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Der Ge­rech­tig­keits­be­griff im Stück 1. Akt


von StD Hans Ro­bert Spiel­mann

„Ge­rech­tig­keit“ ist erst­mals ge­nannt im Stück als be­son­de­re Cha­rak­ter­ei­gen­schaft von Clai­re: „ILL  (…) Klara lieb­te die Ge­rech­tig­keit. Aus­ge­spro­chen. Ein­mal wurde ein Va­ga­bund ab­ge­führt. Sie be­warf den Po­li­zis­ten mit Stei­nen.“ Dar­auf der „BÜR­GER­MEIS­TER  Ge­rech­tig­keits­lie­be. Nicht schlecht. Wirkt immer. Aber die Ge­schich­te mit dem Po­li­zis­ten un­ter­schla­gen wir bes­ser.“ 7 Hier wird be­reits deut­lich, dass Ge­rech­tig­keit und Recht zu un­ter­schei­den sind und dass die Gül­le­ner sich die­ser Un­ter­schei­dung gerne be­die­nen, da die Re­la­ti­vie­rungs­mög­lich­kei­ten durch Ge­rech­tig­keit spä­ter für sie eine große Rolle spie­len wer­den. Dabei ist es be­reits hier für sie durch­aus op­por­tun, die „Ge­schich­te mit dem Po­li­zis­ten“ 8 , im­mer­hin dem Ver­tre­ter des po­si­ti­ven Rechts, in den Hin­ter­grund zu stel­len, wenn es um die Er­rin­gung eines per­sön­li­chen Vor­teils geht. So er­weist sich die Ge­rech­tig­keit der Gül­le­ner als von An­fang an kor­rum­pier­bar trotz aller mo­ra­li­schen Be­teue­run­gen. „CLAI­RE ZA­CHA­NASSI­AN  Ich will die Be­din­gung nen­nen. Ich gebe euch eine Mil­li­ar­de und kaufe mir dafür die Ge­rech­tig­keit. (…) DER BÜR­GER­MEIS­TER  Die Ge­rech­tig­keit kann man doch nicht kau­fen! CLAI­RE ZA­CHA­NASSI­AN  Man kann alles kau­fen.“ 9 Clai­res Ge­rech­tig­keits­be­griff ist schon nicht mehr tran­szen­dent-sitt­lich, wie das (noch) beim Bür­ger­meis­ter der Fall zu sein scheint, er ist längst sub­jek­ti­vis­tisch-ma­te­ria­lis­tisch. Kon­se­quen­ter­wei­se führt sie im Fol­gen­den vor, wie sie sich Ge­rech­tig­keit er­kauft hat, indem sie den für ihren Fall zu­stän­di­gen Ober­rich­ter als But­ler an­ge­stellt hat. „DER BUT­LER  (…)  Frau Clai­re Za­cha­nassi­an bie­tet eine Mil­li­ar­de, wenn ihr das Un­recht wie­der­gut­macht, das Frau Za­cha­nassi­an in Gül­len an­ge­tan wurde. Herr Ill, darf ich bit­ten.“ 10

Die Tren­nung von Recht und Ge­rech­tig­keit durch Clai­re wurde be­reits in der Vor­ge­schich­te (die jetzt prä­zi­siert wird) längst voll­zo­gen: Der ge­kauf­te Wech­sel des Rich­ters aus dem Be­reich des po­si­ti­ven Rechts in den der sub­jek­ti­ve Ge­rech­tig­keits­emp­fin­dung der Mil­li­ar­dä­rin zeigt die Kor­rum­pier­bar­keit der sitt­li­chen Rechts­ord­nung; die gro­tes­ke Kas­tra­ti­on und Blen­dung der bei­den Zeu­gen Jakob Hühn­lein und Lud­wig Sparr sym­bo­li­sie­ren den Vor­gang dras­tisch. Ills Re­ak­ti­on ist die ver­geb­li­che Be­ru­fung auf das gel­ten­de po­si­ti­ve Recht: „ILL stampft auf den Boden  Ver­jährt, alles ver­jährt! Eine alte, ver­rück­te Ge­schich­te.  (…) DER BUT­LER  Und nun wol­len sie Ge­rech­tig­keit, Clai­re Za­cha­nassi­an? CLAI­RE ZA­CHA­NASSI­AN  Ich kann sie mir leis­ten. Eine Mil­li­ar­de für Gül­len, wenn je­mand Al­fred Ill tötet.“ 11 Dabei be­ruft Clai­re sich auf das alt­tes­ta­men­ta­ri­sche Ra­che­prin­zip des Auge um Auge, Zahn um Zahn ; sie hat ihre ge­sam­te Exis­tenz der Re­vi­si­on ihres Pro­zes­ses im Sinne eines Ge­richts­ta­ges über eine kor­rup­te Welt ge­wid­met.

Der 1. Akt ist ei­gent­lich schon der letz­te: Die Ka­ta­stro­phe einer 45jäh­ri­gen Lei­den­ge­schich­te wird in der Ex­po­si­ti­on schon ein­ge­holt. „CLAI­RE ZA­CHA­NASSI­AN  (…) Du hast dein Leben ge­wählt und mich in das meine ge­zwun­gen. Du woll­test, daß die Zeit auf­ge­ho­ben würde, eben, im Wald un­se­rer Ju­gend, voll von Ver­gäng­lich­keit. Nun habe ich sie auf­ge­ho­ben, und nun will ich Ge­rech­tig­keit, Ge­rech­tig­keit für eine Mil­li­ar­de.“ 12 Zur Ver­hand­lung steht hier auch die Tat­sa­che, dass Ills Frei­heit, sich gegen Clai­re zu ent­schei­den, zu deren Un­frei­heit wurde, sich für ein Leben ent­schei­den zu müs­sen, das sie so ei­gent­lich nicht füh­ren woll­te. Ills un­ge­rühr­te Re­spekt­lo­sig­keit für einen an­de­ren Men­schen hat ihn be­reits aus der Ver­bind­lich­keit einer sitt­li­chen Rechts­ord­nung her­aus­fal­len las­sen. Noch steht der Bür­ger­meis­ter an­ge­sichts des Clai­re­schen An­ge­bo­tes „ auf, bleich, wür­dig “. „DER BÜR­GER­MEIS­TER  Frau Za­cha­nassi­an: Noch sind wir in Eu­ro­pa, noch sind wir keine Hei­den. Ich lehne im Namen der Stadt Gül­len das An­ge­bot ab. Im Namen der Mensch­lich­keit. Lie­ber blei­ben wir arm denn blut­be­fleckt.   Rie­si­ger Bei­fall. 13 Die Be­ru­fung der Gül­le­ner auf ein sitt­lich-hu­ma­nes Recht­s­prin­zip er­scheint al­ler­dings be­reits heuch­le­risch in An­be­tracht ihres bis­her ge­zeig­ten Ge­samt­ver­hal­tens vor und wäh­rend der An­kunft von Clai­re. Des­halb braucht sie nur zu „war­ten“. 14

 


7 Fried­rich Dür­ren­matt, Der Be­such der alten Dame. Tra­gi­sche Ko­mö­die. Neu­fas­sung 1980. Werk­aus­ga­be in sie­ben­und­drei­ßig Bän­den, Bd. 5, Zü­rich 1998, 19 (de­te­be 23045).
8 Ebda.
9 Ebda, 45.
10 Ebda., 46.
11 Ebda., 48 f.
12 Ebda., 49.
13 Ebda., 49 f.
14 Vgl. ebda., 50.