Sequenz 3
Interpretationsversuche: Die öffentlichen Institutionen und das Recht
Die formalen Institutionen
Institutionen sichern die Verbindlichkeit des Rechts für die Gesellschaft. Dies ist nicht mehr möglich, wenn das ideologisch geleitete „moralische“ Urteil des käuflichen Normalverbrauchers das Primat des Gemeinwohls ersetzt.
- Der Polizist (Exekutive)
S. 63 ff.: Die Planung einer Tat ist noch nicht strafbar! Durch Inanspruchnahme des Konsums auf Kredit nimmt er billigend die Korrumpierung des Rechts in Kauf.
- Der Bürgermeister (Exekutive)
S. 69 ff.: Formal betont er die Prinzipien des Rechtsstaats, moralisch steht er bereits auf Seiten des Unrechts, indem er für Claire Verständnis äußert und ihren Anspruch als moralisch gerechtfertigt bezeichnet. Damit gilt ihr Plan als öffentlich sanktioniert; Ill wird zum Außenseiter, das Gemeinwohl wird zur Funktion des ökonomischen Interesses.
- Der Regierungsstatthalter (oberste Instanz, Rechtsaufsicht)
S. 81: Ills Kontaktversuch wird vom Postbeamten und Stadtrat unterbunden; die Kontrollinstanzen sind bereits wirkungslos (vgl. „Michael Kohlhaas“).
- Der Richter (Judikative)
S. 46 ff.: Der Richter wurde in der Vorgeschichte von Claire bereits zielorientiert gekauft; somit entfällt die Wahrnehmung der Aufgabe einer verfahrensmäßigen Prüfung von Recht und Gerechtigkeit.
Fazit: Auf die institutionellen Träger von Recht ist kein Verlass mehr. Alle Instanzen des positiven Rechts vernachlässigen ihre Garantiefunktion und versagen formal und moralisch.
Die moralischen Institutionen
- Der Pfarrer (Kirche)
S. 75 ff.: Er liefert kirchliche Formeln mit individueller Schuldzuweisung, die im Jenseits abgerechnet werde. Sein Rat: Gewissenforschung und Annahme der Schuld, gegebenenfalls Flucht. Seine Doppelmoral: Er hofft auf das Geld Claires und erklärt dies mit der menschlichen Schwachheit.
Fazit: Die Kirche als moralisches Korrektiv nimmt ihre Rolle im wirklichen Leben nicht wahr.
- Der Lehrer (Schule)
S. 102 ff.: Er akzeptiert letztlich die Korrumpierung des öffentlichen, moralischen Bewusststeins und beklagt die Machtlosigkeit des idealistischen Humanitätsglaubens gegenüber der kollektiv gewollten Ideologisierung der Moral. Seine Prophezeiung: Wo Moral beliebig und funktional wird, schlägt sie auf die Verantwortlichen zurück. Ansonsten verfällt er dem Alkohol und rechtfertigt die Ermordung Ills in einer demagogischen Rede, indem er die Unmoral seiner Mitbürger in moralisches Verhalten uminterpretiert (121 f.).
Fazit: Die Erziehungsinstanzen verweisen auf moralische Ideale, vermögen sie jedoch nicht wirklich durchzusetzen.
- Der Arzt (Intellektuelle)
S. 86 ff.: Zusammen mit dem Lehrer macht er einen letzten Vermittlungsversuch, um dann vor Claires perfidem Plan gleichfalls zu kapitulieren.
Fazit: Humane Werte und kommerzielle Interessen lassen sich im wirklichen Leben nicht in Einklang bringen.
Die öffentliche Kontrollinstanz
- Die Presse
S. 119 ff.: Die Presse erkennt die ideologisch geleitete Normenverschiebung nicht bzw. betreibt sie mit. Sie ist sofort bereit, das unmoralische Verhalten der Güllener zu legitimieren, sogar zu befördern, indem sie sich auf das Wechselspiel mit den Güllenern und deren euphemistische Stiftungsidee zwecks sozialer Wohltat einlässt und sie sogar propagiert. Der Preis, die Inkaufnahme von Ills Tod, wird verschwiegen. Sie erweist sich als oberflächlich, sensationslüstern und macht sich damit zum Handlanger der heuchlerischen Unmoral. Am Ende wird das Zusammenwirken aller Beteiligten zwecks öffentlicher Lüge in der Übernahme des „Todes, aus Freude“, den Ill gestorben sei, durch die Medien drastisch vorgeführt (130).
Fazit: Die Medien versagen als moralische Kontrollinstanz; sie befördern noch das unmoralische Verhalten der Gesellschaft.
Die Folgen
Die Auslieferung des Rechtsprinzips an eine moralische Empfindungsweise, die korrupt ist, führt zu der grotesken Argumentation, zwecks Rechtfertigung eigenen unmoralischen Verhaltens gegenüber einem Menschen diesem selbst Unmoral vorzuwerfen. Das öffentliche Bewusstsein, das für die Erhaltung verbindlicher moralischer Maßstäbe sorgen soll, versagt in dem Augenblick, in dem das Gemeinwohl zur absoluten Funktion des ökonomischen Interesses geworden ist. Der Versuch der Güllener, den Vorgang zunächst von der öffentlichen Diskussion fernzuhalten, beweist, dass man sich nicht mehr öffentlich rechtfertigen will. Wo die sittliche Verlässlichkeit der Gemeinschaft fehlt, wird dem Individuum Größe und Tragik vorenthalten. Diese Erkenntnis des Gatten VIII (S. 73) entspricht ganz der Dürrenmattschen Komödientheorie.
Ill, das ausgegrenzte Individuum
S. 78 ff.: Er droht in der Balkonszene zunächst mit Selbstjustiz (vgl. Kohlhaas-Syndrom: Ich werde vom Gemeinwesen verstoßen, also erzwinge ich mein „Recht“ mit Gewalt.), scheitert jedoch am eigenen schlechten Gewissen, das –vom Pfarrer bereits angelegt- durch den funktionalistisch-verklärten Rückblick Claires evoziert wird. Ill wird bewusst, dass sein Verhalten den Grundstein zur Korrumpierbarkeit öffentlicher Moral gelegt hat; die Entscheidung ist gefallen (79). Seine „Passion“ beginnt: Ab sofort steht er als Einzelner dem Kollektiv der Güllener gegenüber, das sich auf seine „Kosten“ zur allgemein-verbindlichen öffentlichen Instanz gemacht hat, indem es sich in einer ersten Phase nach außen abschottet. Die Güllener repräsentieren nun das Rechtssystem, indem sie die sittlich-moralische Leitfunktion für sich beansprucht und durchgesetzt haben. Ill wird zum „mutigen Menschen“.
Fazit: Ill sieht seine tragische Schuld und nimmt sie aus eigener innerer Schuldanerkenntnis auf sich (107 ff.). Er lehnt deshalb einen Selbstmord „aus Gemeinschaftsgefühl“ (Der Bürgermeister, S. 108) ab –dieser wäre die Bestätigung seines als schuldhaft erkannten Verhaltens und die Exkulpation der Güllener-, entzieht sich öffentlicher Inszenierung und konfrontiert aus der erlangten Größe seiner Überzeugung, aus seinem „Heldentum“, das Kollektiv mit der Notwendigkeit, selbst Schuld auf sich zu nehmen, „ehrlich“ zu sein. Sein Verzicht auf einen subjektiven Gerechtigkeitsanspruch verlangt ebenso diesen Verzicht von Seiten der Gemeinschaft; keiner hat objektiv „Recht“. Die Prophezeiung des Lehrers tritt bereits ein, bevor er sie getätigt hat!
Claire, die kalkuliert Wartende
Claire zieht im 2. Akt die Fäden und lässt im wahrsten Sinne des Wortes die „Puppen tanzen“: Die Ehemänner (57 ff.), den schwarzen Panther (dessen Tötung den Mord an Ill symbolisch vorwegnimmt, 76), den ganzen „Rivierakram“ (72), die Honoratioren von Güllen (z.B. den Lehrer, 77), Ill (78f.: Sie evoziert mittels sentimentaler Erinnerung sein schlechtes Gewissen, um dann den Transfer der Milliarde anzukündigen = Wendepunkt), der ab der Balkonszene beginnt, seine Schuld zu akzeptieren (Es ist also durchaus zweifelhaft, ob er dies aus freiem Entschluss tut oder ob dies nicht auch ein Teil des perfiden Plans von Claire ist!). Ansonsten bleibt sie im Hintergrund: Sie wartet. Die letzte Aussprache mit Ill in Parallelhandlung zur 1. Szene findet in intakter Natur statt (115 ff.). Sie dient der distanzierten und illusionslosen Einholung der Vergangenheit durch beide. Ill akzeptiert seinen Tod, Claire bekennt sich zu ihrem „Traum von Leben, Liebe, Vertrauen“, den sie mittels ihrer „Milliarden“ wieder errichten will, um sich von der Vergangenheit loszukaufen (117). Wahre, echte Ideale sind nicht mehr möglich, weil sie heute korrumpierbar sind.
Bitte klären Sie folgende Fragen und versuchen Sie didaktische Umsetzungsformen zu entwickeln:
- Welche Rolle spielen Judikative, Legislative und Exekutive im Fall Ill?
- Wie sind die anderen moralischen Institutionen, die Kulturträger von Güllen, zu bewerten?
- Welche Rolle spielt die Presse?
- Wie erscheinen die beiden Individuen des Stückes, Claire und Il, in ihrem Verhältnis zu den genannten Institutionen?
- Warum ergibt sich am Ende des 2. Aktes der Wendepunkt des Stückes?
Didaktische Umsetzungsmöglichkeiten könnten z.B. sein:
- Rollenspiele (Polizist und Bürgermeister sprechen sich ab; Pfarrer, Lehrer und Arzt beraten sich vor ihrem Treffen mit Claire; Redaktionskonferenz eines Boulevardblattes zu einer Sonderausgabe zum Thema „Ill und die Millionärin“)
- Serien-Special eines Privatsenders zum Thema „Wer wird Millionär in Güllen?“ oder Recherche eines seriösen und eines Boulevardjournalisten in Güllen vor der Gemeindeversammlung etwa durch Interviews mit den beteiligten Personen etc.
- Gruppenarbeit zur Erarbeitung von Schaubildern bzw. Standbildern zu den einzelnen Charakteren im Vergleich: Bürgermeister, Polizist etc. Im Kontrast dazu die Entwicklung, die Ill zum „Helden“ im Dürrenmattschen Sinne macht, und die Statik der Claire, die Dürrenmatt als „eine Heldin, von Anfang an“ (Werkausgabe Bd. 5) sieht.
- Szenische Darstellung: Der Besuch des Regierungsstatthalters in Güllen: Wie rechtfertigen die Güllener ihr Verhalten?
- Textanalytischer Vergleich der Rede des Lehrers mit einer Rede von Marc Antonius aus Shakespeares „The Tragedie of Iulius Caesar“. Schwerpunkte: Uminterpretation von Unmoral in moralisches Verhalten; Manipulation von Zuhörern.