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Christ­li­che Ethik

Sich be­rüh­ren las­sen…

Wird heute die Frage nach dem „Zen­trum christ­li­cher Ethik“ ge­stellt, liegt die Ant­wort schein­bar leicht auf der Hand, ist doch allen klar, dass die Berg­pre­digt (Mt 5-7) von Sanft­mut, Ge­rech­tig­keit und Barm­her­zig­keit, von Fried­fer­tig­keit und Fein­des­lie­be spricht. So wer­den wir Chris­tin­nen und Chris­ten an­de­re nicht ver­ur­tei­len - wir beten und ver­ge­ben. Gleich­zei­tig sol­len und wer­den wir „Salz und Licht der Welt“ sein, uns en­ga­gie­ren. Und dies nicht für das ei­ge­ne Essen, den „Mam­mon“, das Heu in der Scheu­ne, son­dern für die an­de­ren, so, wie wir selbst gerne hät­ten, dass die sich um uns küm­mern, wenn es nötig ist.

Ein be­rühm­tes Bei­spiel für diese Ethik ist das Ver­hal­ten des Sa­ma­ri­ters. Des­sen sprich­wört­li­che Barm­her­zig­keit (Lk 10,25-37) führt dazu, dass er dem Hilfs­be­dürf­ti­gen wirk­lich hilft und nicht ein­fach vor­bei­geht, weil keine Zeit ist oder wich­ti­ge­re Ge­schäf­te drän­gen.

Im Mar­ku­sevan­ge­li­um stellt ein Pha­ri­sä­er die Frage nach dem Zen­trum der Ethik, dem wich­tigs­ten Gebot von allen (Mk 12,28) – und Jesus ant­wor­tet, es sei zum einen die Liebe aus vol­lem Her­zen zu Gott, dem al­lei­ni­gen Herrn, zum an­de­ren sei es die Liebe zum Nächs­ten, die so groß sein solle wie die zu sich selbst (Mk 12,31). Beide Male ist die Ant­wort die Liebe, und damit eine abs­trak­te Größe, die sich einer ge­nau­en De­fi­ni­ti­on und kla­ren Re­ge­lung ent­zieht.

Zur ge­leb­ten und ge­zeig­ten Liebe ge­hört immer ein Sich-An­ver­trau­en, also ein Sich-Öff­nen hin zum An­de­ren und damit ein Sich-Aus­set­zen, das Of­fen­ba­ren des ei­ge­nen Be­rührt-Seins. Dies zeigt sich in Jesus, der sich be­rüh­ren lässt; der sich dort an­spre­chen lässt, wo in der an­ti­ken Welt das Ge­fühl ver­or­tet wird: in den Ein­ge­wei­den (vgl. 1,41 // 6,34 // 8,2 // 9,22 ) und der zu hei­len und zu hel­fen be­ginnt.

Jesu Hei­len ge­schieht nun wie­der­um durch (phy­si­sche) Be­rüh­rung (1,31 // 5,23 // 5,41 // 7,33 // 8,22 // 10,13); er selbst wird immer wie­der von an­de­ren be­rührt (3,10 // 5,27.28 // 7,56), die ge­heilt wer­den wol­len. Jesus scheint eine Art  „Be­we­gung des Her­zens“ aus­ge­zeich­net zu haben; er ver­weist immer wie­der po­si­tiv auf das Herz (11,23 // 12,30.33) und be­schwert sich über die ver­här­te­ten Her­zen der an­de­ren (3,5 // 6,52 // 7,6 // 8,17 // 10,5). Die Jesus-Be­geg­nung führt bei an­de­ren zu einem Ver­lust von Sta­bi­li­tä­ten und Si­cher­hei­ten, zu einem Zit­tern (2,12 // 5,42 // 6,51 // 16,8).

Die Liebe be­wirkt also eine Be­rüh­rung, eine Er­schüt­te­rung, eine Ver­än­de­rung - so weit, dass sich be­ste­hen­de Ver­hält­nis­se än­dern und schein­bar si­che­re Ge­set­ze und Ein­rich­tun­gen nicht mehr gel­ten: So wirft z.B. Jesus die Händ­ler aus dem Tem­pel (Mk 11,15), seine Jün­ger bre­chen eta­blier­te Ge­set­ze, rau­fen die Ähren am Sab­bat (Mk 2,23), wa­schen sich vor dem Essen nicht die Hände (Mk 7,2) und be­kom­men dafür Ärger mit den ge­set­zes­ver­bun­de­nen Pha­ri­sä­ern. Die Liebe, die Be­rüh­rung, „ver-rückt“ die eta­blier­ten Ord­nun­gen. Selbst schein­bar „unver-rück­ba­re“ Ord­nun­gen wie die Fa­mi­lie ge­ra­ten in Be­we­gung: Jesus selbst wird von sei­nen Ver­wand­ten als „ver­rückt“ (3,21) wahr­ge­nom­men; er de­kla­riert seine Fa­mi­lie um; seine Ver­wand­ten sind die, die Got­tes Wil­len tun (Mk 3,31-35).

Jesus gibt sich voll hin und setzt sich mit sei­nem gan­zen Kör­per ein (vgl. das Abend­mahl: „Neh­met, das ist mein Leib...“ Mk 14,22); er schielt weder auf welt­li­chen noch auf jen­sei­ti­gen Er­folg oder Sta­tus – im Ge­gen­teil, er lebt Sta­tus­ver­zicht und Nied­rig­keit, ver­steht sich selbst als Skla­ven und Die­ner, der sein Leben zur Be­frei­ung der an­de­ren gibt (Mk 10,45).

Le­bens-Hin­ga­be und Le­bens-Ver­lust las­sen sich mit Mk 8,35 als De­fi­ni­ti­on der Nach­fol­ge Jesu ver­ste­hen, die als sol­che ge­ra­de das Leben neu und an­ders schenkt: als das ei­ge­ne an­de­re - „wer sein Leben ver­liert um mei­net­wil­len und um des Evan­ge­li­ums wil­len, der wird's er­hal­ten“. Der Le­bens-Ver­lust bzw. das „Sich-Ver­leug­nen“ (Mk 8,34) las­sen sich le­bens­welt­lich als Rück­nah­me des ei­ge­nen Ichs, als Ego­is­mus-Ver­zicht und Hin­ga­be des Ei­ge­nen ver­ste­hen (vgl. auch die Witwe in Mk 12,41-44).

An­er­ken­nung und Ver­ant­wor­tung für den An­de­ren be­deu­ten: Ich lasse mich durch das So-Sein des An­de­ren, durch sein Schick­sal, sein An­ge­sicht be­rüh­ren und werde ihm/ihr damit un­end­lich ver­ant­wort­lich. Der Zu­spruch Got­tes als Zu­spruch vom (ganz) An­de­ren her be­deu­tet diese grund­sätz­li­che, voll­stän­di­ge An­nah­me als ge­lieb­tes Kind, als Eben­bild Got­tes. Damit aber ge­nau­so den An­spruch an mich, diese Nächs­ten­lie­be wei­ter­zu­tra­gen; hier geht es mir nicht mehr um mei­nen Sta­tus oder mei­nen Vor­teil, son­dern darum, den an­de­ren in sei­nem An­ders­sein zu schüt­zen. Da mich ex­pli­zit das An­ders­sein des An­de­ren her­aus­for­dert, ver­pflich­tet und be­rührt, kann nicht mehr von einem mög­li­chen Ver­ste­hen des An­de­ren die Rede sein, son­dern viel­mehr von mei­ner Er­schüt­te­rung und mei­nem Zit­tern. Eine sol­che christ­li­che Ethik kann somit eine „Ethik der Schwach­heit“ ge­nannt wer­den, da sie nicht wis­sen, er­klä­ren oder klas­si­fi­zie­ren kann, son­dern in ihrer Liebe aus­ge­setzt und aus­ge­lie­fert, im ei­gent­li­chen Sinne nackt (vgl. Mk 14,52) ist – das heißt, sie setzt kein all­ge­mei­nes Prin­zip über die Si­tua­ti­on, son­dern muss je im An­ge­sicht des Nächs­ten neu ge­fun­den wer­den.

 

Christ­li­che Ethik: Her­un­ter­la­den [docx][19 KB]

 

Wei­ter zu Fall­bei­spie­le