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Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Hin­ter­grün­de

Das in­tui­ti­ve Ur­teil als Grund­vor­aus­set­zung ethi­schen Ur­tei­lens

Ei­ge­nes Den­ken re­flek­tie­ren zu kön­nen ist die Grund­vor­aus­set­zung für ethi­sche Ur­teils­bil­dung. Ohne diese Selbst­re­fle­xi­on kön­nen Über­zeu­gun­gen nicht recht­fer­tigt und über­prüft wer­den. Nach Pia­get ent­steht ein ei­ge­nes Werte- und Nor­men­sys­tem erst mit ca. 12 Jah­ren.1 In­zwi­schen ist man sich si­cher, dass eine ethi­sche Ur­teils­bil­dung schon viel frü­her statt­fin­det.

Der erste und auch nicht vor­schnell ab­zu­wer­ten­de Schritt zur ethi­schen Ur­teils­bil­dung ist das in­tui­ti­ve Ur­teil. Diese ein­fa­che Me­ta­ko­gni­ti­on ist schon im Alter von ca. 4 Jah­ren mög­lich.2 Es ist ein sich schnell voll­zie­hen­des, zum Teil sogar un­be­wuss­tes (in­tui­ti­ves) Ur­teil, wel­ches un­se­re Hand­lungs­wei­se im ge­sam­ten Leben be­stimmt. Oft be­nö­ti­gen wir gar keine kau­sa­len Be­grün­dungs­ket­ten, son­dern zie­hen auf Grund un­se­rer Le­bens­er­fah­run­gen re­la­tiv sta­bi­le, aber nicht star­re As­so­zia­tio­nen zur Be­grün­dung und Her­lei­tung eines Ur­teils heran. Auf der an­de­ren Seite voll­zie­hen auch In­tui­tio­nen un­be­wusst Wege des lo­gi­schen Schlie­ßens und er­gän­zen die­ses an Si­tua­tio­nen, in denen der Ana­lo­gie­schluss z.B. zu ver­schie­de­nen an­nehm­ba­ren Al­ter­na­ti­ven kommt, z.B. durch Rück­griff auf Le­bens­er­fah­rung und Prä­gun­gen kul­tu­rel­ler oder äs­the­ti­scher Art.3
SuS in der Mit­tel­stu­fe nei­gen teil­wei­se stark zu in­tui­ti­ven und damit auf den ers­ten Blick wenig re­flek­tier­ten Ur­tei­len. Aber Bayer warnt hier vor einer vor­schnel­len Ab­wer­tung die­ses in­tui­ti­ven Ur­teils:

„Wenn wir in der Lage sind, Schlüs­se ganz in­tui­tiv und ohne gro­ßen Auf­wand zu zie­hen, warum sol­len wir uns dann auf die um­ständ­li­che For­mu­lie­rung von Ar­gu­men­ten ein­las­sen? Füh­ren un­se­re blitz­ar­tig-in­tui­ti­ven Schlüs­se uns über­haupt je­mals in die Irre? Sind sie dem höl­zer­nen Rä­der­werk ra­tio­na­ler Ar­gu­men­ta­ti­on nicht viel­mehr meis­tens über­le­gen? Wis­sen wir nicht ‚aus dem Bauch‘ viel bes­ser, was wahr und rich­tig ist? […] Und haben wir nicht immer wie­der er­fah­ren, dass wir mit Ar­gu­men­ten meist doch nur das stüt­zen und recht­fer­ti­gen, was wir oh­ne­hin schon längst glau­ben und wol­len? […]

Dazu kom­men kul­tu­rel­le, po­li­ti­sche und so­zia­le Rah­men­be­din­gun­gen, die Ar­gu­men­ta­tio­nen be­ein­flus­sen oder gar lei­ten: In bei­na­he jeder Ge­sell­schaft gibt es Nor­men und Über­zeu­gun­gen, die nicht in Zwei­fel ge­zo­gen wer­den dür­fen. […]

Dar­über hin­aus wird nur der­je­ni­ge ar­gu­men­tie­ren, der nach ent­spre­chen­der Er­zie­hung und Bil­dung fähig und mo­ti­viert ist, Be­haup­tun­gen und Nor­men zu be­grün­den oder an­zu­grei­fen. Wer da­ge­gen ge­lernt hat, sei­nen Vor­teil in Glau­ben, Ge­hor­sam oder Schwei­gen zu su­chen, der wird eben­so wenig zur Ar­gu­men­ta­ti­on nei­gen wie der­je­ni­ge, der sein Leben nach den Wer­te­bot­schaf­ten und Moden der Kon­sum­ge­sell­schaft und ihrer Me­di­en aus­rich­tet.“4

Aus oft stark re­du­zier­ten schrift­li­chen Leis­tun­gen der SuS der Mit­tel­stu­fe soll­te man daher nicht so­fort auf man­geln­de Re­fle­xi­ons- und Ur­teils­fä­hig­keit schlie­ßen. Dies ist nicht zwin­gend die Ur­sa­che. Viel­mehr soll­te den SuS mehr Si­cher­heit bei der Ver­ba­li­sie­rung ihres in­tui­ti­ven Ur­teils ge­ge­ben wer­den. Hilf­reich ist es den SuS ein Vor­ge­hens­sche­ma für das ethi­sche Ur­tei­len als „hilf­rei­ches Ge­län­der“ an die Hand zu geben.

Die­ses Sche­ma bie­tet zu­sätz­lich einen zwei­ten Vor­teil. In­tui­ti­ve Pro­zes­se un­ter­lie­gen einer emo­tio­na­len und af­fek­ti­ven Stör­bar­keit, und es gilt sich die­ser be­wusst zu wer­den und sie zu re­du­zie­ren.5 Mit die­sem Sche­ma ist es mög­lich die in­tui­tiv ab­lau­fen­den Pro­zes­se einer Re­fle­xi­ons­pha­se zu un­ter­zie­hen.

Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Vor­aus­set­zun­gen

In der Struk­tur der Be­grün­dung (ethi­scher) Pro­blem­fäl­le un­ter­lie­gen die SuS al­ters­ge­mä­ßen ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­schen Be­son­der­hei­ten. Dabei be­steht in der For­schung ak­tu­ell noch Un­ei­nig­keit, ob es sich beim ethi­schen Ur­tei­len um einen do­mä­nen­spe­zi­fi­schen oder einen do­mä­nen­über­grei­fen­den As­pekt han­delt.

Der Nut­zen der do­mä­nen­über­grei­fen­den Theo­ri­en liegt in einer kla­ren Stu­fen­zu­wei­sung und damit einer kla­ren Mög­lich­keit der Lern­stands­er­he­bung. Da der ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Stand sowie so­zia­le Fak­to­ren die ethi­sche Ur­teils­bil­dung do­mi­nie­ren, ist es wich­tig, nicht die Be­grün­dungs­be­zü­ge, die ja ent­wick­lungs­ab­hän­gig sind, son­dern rein die Ar­gu­men­ta­ti­ons­struk­tur zu be­wer­ten. Be­züg­lich der Be­ur­tei­lung und Mess­bar­keit einer Ar­gu­men­ta­ti­ons­fer­tig­keit sei hier nur ex­em­pla­risch auf die für den Un­ter­richt re­le­van­ten Ar­gu­men­ta­ti­ons- und Be­grün­dungs­stu­fen nach Kohl­berg ver­wie­sen:6

Prä­kon­ven­tio­nell

Stufe I: Ori­en­tie­rung bei der Be­ur­tei­lung an Stra­fe und Ge­hor­sam auf dem Hin­ter­grund der Ver­mei­dung von Sank­tio­nen [ego­zen­tri­sche Per­spek­ti­ve].

Stufe II: Ori­en­tie­rung an Be­loh­nun­gen und Ge­fäl­lig­kei­ten („wie du mir – so ich dir“) sowie Kon­for­mi­tät im Sinne eines nai­ven in­stru­men­tel­len He­do­nis­mus [ab­glei­chen­de Per­spek­ti­ve].

Kon­ven­tio­nell

Stufe III: Ori­en­tie­rung an guten Be­zie­hun­gen, Ver­mei­dung von Miss­bil­li­gung und Ab­nei­gung (z.B. der Peer Group oder des Leh­rers) bei der Suche nach An­er­ken­nung [Per­spek­ti­ve des Ge­fal­lens].

Stufe IV: Ori­en­tie­rung an der Auf­recht­er­hal­tung von Re­geln, Ge­set­zen und Au­to­ri­tä­ten, um Schuld­ge­füh­le oder Kri­tik zu ver­mei­den [Per­spek­ti­ve des so­zia­len Sys­tems].

Post­kon­ven­tio­nell

Stufe V/ VI: Ori­en­tie­rung aus dem Blick­win­kel eines „Ver­tra­ges“/ all­ge­mei­nen Rech­te­sys­tems bzw. einer uni­ver­sel­len Moral [Per­spek­ti­ve aller ra­tio­na­len Sub­jek­te]. Diese Stu­fen fal­len je­doch in Klas­se 10 und in der Kurs­stu­fe mit < 3% kaum ins Ge­wicht.

Ins­ge­samt kann je­doch durch ge­schick­te phi­lo­so­phie­ren­de / theo­lo­gi­sie­ren­de Fra­ge­stel­lun­gen die nächs­te Stufe in die­ser do­mä­nen­über­grei­fen­den Theo­rie an­ge­bahnt wer­den. Aus die­sem Grun­de ist es für einen län­ger­fris­ti­gen Er­folg hin­sicht­lich des auf­bau­en­den Ler­nens hilf­reich, dem häu­fig zu­grun­de­lie­gen­den in­tui­ti­ven und un­ter­be­wuss­ten Ur­teil zu einer Struk­tur zu ver­hel­fen, auf die zu­rück­ge­kom­men wer­den kann (aber nicht muss) und an die spä­ter an­ge­knüpft wer­den kann.

Die ko­gni­ti­ve Ak­ti­vi­tät und Be­reit­schaft ist ein­deu­tig vom Vor­wis­sen der Do­mä­nen ab­hän­gig. Den­noch kön­nen do­mä­nen­los­ge­lös­te Sche­ma­ta do­mä­nen­spe­zi­fisch ge­nutzt wer­den. Die Her­aus­for­de­rung an die Päd­ago­gik und Di­dak­tik ist es damit, die be­reits vor­han­de­nen Fä­hig­kei­ten und Fer­tig­kei­ten do­mä­nen­spe­zi­fisch zu stüt­zen und neue Fer­tig­kei­ten an­zu­le­gen (z. B. die ge­ziel­te Ver­wen­dung von Bei­spie­len, Be­le­gen, etc. zur Stüt­zung von Ar­gu­men­ten).9 Das be­reits oben auf­ge­führ­te „Ge­län­der“ kann auch SuS do­mä­nen­spe­zi­fisch zur Seite ge­stellt wer­den und sie durch ge­ziel­te An­wen­dung in kon­kre­ten Fall­bei­spie­len im Un­ter­richt stär­ken. Zu­gleich hilft es Fer­tig­kei­ten an­zu­le­gen, wel­che in der Regel noch nicht vor­han­den sind.

 

1 Vgl. Kuhn, D.: ar­gu­ment, p. 17, 214.

2 Vgl. Berk, L.: Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie, S. 318f. Ab 2 Jah­ren kön­nen Kin­der Emo­tio­nen und Wün­sche an­de­rer er­ken­nen und sind sich ei­ge­nen Den­kens be­wusst. Zwi­schen drei und vier Jah­ren be­gin­nen sie diese zu re­flek­tie­ren. Ab vier Jah­ren ver­mö­gen sie auch, fal­sche Denk­hy­po­the­sen zu ver­ba­li­sie­ren und Fol­gen zu er­ken­nen. Dabei ist zum einen eine Kor­re­la­ti­on von Me­ta­re­fle­xi­on und Sprach­ver­mö­gen nach­ge­wie­sen, zum an­de­ren gibt es einen Zu­sam­men­hang zwi­schen der Un­ter­drü­ckung ei­ge­ner Af­fek­te zu dem Ver­ständ­nis für Fehl­an­nah­men, der Grund­la­ge für selbst­re­flek­tier­tes Den­ken und Ur­tei­len (ebd., S. 319).

3 Bayer, K.: Ar­gu­ment, S. 21ff.

4 Ebd., S.19f.

5 Vgl. ebd., S. 28ff.

6 Vgl. Bütt­ner, G.; Die­te­rich, V.-J.: Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie, S. 19.

8 Vgl. Bütt­ner, G.; Die­te­rich, V.-J.: Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie in der Re­li­gi­ons­päd­ago­gik, S. 25-36. Ob­wohl viel Hoff­nung in do­mä­nen­spe­zi­fi­sche An­sät­ze und Er­klä­rungs­ver­su­che bei der Ar­gu­men­ta­ti­ons- und Ur­teils­fä­hig­keit ge­legt wurde, so ste­hen do­ku­men­tier­te, un­wi­der­ruf­li­che Be­wei­se für ent­wick­lungs­ab­hän­gi­ge „Wech­sel“ im ko­gni­ti­ven Den­ken noch immer aus. Wäh­rend man­che Ver­tre­ter (so z.B. Car­vey und Keil) noch auf die Mög­lich­keit von do­mä­nen­über­grei­fen­den Stra­te­gi­en hin­wei­sen, so schei­nen „cross-do­main co­gni­ti­ve stra­te­gies“ nach neue­ren For­schun­gen nicht nur un­be­deu­tend zu sein, son­dern über­haupt nicht zu exis­tie­ren. Vgl. hier­zu Kuhn, D.: ar­gu­ment, p. 278f.

9 Vgl. ebd., p. 280f, 291f.

 

Ethi­sche Ur­teils­bil­dung I: Vor­be­mer­kun­gen: Her­un­ter­la­den [docx][46 KB]

 

Wei­ter zu Ethi­sches Ar­gu­men­tie­ren als Her­aus­for­de­rung