Kontext im Blickfeld - Grundlagen
Möglicherweise ist Anton zu Hause selbständig, kauft ein und kümmert sich liebevoll um seine kleine Schwester, wenn die Mutter unterwegs ist. Seine Mutter putzt in einem Büro und manchmal hält sie es vielleicht einfach abends nicht mehr zu Hause aus. Sie ist noch jung, wuchs selber unter schwierigen Bedingungen auf, und sucht nach einem Partner, der ihr Halt gibt. An solchen Abenden spielt Anton mit seiner Schwester und bringt sie ins Bett. Seine Mutter ist froh und stolz auf Anton und bespricht mit ihm wichtige Entscheidungen. Sie wünscht sich allerdings, dass die beiden Kinder weniger Chaos in der Wohnung hinterlassen.
In der Schule ist Anton irritiert, dass ihm nicht die gleiche Verantwortlichkeit wie zu Hause zugetraut wird und es fällt ihm schwer, Entscheidungen anderer zu akzeptieren. Herrn Müller gelingt es dann oft vermittelnd einzugreifen. Zu ihm hat Anton inzwischen Vertrauen gefasst. Wenn Herr Müller ungeplant fehlt, verunsichert das Anton. Er ist an diesen Tagen deutlich unruhiger, leichter reizbar und kann sich nicht gut auf den Unterricht konzentrieren.
Indem Lehrpersonen verschiedene Perspektiven einnehmen, gewinnen sie mehr Verständnis für die Komplexität der Situation und das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte. Insbesondere der Austausch über mögliche verschiedene Sichtweisen mit Kolleginnen und Kollegen erweitert das Handlungsrepertoire. Wir können andere Menschen nicht verändern und an schwierigen Lebensumständen oft kaum etwas verbessern. Wir können nur uns selber verändern und einen neuen Blick auf die Dinge erreichen. Hierdurch begegnen wir herausforderndem Verhalten mit mehr Verständnis. Dies ist jedoch nicht mit einem Einverständnis bzgl. destruktiven Verhaltens gleichzusetzen. Grenzsetzungen sind wichtig und bei schädlichem Verhalten für alle Seiten unabdingbar.
Exkurs Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
Wir können Anton beobachten, wie er sich im inklusiven Unterricht immer wieder mit voller Wucht mit beiden Fäusten auf seine Ohren schlägt. Insbesondere solches oder ähnliches selbstverletzendes Verhalten wirkt auf alle Beteiligten sehr belastend. Ist dieses Verhalten eine Reaktion auf erlebte kognitive Überforderung? Oder hat Anton eine Mittelohrentzündung und versucht so den Schmerz zu bekämpfen? Oder reagiert Anton auf die (normale) Lautstärke in einer Klasse mit über 20 Mitschülern, da sein Gehirn die akustischen (Stör)reize nicht auszufiltern weiß? Um diese und weitere personalen und kontextabhängigen Faktoren gilt es zunächst einmal überhaupt zu wissen um ihnen in einem Suchprozess sonderpädagogisch und ggf. medizinisch auf die Spur kommen zu können.
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