Blick in den Mathematikunterricht
Sowohl die Methoden und Interaktionen als auch die Inhalte des Unterrichts
aller Fächer sind im Rahmen der Koedukationsdebatte kritisiert worden.
Für den Mathematikunterricht möchte ich nur einige Kritikpunkte nennen:
Kennzeichnend für den Mathematikunterricht in den Sekundarstufen ist das
Unterrichtsgespräch: Geleitet durch Fragen der Lehrperson werden die Inhalte
gemeinsam in der Klasse erarbeitet. Diese Unterrichtsform führt teilweise
zu einer hoch entwickelten Kommunikationskultur und zu niveauvollen Gesprächen
zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern. Andererseits birgt
sie jedoch auch die Gefahr, dass aus dem Gespräch eine Art „Frage-und-Antwort-Spiel“
wird, das nach bestimmten, allen Beteiligten bekannten Regeln verläuft
und stark auf die Lehrperson zentriert ist. Die gestellten Fragen sind keine
echten Fragen, da die fragende Person die Antworten bereits weiß, ganz
bestimmte Antworten erwartet und in ihren Rückmeldungen die Antworten häufig
jeweils als falsch oder richtig bewertet. Die Schülerinnen und Schüler
spielen dieses Spiel mit und wissen auch, dass es sich um eine Art Spiel und
nicht um ein echtes Gespräch handelt.
Natürlich ist ein solcher Unterrichtsstil auch in anderen Fächern
verbreitet. Für die Mathematik erscheint er jedoch vermutlich deshalb besonders
geeignet, als hier im Rahmen des Gespräch ähnlich wie in einem mathematischen
Beweis schrittweise Folgerungsketten aufgebaut werden. Persönliche Einschätzungen
und narrative Elemente haben bei einem solchen Vorgehen wenig Raum.
Typisches Bild von Mathematik Klasse 5
Die starr erscheinenden Unterrichtsformen in Mathematik untermauern und festigen
noch das Bild von einer starren Wissenschaft, in der eigentlich schon alles
bekannt ist, für die stures Befolgen gewisser Strategien zum Erfolg führt,
in der die Lehrperson immer alles (besser) weiß und immer unerreichbar
überlegen sein wird.
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Reaktion auf den üblichen kleinschrittigen
Unterrichtsstil hat Helga Jungwirth in einer Fallstudie untersucht (Jungwirth
1990). Ihre Beobachtungen deuten darauf hin, dass Jungen sich auf diese Art
Unterricht bereitwilliger einlassen und die dafür angemessenen Handlungsweisen
besser beherrschen als Mädchen. Damit entsprechen die Jungen auch besser
den Erwartungen der Lehrpersonen, die ja ebenfalls auf diesen Unterrichtsstil
eingestellt sind.
Die beobachtbaren Unterschiede in den Verhaltensweisen von Mädchen und
Jungen insbesondere beim Einsatz des Computers erklärt Jungwirth schließlich
mit den unterschiedlichen „sozialen Welten“, in denen Mädchen
und Jungen sich jeweils bewegen – und wohlfühlen:
„Die zentrale Idee der Erklärung ist, dass Mädchen und Buben
über jeweils spezifische Gewohnheiten, Gesprächssituationen zu gestalten,
verfügen. Das heißt, sie sind gewohnt, bestimmte sprachliche Handlungen
zu setzen und – damit in Zusammenhang – Gesprächsthemen in
einer bestimmten Art und Weise zu behandeln. Mit diesen Gewohnheiten gehen
sie auch an das Geschehen im Computerunterricht heran. (...) Zusammenfassend
lässt sich sagen: Es wird von einer sozialen Welt der Mädchen und
einer sozialen Welt der Buben ausgegangen, in denen die beiden Geschlechter
unterschiedliche Handlungsweisen, unterschiedliche Vorstellungen von einer
„normalen“ Behandlung eines Themas und damit auch von einem „normalen“
Interaktionsverlauf im Unterricht erwerben. (...)
Die soziale Welt der Mädchen lässt sich mit den Begriffen „Nähe“
und „Intimität“ charakterisieren. In dieser Welt lernen die
Mädchen vor allem, enge, auf Gleichheit basierende Beziehungen aufzubauen
bzw. aufrecht zu erhalten. Dazu ist es erforderlich, sich intensiv mit den
Gedanken anderer auseinanderzusetzen, zu kooperieren und gemeinsam die gemeinte
Bedeutung von Äußerungen zu erschließen. Ebenso ist es aber
für die Mädchen nötig, sich selbst genau zu überlegen,
was sie ihrem Gegenüber sagen und was nicht. Erforderlich ist also auch
die Entwicklung der Fähigkeit, Probleme allein für sich selbst zu
durchdenken. (...)
In der sozialen Welt der Buben geht es vornehmlich um Selbstdarstellung. (...)
Buben lernen also, sich selbst gut darzustellen und dabei neuen Anforderungen
schnell zu begegnen. Ebenso lernen sie, spontan Einwürfe zu machen und
Randbemerkungen anzubringen, mit denen sie die Aufmerksamkeit anderer auf
sich ziehen können. (...) Dies bedeutet, dass sich Eindenken in ein Problem,
es von allen Seiten zu betrachten, um es möglichst vollständig zu
verstehen, nicht zu dem gehört, was in der Bubenkultur in besonderem
Maß gelernt wird.“
(Jungwirth 1994, S. 45 - 46)
Bestätigung findet der Ansatz von Jungwirth durch eine neuere Untersuchung,
die Sylvia Jahnke-Klein im Rahmen ihrer Promotion durchgeführt hat (Jahnke-Klein
2001). Sie hat genauer analysiert, unter welchen Bedingungen sich jeweils Mädchen
und Jungen im Mathematikunterricht wohlfühlen, was sie für einen guten
Mathematikunterricht halten. Bei den Mädchen konnte sie ein deutlich größeres
Sicherheitsbedürfnis feststellen. Sie wollten langsam vorgehen, viele Übungen
zum gleichen Thema machen, auch wenn sie die Techniken bereits beherrschten.
Den Jungen fiel dagegen ein längeres Verbleiben am selben Thema schwerer.
Sie strebten stärker nach Abwechslung, unabhängig davon, ob das Thema
bereits verstanden und beherrscht war oder nicht. Diese Tendenzen sind natürlich
nicht unproblematisch, und es kann nicht darum gehen, den – auch wieder
stereotypen – Wünschen einfach nachzukommen. Wichtig erscheint hier
vielmehr, diese Wünsche in ihrer Unterschiedlichkeit überhaupt erst
einmal wahrzunehmen, um dann damit reflektiert umgehen zu können.
Unabhängig davon, dass sich nach den vorliegenden Untersuchungen insbesondere
Mädchen von einem solchen Unterrichtsstil weniger angesprochen fühlen
als Jungen, spiegelt sich in diesem kleinschrittigen und engen Kommunikationsmuster
auch eine reduzierte Sichtweise auf die „objektiven“ Inhalte wider,
die für das Lernen von Mathematik und das Entwickeln eines Verständnisses
für dieses Fach keineswegs förderlich ist. Für Diskussionen mit
Meinungsbildung und Aushandeln von Gesprächsergebnissen scheint auf den
ersten Blick im Mathematikunterricht wenig Bedarf zu bestehen. Die Argumentation
läuft meistens auf ein Richtig-oder-falsch heraus; persönliche Einschätzungen
werden eher selten einbezogen.