetzender
Pubertät – damit viel schwieriger als für Jungen. Aus lernpsychologischer
Perspektive können daraus wiederum negative Auswirkungen auf die Lern-
und Leistungsvoraussetzungen resultieren. Diese These überprüft Keller,
indem sie die Wirkungszusammenhänge der einzeln erhobenen Merkmale einer
Mehrebenen-Analyse unterzieht.
In dem hier betrachteten Zusammenhang sind zwei Ergebnisse besonders hervorzuheben:
„Die Analysen haben gezeigt, dass das Selbstvertrauen in die eigene
Mathematikleistungsfähigkeit die Geschlechterdifferenzen in den Mathematikleistungen
vollständig erklärt. Die Mädchen erreichen schlechtere Leistungen,
weil sie in der Mathematik ein schlechteres Selbstvertrauen haben (...) Außerdem
hat die Stereotypisierung von Mathematik als männliche Domäne der
Mädchen und Knaben einen signifikanten Effekt auf ihre Leistungen: Mädchen,
die Mathematik weniger als männliche Domäne betrachten und Knaben,
die Mathematik mehr als männliche Domäne betrachten, haben bessere
Leistungen.
(...)
In der vorliegenden Arbeit wurde nicht nur untersucht, wie die Unterschiede
in der Mathematikleistung erklärt werden können, sondern auch, weshalb
die Mädchen ein schlechteres Selbstvertrauen, ein geringeres Interesse
und eine geringere Zuschreibung der Mathematik zum eigenen Geschlecht haben
als die Knaben. Die Stereotypisierung von Mathematik als männliche Domäne
erwies sich als wichtigster Grund für das schlechtere Selbstvertrauen
und das geringere Interesse der Mädchen. (...) Darüber hinaus ist
das Selbstvertrauen der Mädchen auch deshalb schlechter, weil sie weniger
Erwartungen von den Lehrpersonen wahrnehmen und weil die Lehrpersonen Mathematik
als männliche Domäne stereotypisieren und deshalb ebenfalls eher
den Knaben zuschreiben.
(...)
Dass die Mädchen Mathematik dem eigenen Geschlecht viel weniger zuschreiben
als die Knaben, ist unter anderem auch durch die Lehrpersonen bedingt: Mädchen
nehmen von der Lehrperson weniger Erwartungen wahr, und sie übernehmen
die Stereotypisierung der Lehrperson, Mathematik sei eine männliche Domäne.“
(Keller 1998, S. 146ff.)
Mit dieser Arbeit wird einerseits eine fundierte Analyse der verschiedenen Einflussfaktoren
und ihrer Wechselwirkung vorgelegt. Andererseits zeigen die Ergebnisse aber
auch auf, wo eines der Kernprobleme liegt: im stereotypen Bild von Mathematik
als der männlichen Lebenswelt zugehöriger Bereich.
Aus den Untersuchungen zum Einsatz des Computers im Unterricht kann man an dieser
Stelle ergänzen, dass diese Tendenz durch den Computer noch zusätzlich
verstärkt werden kann, wenn dieser in erster Linie als technisches Gerät
und mit den entsprechenden Stereotypen behaftet wahrgenommen wird (vgl. hierzu
insbesondere Sinhart-Pallin 1990, Schründer-Lenzen 1995).