Materialien
M1
Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, btb Verlag, München 2006 (23. Auflage). 215-217.
M2
Pflichtenethik: Die Tatsache der Verpflichtung – Kant!
Es sei z.B. der Fall: dass jemand ein anvertrautes fremdes Gut (depositum) in Händen habe, dessen Eigentümer tot ist, und dass die Erben desselben davon nichts wissen, noch je etwas erfahren können. Und zugleich, dass der Inhaber dieses Depositums (ohne sein Verschulden) gerade um diese Zeit in gänzlichen Verfall seiner Glücksumstände geraten, eine traurige, durch Mangel niedergedrückte Familie von Frau und Kindern um sich sehe, aus welcher Not er sich augenblicklich ziehen würde, wenn er jenes Pfand sich zueignete; zugleich sei er Menschenfreund und wohltätig, jene Erben aber reich, lieblos, und dabei im höchsten Grad üppig und verschwenderisch, so dass es eben so gut wäre, als ob dieser Zusatz zu ihrem Vermögen ins Meer geworfen würde. Und nun frage man, ob es unter diesen Umständen für erlaubt gehalten werden könne, dieses Depositum in eigenen Nutzen zu verwenden? Ohne Zweifel wird der Befragte antworten: Nein! und statt aller Gründe nur bloß sagen können: es ist unrecht, d.i. es widerstreitet der Pflicht. Nichts ist klarer als dieses; aber wahrlich nicht so: dass er seine eigene Glückseligkeit durch die Herausgabe befördere. Denn er könnte z.B. so denken: »Gibst du das bei dir befindliche fremde Gut unaufgefordert den wahren Eigentümern hin, so werden sie dich vermutlich für deine Ehrlichkeit belohnen; oder, geschieht das nicht, so wirst du dir einen ausgebreiteten guten Ruf, der dir sehr einträglich werden kann, erwerben. Aber alles dieses ist sehr ungewiss. Hingegen treten freilich auch manche Bedenklichkeiten ein: Wenn du das Anvertraute unterschlagen wolltest, um dich auf einmal aus deinen bedrängten Umständen zu ziehen, so würdest du, wenn du geschwinden Gebrauch davon machtest, Verdacht auf dich ziehen, wie und durch welche Wege du so bald zu einer Verbesserung deiner Umstände gekommen wärest; wolltest du aber damit langsam zu Werke gehen, so würde die Not mittlerweile so hoch steigen, dass ihr gar nicht mehr abzuhelfen wäre.« – Der Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg und der ist sehr ungewiss; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und Gegengründen herauszuwickeln. Dagegen wenn er sich fragt, was hier Pflicht sei: so ist er über die sich selbst zu gebende Antwort gar nicht verlegen, sondern auf der Stelle gewiss, was er zu tun habe. Ja, er fühlt sogar, wenn der Begriff von Pflicht bei ihm etwas gilt, einen Abscheu, sich auch nur auf den Überschlag von Vorteilen, die ihm aus ihrer Übertretung erwachsen könnten, einzulassen, gleich als ob er hier noch die Wahl habe.
Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werke in 10 Bänden (Weischedel), Darmstadt 1983. 9, S.140f; gekürzt
Arbeitsauftrag:
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Unterstreiche Überlegungen aus Sicht des Utilitarismus in einer, und solche aus Sicht einer Pflichtenethik in einer anderen Farbe.
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Wende das Modell des Utilitarismus auf den vorliegenden Fall an (z.B. in Form eines utilitaristischen Kalküls). Erkläre, worin nach Kant das Problem des Utilitarismus liegt.
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Erkläre, was Kant unter der „Tatsache der Verpflichtung“ versteht.
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