Inklusive Bildungsangebote – eine Kooperationsaufgabe mit Prozessstruktur
Inklusive Bildungsangebote als Herausforderungen und Chancen für Schulentwicklung
Mit Bezug auf die Fallvignette „Leo“ wird deutlich, dass mit der Beschulung von jungen Menschen mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot an allgemeinen Schulen eine komplexe Handlungssituation einhergeht:
Die Sonderpädagogin hat Leo und die anderen Kinder mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot genau im Blick. Sie kann diagnosegeleitet den Entwicklungsstand der Kinder beschreiben und entwicklungsorientiert benennen, welchen Förderbedarf die Kinder haben, um ihre individuellen Bildungsziele zu erreichen – immer den optimalen Anschluss vor Augen.
Die Aufgabe des Klassenlehrers und der anderen Allgemeinpädagoginnen und - pädagogen ist es, die gesamte Klasse so zu unterrichten, dass alle Kinder das Klassen- bzw. Stufenziel erreichen. Natürlich achtet sie oder er auf jedes einzelne Kind und kann punktuell den Lernstand benennen, aber immer in Bezug auf die in dieser Klasse zu erreichenden Kompetenzen. Individuelle Bildungs- oder Entwicklungsziele für einzelne Kinder kann er nicht benennen, das sehen die Bildungspläne der allgemeinen Pädagogik nicht vor. Sie oder er hat eine hohe fachliche und fachdidaktische Expertise und hat gelernt, große Klassen in seinem Fach zu unterrichten.
Schon diese beiden Personen haben professionsbedingt eine sehr unterschiedliche Herangehensweise an das inklusive Bildungsangebot. Beide Perspektiven sind für das Gelingen des Bildungsangebots aber wichtig, um allen Kindern gerecht zu werden.
Voraussetzung für eine gelingende Zusammenarbeit ist ein gegenseitiges Verständnis der Professionen.
An der schulischen Entwicklung junger Menschen mit Behinderung sind häufig noch weitere Professionen beteiligt, z. B. medizinische Fachkräfte, etc. Nicht selten sind auch Volontäre, die einen Freiwilligendienst absolvieren, mit im Klassenzimmer.
An Abstimmungsprozessen über den Unterricht müssen also auch diese Personengruppen beteiligt sein.
Ebenso sind die Eltern in diese Prozesse einzubeziehen. Sie sind in besonderem Maße die Experten für ihr Kind und an der kooperativen Bildungsplanung entsprechend zu beteiligen.
Schulleitungen haben in diesem Zusammenhang wichtige Aufgaben. Sie sorgen dafür, dass die Eingliederung junger Menschen mit Behinderung in die Kultur der Schule Thema der gesamten Schulgemeinschaft ist. Es gehört zu den Leitungsaufgaben der
Schulleitungen die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, wie z. B. die Personalplanung, die Stundenplangestaltung, Räumlichkeiten, Kooperationszeiten, etc., damit Kinder
mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden können. Sie sind in Kontakt mit der Schulverwaltung und den Schulträgern, z. B. um die erforderlichen Ressourcen zu sichern.
Häufig müssen auch externe Institutionen wie der Integrationsfachdienst, das Jugendamt oder die Agentur für Arbeit eingebunden werden, um z. B. Unterstützungsmaßnahmen und Anschlüsse für Kinder mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches
Bildungsangebot zu sichern.
Es zeigt sich also, dass bei inklusiven Bildungsangeboten unterschiedliche Professionen und Institutionen eingebunden sind, die jeweils ihre eigenen Fachexpertise mitbringen: ob allgemein-, sonder- oder sozialpädagogische, ob therapeutische oder verwaltungsbezogene Denk- und Handlungstraditionen. Das Gelingen des Bildungsangebots hängt im hohen Maße von der Qualität der Kooperation der beteiligten Personen ab. Für diesen Prozess ist der fachliche Austausch auf „Augenhöhe“ besonders wichtig. Ziel eines solchen Abstimmungsprozesses ist es, die eigene Fachperspektive mit denen der anderen Beteiligten ins Verhältnis zu setzten und miteinander zu verschränken.
Der entwicklungsorientierte Ansatz der Sonderpädagogik setzt eine prozesshafte Diagnostik voraus, mittels derer immer wieder geprüft wird, was der Einzelne lernen kann. Die Lern- und Entwicklungspotentiale von jungen Menschen mit Behinderung sind nur bedingt prognostizierbar. Hingegen gelten für Schülerinnen und Schüler ohne Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot die Vorgaben des Bildungsplans. Durch diese besondere Ausgangssituation verändern sich die Rahmenbedingungen für alle Schülerinnen und Schüler. Entsprechend werden die Teilhabeziele und deren unterrichtliche Umsetzung für die Schülerschaft mit und ohne Behinderung in einem permanenten Prozess regelmäßig angepasst. Erst durch die Kooperation beteiligter Experten in einem solchen Prozess wird die Qualität des Bildungsangebotes langfristig gesichert.
Im Falle Leos zeigte sich, dass er im Deutschunterricht nur wenig Bereitschaft erkennen ließ, Texte zu verfassen. Seine kaum vorhandene Motivation veranlasste die sonderpädagogische Lehrkraft ihn, bei der Rechtschreibung mit einfachsten Aufgaben zu betrauen. Seine sprachliche Kompetenz war für die Deutschlehrerin Anlass ihm, fachdidaktisch aufbereitet, Aufgaben orientiert an seinem Sprachvermögen zu unterbreiten. Dies hatte zur Folge, dass er bei Nachschriften im Klassenranking durchschnittliche Ergebnisse erzielen konnte. Bei Mathematisierungsprozessen mussten die Lehrkräfte seinen eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten im Bereich der Körperfunktionen Rechnung tragen. Aufgaben in einem für ihn überschaubaren Zahlenraum mit ei nem unmittelbaren Verwendungsbezug, grafisch anschaulich aufbereitet, waren Resultat eines von vielen Reflexionen geprägten Abstimmungsprozesses zwischen den Lehrkräften der beiden Professionen. Die Eltern waren in diesen Verständigungsprozess einbezogen. Damit konnte verhindert werden, dass er von seinen Eltern mit überzogenen Ansprüchen konfrontiert wurde.
Leo trug sich in die Theater-AG der Schule ein. Diese Gruppe führt jährlich zum Schuljahresende ein Stück auf großer Bühne auf. Im Kreise der zumeist schon erfahrenen und auch älteren Schülerinnen und Schülern zeigte er Talent und Interesse an einer Hauptrolle. Die größte Sorge der Theaterpädagogin bestand in der Frage, ob Leo auch den physischen Anforderungen von Kompakttagen, Generalprobe und Aufführung standhalten kann. Lehrende und Eltern prüften wiederkehrend im Austausch mit Leo, ob die Anforderungen für ihn wie seine Mitspieler stimmig waren. Im Nachgang zur erfolgreichen Aufführung erwuchs in Leo der Wunsch, einmal Schauspieler zu werden. Jetzt gilt es in Abstimmung mit den Fachdiensten die nächsten Schritte zu planen, die allen Beteiligten weitere Erfahrungen und Erkenntnisse ermöglichen. Dieses Beispiel zeigt, welche Bedeutung außerschulische Kooperationspartner bei der Sicherung von Teilhabezielen zukommt.
Wenn diese Koordinationsleistungen gelingen sollen, empfiehlt es sich zu berücksichtigen, dass sie auf verschiedenen Handlungsebenen ablaufen.
Es braucht auf der persönlichen Ebene gegenseitige Anerkennung und Vertrauen, gemeinsames Lernen durch Beobachtung, Reflexion und Feedback, Flexibilität in der Rollenausführung, wechselseitiges Verständnis von didaktisch-methodischen
Fragestellungen, etc.
Auf der Ebene der Interaktionen geht es um die Routinen bei der Klärung von Prozessen und unterschiedliche Strukturen bei den Entscheidungsfindungen. Zum Beispiel sollte die Entwicklungsorientierung der sonderpädagogischen Lehrkräfte in
Abstimmung gebracht werden mit dem Fachbezug der Allgemeinpädagogen und wiederum anderen Routinen der Jugendhilfe (z. B. Umgang mit Budgetierungen) etc.
Auf der organisatorischen Ebene braucht es eine Verständigung über Verfahrensabläufe wie z. B. der Leistungsbewertung, der Zusammenarbeit mit den Eltern, der Erstellung von Wochenplänen etc.
Auf der institutionellen Ebene sind die genannten Prozesse in den schulischen Gremien, mit der Elternschaft, und den außerschulischen Partnern abzustimmen.
Transparente Entscheidungsstrukturen sind Voraussetzung für ein vertrauensvolles Miteinander der beteiligten Personen und Institutionen. So können in inklusiven Bildungsangeboten die Potentiale verschiedener Perspektiven und Ausbildungen genutzt werden und in der Kooperation Synergieeffekte zwischen den Professionen entstehen.
Kooperative Kompetenz als Gegenstand der Lehrerbildung
Wenn also inklusive Bildungsangebote kooperative Bildungsangebote sind, erscheint es wichtig, dass Lehrkräfte aller Lehrämter entsprechende Kompetenzen im Rahmen ihrer Ausbildung und in der Fortbildung entwickeln. Für die Lehrerbildung insgesamt bedeutet dies, ein entsprechendes Verständnis von kooperativer Kompetenz auszuweisen, zu konkretisieren und passende methodische Formate vorzuhalten, mit Hilfe derer die Kompetenz entwickelt werden kann.
Kooperative Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit, den eigenen fachlichen Standpunkt angemessen zu vertreten und passende Wege der Übermittlung dieses Standpunktes zu finden. Dazu gehört im Umkehrschluss die Fähigkeit, Perspektiven anderer übernehmen und im gemeinten Sinne verstehen zu können, um sie in die eigene Argumentation bzw. das eigene Handeln einzubeziehen. Kooperative Kompetenz erfordert insofern die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung. Die Beteiligten müssen in ihrer Fachsprache verständlich bleiben und situative, interpersonelle und normative Bedingungen beachten. Diese Grundlagen kooperativen Handelns gilt es, in der Ausbildung mit feldspezifischen konkreten Fragestellungen zu verknüpfen:
- Wie lässt sich das gemeinsame Lernen am gemeinsamen Thema/Lerngegenstand didaktisch umsetzen?
- Welche Lernformen machen bei welchen Fächern und Inhalten Sinn?
- Welche Methoden sind bei welcher Schülerschaft lernwirksam?
- Welche Unterstützungssysteme können unterrichtsimmanent eingesetzt werden?
- Wie können Schulbegleiter unterrichtlich integriert werden?
Unter methodischen Gesichtspunkten stellen sich Fragen, wie die Auszubildenden diese Kompetenzen erlernen können bzw. wie dies in der Fortbildung gelingen kann. Hier haben sich in der Lehrerbildung Konzepte reflexiver Professionalisierung, insbesondere entlang von situationsbezogenen Fallanalysen, bewährt, um nachhaltig kooperative Kompetenzen zu entwickeln. Hier könnte z. B. das Fallbeispiel „Leo“ eingesetzt werden.
Didaktische Hinweise
Dieses Kapitel kann in Aus- und Fortbildung als Reflexionsgrundlage zu verschiedenen Aspekten der Inklusion dienen.
Mögliche Fragestellungen zur Reflexion können sein:
- Welche Professionen sind an Ihrem inklusiven Bildungsangebot beteiligt?
- Was leitet Sie in Ihrer Profession, wenn Sie Unterricht vorbereiten? Was ist das professionelle Selbstverständnis der anderen Personen, die an dem inklusiven Bildungsangebot beteiligt sind?
- In welchen Handlungsfeldern sind Sie an Ihrer Schule zufrieden mit der Kooperation der verschiedenen Professionen, wo sehen Sie Entwicklungsbedarf? Was könnte Sie bei dieser Entwicklung unterstützen?
Inklusion und Lehrkräftebildung: Herunterladen [pdf][1,4 MB]
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