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In­ter­view mit einer Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin

Eine Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin, die an einer deut­schen Uni­ver­si­tät lehrt, hat uns in die­sem In­ter­view einen Ein­blick in die li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Kurz­pro­sa ge­ge­ben.

Wie de­fi­nie­ren Sie Kurz­pro­sa?

Das wich­tigs­te Merk­mal von Kurz­pro­sa steckt schon in ihrer Be­nen­nung, näm­lich die Kürze. Auch wenn man keine ge­naue Sei­ten­zahl fest­le­gen kann, so soll­te der Text doch in einem Zug durch­ge­le­sen wer­den kön­nen.

Wel­ches sind die be­son­de­ren Merk­ma­le li­te­ra­ri­scher Kurz­pro­sa ganz all­ge­mein?

Über die Kürze hin­aus ist die Gat­tung durch eine be­son­de­re Kom­ple­xi­tät ge­kenn­zeich­net. In dem knap­pen Raum, der ihr zur Ver­fü­gung steht, muss eine be­deu­tungs­vol­le Si­tua­ti­on ge­schaf­fen wer­den. Des­we­gen be­sit­zen die Texte meist einen An­fang, der mit­ten ins Ge­sche­hen hin­ein geht, und einen Schluss, der für Deu­tun­gen offen ist. Zudem kon­zen­trie­ren sie sich häu­fig auf ein oder zwei Fi­gu­ren.

Gibt es für Au­to­ren von Kurz­pro­sa be­son­de­re An­for­de­run­gen, die an­de­rer Art sind als bei län­ge­ren Er­zäh­lun­gen, No­vel­len und Ro­ma­nen?

Ja, si­cher. Im Roman haben die Au­to­ren die Mög­lich­keit, eine ganze Welt zu ent­wer­fen, diese mit einer Viel­zahl von Fi­gu­ren aus­zu­stat­ten und zahl­rei­che Hand­lungs­strän­ge zu ent­wi­ckeln. Ähn­li­ches gilt mit Ein­schrän­kun­gen auch für län­ge­re Er­zäh­lun­gen. Die Kurz­pro­sa da­ge­gen ver­langt die volle Kon­zen­tra­ti­on auf die je­wei­li­ge Si­tua­ti­on und Figur.

Wel­che Rolle spielt die Kurz­pro­sa in der deutsch­spra­chi­gen Li­te­ra­tur der Ge­gen­wart?

Sie spielt ge­gen­über dem Roman eine un­ter­ge­ord­ne­te Rolle, was ein Blick auf die Best­sel­ler­lis­ten be­legt. Sie bie­tet aber si­cher­lich eine Mög­lich­keit Dinge aus­zu­pro­bie­ren; zudem kön­nen ge­ra­de junge Au­to­rin­nen und Au­to­ren sich mit ihr erst­mals pro­fi­lie­ren.

Gibt es spe­zi­fi­sche The­men ak­tu­el­ler Kurz­pro­sa?

Die The­men sind zeit­nah und ge­sell­schafts­kri­tisch; da kann es um das Er­wach­sen­wer­den eben­so gehen wie um eine Paar­be­zie­hung, eine Er­kran­kung oder die Si­tua­ti­on eines Ge­flüch­te­ten.

Wie ver­hal­ten sich dabei Rea­li­tät und Fik­ti­on zu­ein­an­der?

Die ak­tu­el­le Ge­gen­warts­li­te­ra­tur ist grund­sätz­lich von einem neuen Rea­lis­mus und einem neuen „Ernst“ ge­prägt. Das un­ter­schei­det sie von der Li­te­ra­tur der Post­mo­der­ne oder der Pop-Li­te­ra­tur.

Wie ist die ak­tu­el­le Kurz­pro­sa sprach­lich-for­mal ge­stal­tet?

Das lässt sich schwer all­ge­mein be­ant­wor­ten. Kurz­pro­sa be­sitzt grund­sätz­lich eine Ten­denz zu sprach­li­cher Ver­knap­pung, zu einer nüch­ter­nen und zu­gleich sug­ges­ti­ven Ge­stal­tung, die viele Deu­tungs­mög­lich­kei­ten er­öff­net.

In­wie­weit ist diese Ge­stal­tung kon­ven­tio­nell-tra­di­tio­nell, in­wie­weit ist sie avant­gar­dis­tisch-in­no­va­tiv?

Auch das hängt ganz von den je­wei­li­gen Au­to­rin­nen und Au­to­ren ab.

Wel­che Rolle spie­len die di­gi­ta­len Me­di­en?

Sie spie­len als Pu­bli­ka­ti­ons­mög­lich­keit eine wich­ti­ge Rolle. Da Kurz­pro­sa – an­ders als frü­her – kaum noch in Ta­ges­zei­tun­gen und an­de­ren Print­me­di­en ge­druckt wird, bie­tet das In­ter­net einen wich­ti­gen Raum, in dem die Au­to­rin­nen und Au­to­ren selbst­stän­dig in Er­schei­nung tre­ten kön­nen.

Ver­kau­fen sich Bü­cher mit Kurz­pro­sa Ihrer Kennt­nis nach ge­nau­so gut wie Ro­ma­ne oder ist Kurz­pro­sa schwe­rer an die Leser zu brin­gen?

Kurz­pro­sa ist grund­sätz­lich – eben­so wie Lyrik – schwe­rer an die Leser zu brin­gen.

Wel­che Au­to­ren ge­gen­wär­ti­ger Kurz­pro­sa fin­den Sie per­sön­lich be­son­ders in­ter­es­sant und warum?

Mir ge­fal­len die vom Autor als Nach­er­zäh­lun­gen be­zeich­ne­ten Texte von Cle­mens J. Setz sehr gut, weil sie for­mal in­no­va­tiv und in­halt­lich pro­vo­ka­tiv sind. Aber ich mag auch die Er­zäh­lun­gen von Karen Köh­ler, die einen fri­schen Blick auf un­se­re Ge­gen­wart wer­fen – al­ler­dings han­delt es sich bei ihnen nur noch be­dingt um Kurz­pro­sa im ei­gent­li­chen Sinne.