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Leh­rer­per­sön­lich­keit im Blick­feld - Grund­la­gen

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem ei­ge­nen Men­schen­bild und der mei­nem Han­deln zu Grun­de lie­gen­den Hal­tung ist ein zen­tra­ler Bau­stein in der Ar­beit mit so­ge­nann­ten „schwie­ri­gen“ Schü­lern. Als zen­tral wer­den hier­bei die aus der hu­ma­nis­ti­schen Psy­cho­lo­gie stam­men­den und durch Ro­gers ge­präg­ten Be­grif­fe der Kon­gru­enz (oder Real-Sein), Em­pa­thie und Wert­schät­zung er­ach­tet. Diese recht sim­pel er­schei­nen­den und ein­fach zu er­klä­ren­den Be­grif­fe er­wei­sen sich in der Pra­xis häu­fig als große Her­aus­for­de­rung.

So ist es die Frage, ob Herr Mül­ler am Mor­gen mit einem hohen Stress­le­vel ein­fühl­sam genug sein kann, um die An­stren­gung zu er­ah­nen und viel­leicht sogar zu wür­di­gen, wel­che Anton auf­wen­den muss­te, um sei­ner Mut­ter die Un­ter­schrift für den Aus­flug ab­zu­rin­gen. Auch ist es nicht leicht, einer Mut­ter ge­gen­über wert­schät­zend zu sein, die wenig ver­läss­lich scheint und Anton häu­fig sich selbst über­lässt.

Das, was aus pro­fes­sio­nel­ler Dis­tanz als selbst­ver­ständ­lich er­scheint, geht mit­un­ter in den Ver­wick­lun­gen des All­tags ver­lo­ren. Doch lohnt es sich durch­aus, dann wie­der einen Schritt zu­rück zu tre­ten und die ei­ge­nen Ge­dan­ken, Ge­füh­le und das ei­ge­ne Han­deln zu re­flek­tie­ren.

Wenn Herr Mül­ler an einem an­de­ren Tag ent­spannt und acht­sam in die Klas­se kommt, wird er An­tons Not eher er­spü­ren. Viel­leicht lobt er ihn zu­erst dafür, dass es ihm ge­lun­gen ist von sei­ner Mut­ter die Un­ter­schrift für den Aus­flug zu be­kom­men (Be­dürf­nis nach Zu­wen­dung und An­er­ken­nung). Acht­sam und ein­fühl­sam hört er die Sti­che­lei­en der Mäd­chen, blickt diese streng an, wor­auf­hin diese sich er­in­nern, dass Herr Mül­ler bei Ab­wer­tun­gen an­de­rer in der Klas­se äu­ßerst klar und kon­se­quent re­agie­ren kann (Be­dürf­nis nach Ori­en­tie­rung). Im guten Kon­takt mit sich selbst sagt Herr Mül­ler der Klas­se, welch ein Glück es für alle ist, dass er heute ent­spannt und ge­las­sen ist, da er von sich selbst weiß, dass es auch Tage gibt, an denen er we­ni­ger auf­merk­sam re­agiert. Wenn er selbst an­ge­strengt ist, re­agiert er auch un­ge­recht, was ihm im Nach­hin­ein leid­tut. Die Klas­se er­lebt durch die Kon­gru­enz von Herrn Mül­ler einen be­son­de­ren Mo­ment der Nähe und Wert­schät­zung.

Das klei­ne Bei­spiel zeigt, wie wich­tig es ist, dass Lehr­per­so­nen über ein wirk­sa­mes ei­ge­nes Stress­ma­nage­ment ver­fü­gen und zur kri­ti­schen Selbst­re­fle­xi­on be­reit sind. Hier­für ist ein acht­sa­mer Um­gang mit den ei­ge­nen Kör­per­wahr­neh­mun­gen, Ge­füh­len, Ge­dan­ken und Be­dürf­nis­sen eine wich­ti­ge Basis.

Die Selbst­re­fle­xi­on von Lehr­kräf­ten soll­te neben der fort­lau­fen­den Be­trach­tung ak­tu­el­ler Be­ge­ben­hei­ten auch die be­wuss­te Aus­ein­an­der­set­zung mit der ei­ge­nen Bio­gra­fie um­fas­sen. Um in schwie­ri­gen Si­tua­tio­nen pro­fes­sio­nell zu agie­ren, ist es hilf­reich ei­ge­ne prä­gen­de Er­fah­run­gen in El­tern­haus, Schu­le und wei­te­ren Zu­sam­men­hän­gen sowie ei­ge­ne Mo­ti­ve der Be­rufs­wahl zu ken­nen. Schü­ler mit her­aus­for­dern­den Ver­hal­tens­wei­sen gehen häu­fig in die Wie­der­ho­lung von be­kann­ten Ver­hal­tens­mus­tern mit der Er­war­tung einer ihnen ver­trau­ten Re­ak­ti­on oder der un­be­wuss­ten Hoff­nung auf Lö­sung des in­ne­ren Kon­flikts. Das Wis­sen um die ei­ge­nen „wun­den“ Punk­te kann davor schüt­zen, in das Mus­ter ein­zu­stei­gen. So hilft es Herrn Mül­ler, dass er sich der kon­flikt­haf­ten Be­zie­hung zu sei­nem äl­te­ren Bru­der be­wusst ist, in der er sich immer min­der­wer­tig fühl­te. Er kann An­tons Be­schimp­fung „halt doch die Klap­pe du Wich­ser“ von sei­ner Per­son und von sei­nen ei­ge­nen kind­li­chen Ge­füh­len tren­nen und Anton aus einer er­wach­se­nen Hal­tung im Hier und Jetzt eine Gren­ze set­zen.

Die Be­reit­schaft zum Per­spek­tiv­wech­sel be­fä­higt Herrn Mül­ler zu einem wert­schät­zen­den Um­gang mit Anton bei einer gleich­zei­tig kla­ren Hal­tung. Herrn Mül­ler wird deut­lich, dass sich An­tons Le­bens­um­stän­de deut­lich von sei­nen ei­ge­nen und den damit ver­bun­de­nen An­sprü­chen und Er­war­tun­gen un­ter­schei­den. In der An­er­ken­nung die­ser Tat­sa­che liegt mit­un­ter ein Schlüs­sel für „echte Be­geg­nung“ (nach Buber 1986), wel­che auch „in vol­ler Härte“ statt­fin­den kann, womit hier Aus­ein­an­der­set­zung und Be­gren­zung ge­meint ist. „Ich strei­te mich mit dir, weil du mir wich­tig bist“ ist die da­hin­ter lie­gen­de Bot­schaft.

Auch im Kon­takt mit der Mut­ter hilft der Per­spek­tiv­wech­sel, ihr mit Wert­schät­zung zu be­geg­nen. Trotz wid­ri­ger Um­stän­de und exis­ten­ti­el­ler Nöte setzt sie alles daran, ihren Kin­dern im Rah­men ihrer Mög­lich­kei­ten ein lie­be­vol­les Zu­hau­se zu bie­ten und für die Be­lan­ge ihrer Kin­der ein­zu­tre­ten. Die Vor­stel­lung davon, wie dies um­ge­setzt wird, un­ter­schei­det sich in der Regel sehr von den Vor­stel­lun­gen der Lehr­kräf­te. Das Be­wusst­sein hier­über prägt eine re­spekt­vol­le Hal­tung in der Be­geg­nung mit El­tern und er­mög­licht in vie­len Fäl­len Ko­ope­ra­ti­on. Ge­gen­sei­ti­ge Er­war­tun­gen und Ver­ein­ba­run­gen im Rah­men des Mach­ba­ren kön­nen ab­ge­klärt und Gren­zen ge­setzt und ak­zep­tiert wer­den.

Ex­kurs För­der­schwer­punkt Geis­ti­ge Ent­wick­lung

Oft­mals ge­lingt es uns Lehr­kräf­ten nur nä­he­rungs­wei­se die Per­spek­ti­ve eines Kin­des oder Ju­gend­li­chen mit För­der­schwer­punkt Geis­ti­ge Ent­wick­lung ein­zu­neh­men. Wenn das Wahr­neh­men des ei­ge­nen Kör­pers (Sen­so­ri­sche In­te­gra­ti­on) und / oder der um­ge­ben­den so­zia­len und ma­te­ri­el­len Um­welt auf­grund ver­än­der­ter sen­so­ri­scher und ko­gni­ti­ver Pro­zes­se auf eine an­de­re Art statt­fin­den, bil­den sich an­de­re Rea­li­tä­ten ab. Ent­spre­chend die­ser agiert und re­agiert die Schü­le­rin oder der Schü­ler dann in für uns un­ge­wohn­ter Form. Be­son­ders of­fen­bar wird dies bei Schü­le­rin­nen und Schü­lern mit einer Au­tis­mus­spek­trumstö­rung. Hier kön­nen Re­ak­tio­nen auf Kör­per­sen­sa­tio­nen, auf Licht­im­pul­se oder akus­ti­sches Er­le­ben zu lau­tem Schrei­en, zu Flucht­ver­hal­ten oder zu fremd- und selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten füh­ren. Ohne dass dies zwin­gend von den Be­tei­lig­ten vor­her­ge­se­hen wer­den könn­te.
Das ei­ge­ne bis­lang (in Re­gel­schul­klas­sen) als trag­fä­hig er­leb­te Leh­rer­han­deln kann dar­über hin­aus noch durch wei­te­re För­der­schwer­punkt­spe­zi­fi­ka zu­sätz­li­che Ver­un­si­che­run­gen er­fah­ren. Bei­spiels­wei­se dann, wenn Anton un­ver­mit­telt aus dem Klas­sen­zim­mer ren­nen würde und Hr. Mül­ler nicht si­cher sein kann ob Anton über ge­nü­gend Ge­fah­ren­be­wusst­sein und lo­gi­sche Ein­sichts­fä­hig­keit in sein Han­deln ver­fügt. Oder wenn Anton die kör­per­li­che Nähe von Hr. Mül­ler sucht um sich von ihm trös­ten oder auch loben zu las­sen – oder weil Anton Hr. Mül­ler ein­fach gern hat. Um diese und ähn­li­che Si­tua­tio­nen zu­neh­mend bes­ser ein­ord­nen zu kön­nen und ei­ge­ne Hand­lungs­stra­te­gi­en wei­ter zu ent­wi­ckeln haben sich, neben der in­ten­si­ven Zu­sam­men­ar­beit mit den Son­der­päd­ago­gen, For­men der Su­per­vi­si­on und Kol­le­gia­ler Fall­be­ra­tung be­währt.

Text­aus­schnitt aus: „Zum Ver­ständ­nis von her­aus­for­dern­dem Ver­hal­ten“ (Ka­pi­tel 6A)

Leh­rer­per­sön­lich­keit im Blick­feld - Grund­la­gen: Her­un­ter­la­den [docx][28 KB]

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Wei­ter zu M1