Entwicklungsstand der SuS in der Klassenstufe 5/6
2. Gegenstandsbezogene Entwicklungspsychologie
2.1 Domänenspezifische Entwicklungspsychologie
2.1.1 Grundlagen
Mit dem Begriff Domänenspezifische Entwicklungspsychologie , der in den neueren angelsächsischen Diskussionen zur Kognitionsforschung geprägt wurde, ist die Erkenntnis impliziert, dass kognitive Entwicklung nicht über alle Wissensdimensionen gleichzeitig stattfindet, sondern abhängig ist vom Wissen über diesen Sachverhalt.
In der kognitivistischen Entwicklungspsychologie geht man von einem Nebeneinander von vier „privilegierten Wissensdomänen“ / Grunddomänen (core domains) aus, zu denen bereits im Kleinkindalter Interesse gezeigt wird und Annahmen getroffen werden:
- Physik (z.B. Erfahrung der Schwerkraft)
- Biologie (z.B. Erfahrung belebt – unbelebt)
- Psychologie (z.B. Erfahrung von Wünschen und Unterscheidung zwischen Wunsch und Realität)
- Welt der Zahlen.
Dabei folgt jede dieser Grunddomänen wieder einer eigenen „Entwicklung“. 1 Aus naiven Theorien entstehen komplexe Denkmuster. Außerdem treten neben diesen vier Core Domains im Laufe der Entwicklung weitere, sogenannte nichtprivilegierte Wissensdomänen, wie z.B. Schulbiologie, etc. auf.
Ob es auch eine Wissensdomäne Religion gibt, die sich wieder in eine Unterdomäne „Christologie“, „Anthropologie“, „Gotteslehre“, … unterteilen könnte, ist noch umstritten. 2 Jedoch, so P. Harris, sind Kinder bereits ab 4 Jahren fähig, metaphysisch zu spekulieren (z.B. „Warum ist etwas so, wie es ist – und nicht anders?“ sowie „Was wäre, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht gegeben wären?“), sie können einfache Kausalketten bilden und die Frage nach dem Verursacher auf der Basis magischen oder religiösen Denkens beantworten. 3 Angefangen bei Grunderfahrungen des Säuglings mit der Mutter, die religiös gedeutet werden, sowie symbolische Urerfahrungen eines Oben und Unten nehmen die Kinder die Welt zunächst „beseelt“ wahr. Mit der Fähigkeit zur Abstraktion und Metakognition entwickelt sich aus dieser numinosen Vorstellung ein Verständnis des Übernatürlichen bis hin bei Erwachsenen zu einem symbolisch ausgerichteten Verständnis. 4
Spätestens mit Eintritt in die Grundschule systematisiert sich das Wissen dann bei entsprechender Unterstützung zu einer Kindertheologie .
2.1.2 Bedeutung für den Religionsunterricht
Kinder können bereits im Grundschulalter zu kleinen „Experten“ in einzelnen Wissensbereichen werden, indem sie z.B. durch eigenen Versuch und Irrtum, durch zahlreiche Juniorsachbücher und Informationen von Erwachsenen sich einen Wissensbereich aneignen, z.B. über Dinosaurier. Dort sind sie Erwachsenen oft überlegen und besitzen schon früher die Fähigkeit zur Abstraktion in diesem Bereich. Es zeigt sich hier also eine zunehmende entwicklungspsychologische Heterogenität.
In den einzelnen Domänen kann sich das Denken der Jugendlichen auch widersprechen, was eine klare Grenzziehung verhindert. Dieser Widerspruch ist z.B. beim Umgang mit dem „Supranaturalen“ ersichtlich: Obwohl der Rückgriff auf übernatürliche Wirkursachen aus dem Regelwerk der Naturwissenschaften verschwunden ist und als irreal gilt, wird das „Supranaturale“ unabhängig vom Alter in Einzelsituationen wieder als möglich und damit als real angesehen (viele Menschen hoffen z.B. in Extremsituationen auf übernatürliche Hilfe). Es zeigt sich, dass insgesamt „mit dem Lebensalter auch der Rückgriff auf supranaturale Erklärungen zunimmt.“ 5
Damit lässt das Modell der Domänen im Gegensatz zu den Stufenmodellen auch multiple, sich z.T. widersprechende Deutungsmuster zu, ohne dabei die Fähigkeit zum komplementären Denken voraussetzen zu müssen.
Am Beispiel von widersprechenden Deutungen von Schöpfung und Evolution zeigt es sich, „dass es den meisten Menschen wenig Probleme bereitet, je nach Situation auf unterschiedliche Argumentationen zurückzugreifen oder diese im Sinne der Hybridisierung zu mischen (z.B. Gott hat die Menschen geschaffen, die Tiere sind durch die Evolution entstanden). […] [Dabei sehen viele] das Nebeneinander dieser Deutungen eher als Chance, der Komplexität der Phänomene gerecht zu werden.“ 6
Stile der religiösen Entwicklung
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1
Vgl. Lohaus, A./ Vierhaus, M.: Entwicklungspsychologie, 37. Noch in Diskussion befindet sich die Frage, ob die Strukturen „angeboren“ oder „erlernt“ sind, ebenso, ob die Entwicklungen in den Kernbereichen jeweils kontinuierlich oder durch Umstrukturierung (d.h. stufenweise) erfolgen.
2
Dagegen z.B. Boyer, P./ Sheila, W.: Religious Concepts, 151. Evtl. ist hier auch von einer eigenen Domäne („magische Vorstellung“) zu reden, deren Annahmen der „naiven Psychologie“ widersprechen. Vgl. Büttner, G./ Dieterich, V.-J.: Entwicklungspsychologie, S. 31.45.
3
Vgl. Harris, P.: On Not Falling Down to Earth, S. 157ff. Evtl. ist hier auch von einer eigenen Domäne („magische Vorstellung“) zu reden, deren Annahmen der „naiven Psychologie“ widersprechen.
4
Büttners Ausführung über das Wunder und Gebetsverständnis bei Kindern. (Büttner, G./ Dieterich, V.-J.: Entwicklungspsychologie, S. 52. In der 5./6. Klasse steigt der Prozentsatz hier von ca 10 auf 20 Prozent).
5
Büttners Ausführung über das Wunder und Gebetsverständnis bei Kindern. (Büttner, G./ Dieterich, V.-J.: Entwicklungspsychologie, S. 52. In der 5./6. Klasse steigt der Prozentsatz hier von ca 10 auf 20 Prozent).
6
Büttner, G./ Dieterich, V.-J.: Entwicklungspsychologie, S. 53.