Christliche Ethik
Im Hinblick auf den Religionsunterricht ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, sich vor Augen zu führen, was denn nun den Unterschied ausmacht, ob ich philosophische Ethik betreibe, also Moral aus philosophischer Perspektive reflektiere, oder ob ich aus einer christlichen Perspektive heraus eine theologische Ethik formuliere. Bislang war es im Religionsunterricht oft so, dass man die christliche Ethik unter dem Mantel einer allgemein-philosophischen Ethik gewissermaßen als ein drittes Modell neben den Klassikern Utilitarismus und Pflichtenethik betrachtet hat. Es ist jedoch fraglich, ob dies der richtige Zugang zu einer christlich reflektierten theologischen Ethik sein kann. Dabei ist es notwendig, die Begriffe wie „Werte“, „Moral“, „Normen“ oder „Ethik“ sowohl auf die philosophisch und die theologisch begründete Ethik anzuwenden, sie inhaltlich zu füllen und auf diese Weise beide Disziplinen miteinander ins Gespräch zu bringen. Allein die Begrifflichkeiten verdanken sich der philosophischen Tradition und wurden dann auch auf die christliche Ethik angewandt. Beide Zugänge begründen ihr Vorgehen und ihr Ziel aus unterschiedlichen Perspektiven: Während eine philosophisch orientierte Ethik sich vor allem an dem Begriff des Guten orientiert, geht die christliche Ethik bei ihrer Begründung auf Jesus Christus zurück und fragt nach seinem Wirken, aus dem sich für Christen eine Orientierung für ihr eigenes Handeln ableiten lässt. Doch so einfach das klingt, so komplex ist auch dieses Vorgehen im jeweiligen Fall. Für die christliche Ethik gilt, dass es auch bei ihr gewaltige Unterschiede gibt. Klar ist jedoch, dass theologische Ethik sich nicht einfach darauf beschränken kann, biblische Normen wie den Dekalog oder ethische Normen der Bergpredigt in eine ethische Reflexion einzubeziehen.
Wir folgen einer Linie theologischer Ethik, die darüber hinaus nach der christlichen Hoffnung sowie dem christlichen Menschenbild fragt. Dabei kann man dies vielleicht, wie Huber dies tut, daran festmachen, was Kant als die drei Grundfragen des Philosophen formuliert hat: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“1 Natürlich sei die zweite Frage die Frage, mit der sich Ethik zunächst beschäftige, aber „die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Tun ist nicht nur von dem Wissen über Handlungsbedingungen und Handlungsfolgen abhängig; sie ist auch abhängig von Handlungsmotiven, die unter anderem durch unsere Hoffnungen geprägt sind. Und schließlich ist sie bezogen auf das Menschenbild, von dem wir uns leiten lassen.“2 Versteht man nun die Notwendigkeit von Ethik als Folge der Freiheit (Tiere brauchen keine Ethik, da ihr Handeln unfrei ist), so wird man gut daran tun, im Kontext theologischer Ethik darüber zu reflektieren, was Freiheit im Kontext protestantischer Theologie im Kern ist: Eine Gabe Gottes, die in der Liebe konkret wird, so Huber.3 Bonhoeffer spitzt dies konsequent christologisch zu mit der Aussage, dass die Frage nach dem Guten nur in Christus eine Antwort finde: Der Ursprung der christlichen Ethik ist nicht die Wirklichkeit des eigenen Ich, nicht die Wirklichkeit der Welt, aber auch nicht die Wirklichkeit der Normen und Werte, sondern die Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung in Jesus Christus.“4 Demgemäß bedeutet ein gutes Leben zu führen, dieser Wirklichkeit Gottes gemäß zu leben. Davon ausgehend kann man mit Härle folgende Grundsätze christlicher Ethik formulieren:
- die Welt ist Gottes Schöpfung, die dem Menschen zur verantwortlichen Gestaltung anvertraut ist
- der Mensch ist zum Ebenbild Gottes geschaffen und hat daher eine unantastbare Würde, die in Gottes Beziehung zu ihm gründet
- die ethische Forderung an den Menschen erreicht ihren Höhepunkt im Doppelgebot der Liebe
- die ethisch angemessene Motivation zum Tun des Guten ist konsekutiver Art, nämlich Dankbarkeit. 5
Dabei ist jedoch entscheidend, dass die Liebe nicht einfach im Sinne einer Pflichtenethik als oberste Pflicht gedacht wird. Vielmehr ist die Liebe zunächst einmal das, was der Mensch im Glauben empfängt und das ihn überhaupt erst befreit zur Nächstenliebe und damit zur Übernahme von Verantwortung. Es bin nicht ich selbst, der durch sein Handeln das eigene Gutsein gewissermaßen erzeugt. Diese Last ist im Christusgeschehen von mir genommen. Ich bin als Sünder, der ich bleibe, gerecht gesprochen. Mein Handeln ist lediglich Antwort auf das, was mir im Glauben bereits widerfahren ist. Damit ist aber auch klar, dass für den Christen die Liebe nicht einfach ein Wert unter vielen ist, sondern eine Erfahrung, die den Menschen in die Verantwortung stellt, die erfahrene Liebe in der Nächstenliebe weiterzugeben.
Die Frage, was denn nun diese Nächstenliebe ausmacht führt in die Evangelien: Sie bedeutet Sanftmut, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit und Feindesliebe (Mt 5-7). Aber dies sind zunächst einmal einfach weitere an die Liebe anschlussfähige Werte. Aber genau um ein solches Prinzipiengebäude aus zahlreichen Werten geht es dem Jesus der Evangelien nicht. Die Liebe will gelebte Liebe sein, die sich dem Nächsten zuwendet. Jesus stellt uns dafür das Beispiel des Samariters vor Augen (Lk 10,25-37). In der Zuwendung öffnet sich der Nächste dem Hilfsbedürftigen, setzt sich der Situation aus und lässt sich vom Leid berühren. Dementsprechend spielt gerade bei dem markinischen Jesus das Berührtwerden eine entscheidende Rolle. So wie Jesus vom Leid der Menschen sich berühren lässt, so heilt er auch durch Berühren. Immer wieder wird dort deutlich, dass es darum geht, sich im Herzen berühren zu lassen und dieses nicht zu verhärten. So wird deutlich, dass eine an dem biblischen Jesus orientierte Ethik kein Prinzip über dieses sich Berühren lassen stellen kann. Die Liebe darf nicht einfach wieder zu einer neuen Pflicht erhoben werden. Der Nächste ist es, dem ich in der Liebe gegenüberstehe – nicht unter der Herrschaft eines Prinzips, sondern aus einer sich selbst aussetzenden, sich selbst gefährdenden Liebe heraus, die sich festmacht in der Liebe Gottes zum Menschen. Sie ist deshalb kein Prinzip, weil sie in jedem Nächsten neu gefunden werden muss, indem ich ihm selbst zum Nächsten werde.
1 Wolfgang Huber: Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod, C.H. Beck, München 22015. S.10.
2 Ebd.
3 Ebd. S.14f.
4 Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hrsg. v. Eberhard Bethge, Chr. Kaiser Verlag, München 81975 (1949). S.202.
5 Härle, Ethik, , Berlin/New York, 2011, S.135.
Christliche Ethik – Enführung: Herunterladen [docx][20 KB]
Weiter zu Sich berühren lassen