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Der Ge­rech­tig­keits­be­griff im Stück 3. Akt


von StD Hans Ro­bert Spiel­mann

Es tre­ten auf die in­tel­lek­tu­el­len Re­prä­sen­tan­ten der zer­bro­che­nen Wer­te­welt, der Arzt und der Leh­rer, mit einem letz­ten Ver­mitt­lungs­ver­such, hu­ma­ne Werte und kom­mer­zi­el­le In­ter­es­sen in Ein­klang zu brin­gen, der an der Of­fen­ba­rung des letz­ten Ab­grunds des Clai­re­schen Pla­nes schei­tert: Sie hat be­reits das ganze Dorf in­klu­si­ve der wirt­schaft­li­chen In­fra­struk­tur ge­kauft. Der letz­te Ap­pell an ihre Gnade er­hält eine zy­ni­sche Ab­fuhr: „Die Mensch­lich­keit, meine Her­ren, ist für die Börse der Mil­lio­nä­re ge­schaf­fen, mit mei­ner Fi­nanz­kraft leis­tet man sich eine Welt­ord­nung. Die Welt mach­te mich zu einer Hure, nun mache ich sie zum Bor­dell. Wer nicht ble­chen kann, muß hin­hal­ten, will er mit­tan­zen. Ihr wollt mit­tan­zen. An­stän­dig ist nur, wer zahlt, ich zahle. Gül­len für einen Mord, Kon­junk­tur für eine Lei­che.“ 30 Clai­res Ge­rech­tig­keits­be­griff hat ge­siegt und gilt fort­an in Gül­len als durch den ge­sell­schaft­li­chen Kon­sens ge­tra­ge­ne, ver­bind­li­che Rechts­auf­fas­sung. In Wie­der­ho­lung der 1. Szene des 2. Aktes auf neuer Be­wusst­seins­stu­fe wird der Um­schlag der über­kom­me­nen Werte ins Ge­gen­teil ma­ni­fest: Die Heu­che­lei ist be­en­det, die Lüge zu Guns­ten Clai­res ist zur Welt­ord­nung ge­wor­den. „DER ERSTE  Wenn er Klara bloß­stel­len will, Lügen er­zäh­len, sie hätte was auf sei­nen Tod ge­bo­ten oder so, was doch nur ein Aus­druck des na­men­lo­sen Leids ge­we­sen ist, müs­sen wir ein­schrei­ten. DER ZWEI­TE  Nicht wegen der Mil­li­ar­de. DER ERSTE  Aus Volks­zorn. Die brave Frau Za­cha­nassi­an hat, weiß Gott, genug sei­net­we­gen durch­ge­macht.“ 31

Die Pres­se als Sprach­rohr der öf­fent­li­chen Mei­nung fragt kurz kri­tisch nach der ei­gent­li­chen Wahr­heit, um dann die ro­man­ti­sche Tri­via­li­sie­rung der Ge­schich­te vor­zu­zie­hen 32 ; die Ge­mein­schaft ein­schließ­lich Ills Fa­mi­lie schweigt nicht mehr bloß, son­dern ver­hin­dert be­wusst und aktiv die Ver­öf­fent­li­chung der Wahr­heit. Letz­te Pro­test­ver­su­che des Leh­rers als Er­geb­nis ver­stärk­ten Al­ko­hol­kon­sums wer­den im Kol­lek­tiv er­stickt; zudem ent­spricht Ills Ver­hal­ten dem ver­öf­fent­lich­ten Bild, was von der Pres­se wie­der­um eu­pho­risch an­ge­nom­men wird. 33 . Ill nimmt die Schuld auf sich und ge­winnt da­durch per­sön­li­che Größe gemäß dem Dür­ren­matt­schen Hel­den­be­griff in der Ko­mö­die: „ILL  Ich habe Klara zu dem ge­macht, was sie ist, und mich zu dem, was ich bin, ein ver­schmier­ter win­di­ger Krä­mer. Was soll ich tun, Leh­rer von Gül­len? Den Un­schul­di­gen spie­len? Alles ist meine Tat, die Eu­nu­chen, der But­ler, der Sarg, die Mil­li­ar­de. Ich kann mir nicht mehr hel­fen und euch auch nicht mehr.“ 34

Der Leh­rer hält dar­auf­hin die erste ehr­li­che Rede des Stü­ckes, in der er die Kor­rum­pie­rung der Moral ak­zep­tiert und die Macht­lo­sig­keit des idea­lis­ti­schen Hu­ma­ni­täts­glau­bens ge­gen­über kol­lek­tiv ge­woll­ter Ideo­lo­gi­sie­rung der Moral zu­gibt. Er pro­phe­zeit die Fol­gen: Wo Moral be­lie­big und funk­tio­nal wird, schlägt sie auf die Be­tei­lig­ten zu­rück. „DER LEH­RER (…) Ich fürch­te mich, Ill, so wie Sie sich ge­fürch­tet haben. Noch weiß ich, daß dann auch zu uns ein­mal eine alte Dame kom­men wird, eines Tages, und dass mit uns ge­sche­hen wird, was nun mit Ihnen ge­schieht, …“ 35 Der Bür­ger­meis­ter schlägt Ill durch­aus ei­gen­nüt­zig vor, die wah­ren Hin­ter­grün­de von Clai­res An­ge­bot der Öf­fent­lich­keit/Pres­se zu ver­schlei­ern durch eine tri­via­le Story, vor­aus­ge­setzt, er ver­hält sich wohl. Die­ser ver­wei­gert sich, was den Bür­ger­meis­ter zur end­gül­ti­gen Ver­dre­hung von Ur­sa­che und Wir­kung ver­an­lasst: „DER BÜR­GER­MEIS­TER  Ich drohe Ihnen nicht, Ill, Sie dro­hen uns. Wenn Sie reden, müs­sen wir dann eben auch han­deln. Vor­her.“ 36 Ill ak­zep­tiert das Ge­mein­de­ge­richt aus ei­ge­ner in­ne­rer Schuld­an­er­kennt­nis, er lehnt des­halb einen Selbst­mord „aus Ge­mein­schafts­ge­fühl“ 37 ab und kon­fron­tiert aus der er­lang­ten Größe sei­ner Über­zeu­gung das Kol­lek­tiv mit der Not­wen­dig­keit, Schuld auf sich zu neh­men, ehr­lich zu sein. Sein Ver­zicht auf einen sub­jek­ti­ven Ge­rech­tig­keits­an­spruch ver­langt eben­so die­sen Ver­zicht von Sei­ten der Ge­mein­schaft; kei­ner hat ob­jek­tiv Recht .

Die letz­te Aus­spra­che mit Clai­re in Par­al­lel­hand­lung zur 1. Szene fin­det jetzt in in­tak­ter Natur statt. 38 . Beide holen in der Idyl­le ihre Ver­gan­gen­heit dis­tan­ziert und il­lu­si­ons­los ein. Ill ak­zep­tiert sei­nen Tod, Clai­re be­kennt sich zu ihrem „Traum von Leben, von Liebe, von Ver­trau­en“, den sie mit­tels ihrer „Mil­li­ar­den“ wie­der er­rich­ten will, um die Ver­gan­gen­heit aus­zu­lö­schen. 39 . Wahre Idea­le sind nicht mehr mög­lich, sie sind nun kor­rum­piert. Die In­ten­si­tät der Be­geg­nung wird un­ver­mit­telt ins Ram­pen­licht der Öf­fent­lich­keit ge­zerrt (Pres­se, Jour­na­lis­ten, Film); diese ist so­fort be­reit, das un­mo­ra­li­sche Ver­hal­ten der Gül­le­ner zu le­gi­ti­mie­ren, sogar zu be­för­dern, indem sie sich auf ein Wech­sel­spiel mit ihnen ein­lässt und deren eu­phe­mis­ti­sche Stif­tungs­idee zwecks so­zia­ler Wohl­tat pro­pa­giert; der Preis, Ills Tod, wird ver­schwie­gen. Hier the­ma­ti­siert Dür­ren­matt, wie­der ganz sei­ner Dra­men­theo­rie gemäß, die Ver­ur­tei­lung des amo­ra­li­schen Welt­gan­zen, das be­lo­gen sein will. 40 Der Leh­rer in­ter­pre­tiert in einer dem­ago­gi­schen Rede par ex­cel­lence die Un­mo­ral der Gül­le­ner in mo­ra­li­sches Ver­hal­ten um: „Nur wenn ihr das Böse nicht aus­hal­tet, nur wenn ihr unter kei­nen Um­stän­den in einer Welt der Un­ge­rech­tig­keit mehr leben könnt, dürft ihr die Mil­li­ar­de der Frau Za­cha­nassi­an an­neh­men und die Be­din­gung er­fül­len, die mit die­ser Stif­tung ver­bun­den ist.“ 41 Dies ist die Le­gi­ti­ma­ti­on des Mor­des! Der neue Ge­rech­tig­keits­be­griff der Masse hat über alte, hu­ma­nis­ti­sche Werte ge­siegt und ist zur ver­bind­li­chen Rechts­pra­xis, zu po­si­ti­vem Recht in den Augen der Gül­le­ner ge­wor­den. Im Wech­sel­spiel ist die Pres­se er­schüt­tert ob der „sitt­li­che(n) Größe“ 42 und macht sich damit zum Hand­lan­ger der heuch­le­ri­schen Un­mo­ral!

Ab jetzt be­stimmt die un­auf­halt­sa­me Mas­sen­psy­cho­se die Hand­lung. Jeder spielt seine fi­xier­te Rolle (wie in der grie­chi­schen Tra­gö­die oder dem christ­li­chen Mys­te­ri­en­spiel); Ill spielt nur noch eine klei­ne Ne­ben­rol­le, Clai­re taucht erst zum Schluss des Ge­sche­hens wie­der auf. Die Ei­gen­dy­na­mik der Per­ver­si­on 43 führt zwangs­läu­fig zum To­des­ur­teil über Ill „der Ge­rech­tig­keit wegen – und aus Ge­wis­sens­not.“ 44 Am Ende er­folgt der ein­zi­ge Rol­len­aus­bruch durch Ills Aus­ruf der Gott­ver­las­sen­heit (drit­ter Zu­sam­men­bruch sei­ner „Pas­si­on“ 45 ). Die­ser letz­te exis­ten­zi­el­le, nicht ge­spiel­te Satz ver­wei­gert sich der öf­fent­li­chen Auf­zeich­nung, da die sitt­lich-mo­ra­li­sche Ver­bind­lich­keit der Ge­mein­schaft oh­ne­hin nicht mehr ge­ge­ben ist. Die wie­der­hol­te Auf­zeich­nung der Szene ohne Ills Aus­bruch zeigt be­reits das um­ge­dreh­te Wech­sel­spiel: Das Leben wird von der ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung in­sze­niert, der to­ta­len Ma­ni­pu­la­ti­on öff­net sich Tür und Tor. 46 . Ill fürch­tet sich nicht mehr sehr, er deu­tet dem Pfar­rer ge­gen­über an, dass die An­kla­ge auf die An­klä­ger zu­rück­fal­len wird: Der von dem Geist­li­chen auf­ge­ru­fe­ne Pro­phet Amos kün­dig­te das Jüngs­te Ge­richt an, gei­ßel­te be­son­ders die Sün­den des Vol­kes und hob die un­beug­sa­me Ge­rech­tig­keit Got­tes, mit der der Mensch zu­erst ins Lot kom­men muss, her­vor. Der Zy­klus von Rache, Ver­führ­bar­keit und Kor­rup­ti­ons­be­reit­schaft ist nicht durch­bro­chen! 47

Der Hö­he­punkt des all­ge­mei­nen Zu­sam­men­wir­kens zwecks öf­fent­li­cher Lüge ist die Über­nah­me des „Tod(es), aus Freu­de“ durch die Me­di­en. 48 Clai­re über­gibt ihren Scheck mit zwei Wör­tern, „Der Check“ 49 , hält sich aus der Mas­sen­hys­te­rie her­aus und über­lässt mo­ra­li­sches Ur­tei­len dem Zu­schau­er, auch dies ent­spricht der Dür­ren­matt­schen Theo­rie. Das Schluss­bild zeigt die Apo­theo­se des Wohl­stands, des­sen un­ver­meid­li­cher Un­ter­gang durch den grie­chi­schen Tra­gö­di­en­chor par­odis­tisch an­ge­deu­tet wird 50 : Die neue mensch­li­che Ge­mein­schaft auf der Basis ma­te­ri­el­ler Si­cher­heit ist durch Kor­rup­ti­on er­kauft!

 


30 Ebda., 91.
31
Ebda., 93.
32
Vgl. ebda., 96 f.
33
Vgl. ebda., 100 ff.
34
Ebda., 102 f.
35
Ebda., 103.
36
Ebda., 107.
37
Ebda., 108.
38
Vgl. ebda., 115 ff.
39
Ebda., 117.
40
Vgl. ebda., 119 f.
41
Ebda., 122.
42
Ebda.
43
Vgl. ebda., 123 ff.
44
Ebda., 124.
45
Vgl. ebda., 80.
46
Vgl. ebda., 125.
47
Vgl. ebda., 128.
48
Ebda., 130.
49
Ebda., 131.
50
Vgl. ebda., 132 ff.