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Über­le­gun­gen

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


Die ethi­sche Fal­l­ana­ly­se eig­net sich vor­züg­lich als Me­tho­de der ethi­schen Ur­teils­bil­dung , wes­we­gen sie auch im baden-würt­tem­ber­gi­schen Bil­dungs­plan seit 2004 im Kom­pe­tenz­bün­del mo­ra­lisch-ethi­sches Ar­gu­men­tie­ren ver­an­kert ist.

Die Ur­teils­bil­dung er­folgt dabei so­wohl im Hin­blick auf kon­kret vor­lie­gen­de ein­zel­ne Pro­blem­fäl­le der Moral als auch im Hin­blick auf die Taug­lich­keit der bei der Be­ur­tei­lung her­an­ge­zo­ge­nen mo­ral­phi­lo­so­phi­schen Stand­punk­te. In­so­fern ist die Me­tho­de der Fal­l­ana­ly­se ein pro­ba­tes Mit­tel zur Er­zeu­gung eines Über­le­gungs­gleich­ge­wichts (J. Rawls) zwi­schen ei­ge­nen mo­ra­li­schen In­tui­tio­nen und all­ge­mei­nen ethi­schen Prin­zi­pi­en und Theo­ri­en (vgl. dazu ins­bes. H. Fran­zen, 2009,  S. 4).

Ein wei­te­res Plus der Me­tho­de der Fal­l­ana­ly­se ist, dass sie weit­ge­hend text­freie Un­ter­richts­for­men er­mög­licht, darin äh­nelt sie der Di­lem­ma-Dis­kus­si­on.

Eine dif­fe­ren­zier­te Be­schrei­bung des Auf­baus der ethi­schen Ur­teils­kom­pe­tenz und eines Ras­ters samt In­di­ka­to­ren hat A. Rösch (A. Rösch, 2009, S. 284 Kom­pe­tenz­ras­ter Ethi­sche Ur­teils­fä­hig­keit) vor­ge­legt, die Fal­l­ana­ly­se wird dort nicht ex­pli­zit er­wähnt; das Kom­pe­tenz­ras­ter der ethi­schen Ur­teils­kom­pe­tenz ent­hält aber In­di­ka­to­ren für eine kri­te­ri­en­ge­stütz­te Be­wer­tung von durch­ge­führ­ten Fal­l­ana­ly­se-Schrit­ten.

Bei der Durch­füh­rung von ethi­schen Fal­l­ana­ly­se wer­den prak­tisch Wahr­neh­mungs- und Ver­ste­hens-, Ana­ly­se- und Dar­stel­lungs-, Ar­gu­men­ta­ti­ons- und Ab­wä­gungs-, Ent­schei­dungs- und ggf. Hand­lungs­fä­hig­kei­ten ge­för­dert. 

Ge­gen­über Di­lem­ma-Fäl­len haben Fal­l­ana­ly­sen, wie sie hier ver­stan­den wer­den, den di­dak­ti­schen Vor­zug rea­li­täts­nä­her zu sein und eine of­fe­ne­re Form der Pro­blem­lö­sung zu er­mög­li­chen; au­ßer­dem sind sie mo­del­lier­bar zu Un­ter­richts­se­quen­zen mit wei­te­ren Re­cher­che-Schrit­ten als auch zu Prü­fungs­for­ma­ten.

Nicht um­sonst wer­den in un­ter­schied­li­chen Dis­zi­pli­nen case-stu­dies zu Lehr­zwe­cken ein­ge­setzt (z.B. Me­di­zin, Öko­no­mie) und in der Mo­ral­phi­lo­so­phie ist die Me­tho­de der Ka­su­is­tik vor ei­ni­ger Zeit von Ste­phen Toul­min re­ha­bi­li­tiert wor­den.( The Abuse of Ca­su­is­try: A His­to­ry of Moral Re­a­so­n­ing. 1988)

Dass ethi­sche Ur­teils­bil­dung in wie­der­hol­ter Aus­ein­an­der­set­zung mit kon­kre­ten Pro­blem­fäl­len er­folgt, hat nicht nur der Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­ge L. Kohl­berg ge­se­hen, son­dern auch die gro­ßen Mo­ral­phi­lo­so­phen:

Be­griff­lich und rein durch Ver­nunft scharf fest­zu­le­gen, bei wel­chem Punkt und bei wel­chem Grad der Ab­wei­chung [von der rich­ti­gen Linie nach der Seite des Zu­viel oder des Zu­we­nig] der Tadel ein­zu­set­zen hat, das ist nicht leicht – wie ja bei allen Ge­gen­stän­den der Er­fah­rung. Er­schei­nun­gen wie die ge­nann­ten ge­hö­ren zum Be­reich der Ein­zel­tat­sa­chen: und da liegt das [ethi­sche] Ur­teil in der Wahr­neh­mung.

Aris­to­te­les: Ni­ko­ma­chi­sche Ethik , II,9 (1109b)

Nicht nur die Ur­teils­kraft, son­dern auch die Ver­nunft und zwar in der Theo­rie sei­ner Pflich­ten als in der Pra­xis zu üben, das ge­hört be­son­ders zur Ethik als Me­tho­den­leh­re der mo­ra­lisch-prak­ti­schen Ver­nunft.

Im­ma­nu­el Kant: Me­ta­phy­sik der Sit­ten  S. 567 u. 543 f

Für die Theo­rie der Moral ist die beste Ana­ly­se des Ge­rech­tig­keits­sin­nes eines Men­schen nicht die, die sei­nen Ur­tei­len ent­spricht, bevor er sich mit ir­gend­ei­ner Ge­rech­tig­keits­vor­stel­lung aus­ein­an­der­ge­setzt hat, son­dern viel­mehr die sei­ner Ur­tei­le im Über­le­gungs­gleich­ge­wicht. Die­ser Zu­stand tritt [...] ein, wenn je­mand ver­schie­de­ne ihm vor­ge­leg­te Vor­stel­lun­gen ge­prüft hat und ent­we­der seine Ur­tei­le einer von ihnen an­ge­passt hat oder aber an sei­nen an­fäng­li­chen Über­zeu­gun­gen (und der ihnen ent­spre­chen­den Vor­stel­lung) fest­hält.

John Rawls: Eine Theo­rie der Ge­rech­tig­keit , 1979, S 68 (Ab­schnitt: Ei­ni­ge Be­mer­kun­gen zur Theo­rie der Moral )

Tu­gend­pflich­ten haben einen Spiel­raum der An­wen­dung (la­ti­tu­di­nem) und, was zu tun sei, kann nur von der Ur­teils­kraft, nach Re­geln der Klug­heit (den prag­ma­ti­schen), nicht denen der Sitt­lich­keit (den mo­ra­li­schen), d.i. nicht als enge (of­fi­ci­um stric­tum), son­dern nur als weite Pflicht (of­fi­ci­um latum) ent­schie­den wer­den .

Die Ethik [...] führt wegen des Spiel­raums, den sie ihren un­voll­kom­me­nen Pflich­ten ver­stat­tet, un­ver­meid­lich dahin, zu Fra­gen, wel­che die Ur­teils­kraft auf­for­dern aus­zu­ma­chen, wie eine Ma­xi­me in be­son­de­ren Fäl­len an­zu­wen­den sei , und zwar so: dass diese wie­der­um eine (un­ter­ge­ord­ne­te) Ma­xi­me an die Hand gebe (wo immer wie­der­um nach einem Prin­zip der An­wen­dung die­ser auf vor­kom­men­de Fälle ge­fragt wer­den kann); und so gerät sie in eine Ka­su­is­tik, von wel­cher die Rechts­leh­re nichts weiß.

Die Ka­su­is­tik ist also weder eine Wis­sen­schaft, noch ein Teil der­sel­ben [...] und ist nicht so wohl Lehre, wie etwas ge­fun­den, son­dern Übung, wie die Wahr­heit solle ge­sucht wer­den [...].
Im­ma­nu­el Kant: MS S. 567 u. 543 f

Wenn­gleich Natur und Um­welt u.a. durch glo­ba­le Ver­städ­te­rung, ex­zes­siv kon­su­mis­ti­schen Le­bens­stil, total me­dia­ti­sier­ter Le­bens­welt und raub­tier­ka­pi­ta­lis­ti­sche Wirt­schafts­struk­tu­ren ge­fähr­de­ter sind denn je, sind weder ein si­gni­fi­kan­ter Fort­schritt im Um­welt­be­wusst­sein noch eine si­gni­fi­kan­te Än­de­rung von Ein­stel­lun­gen, Hal­tun­gen und Ver­hal­tens­wei­sen im Hin­blick auf Scho­nung un­se­rer na­tür­li­chen Le­bens­welt er­kenn­bar. Des­we­gen ob­liegt es ge­ra­de dem Fach Ethik, mo­ra­lisch-ethi­sche Be­grün­dun­gen für ver­ant­wort­li­ches Han­deln zu the­ma­ti­sie­ren, zu dis­ku­tie­ren und zu be­ur­tei­len.

Wenn­gleich es ein­zel­ne Vor­stö­ße im aka­de­mi­schen Ethik-Dis­kurs zu pa­ra­dig­ma­ti­schen Ver­än­de­run­gen in der Tie­re­thik (P. Sin­ger, U. Wolf), in der Kli­maethik (B. Ge­sang, D. Birn­ba­cher, O. Mül­ler), ja zu Vor­schlä­gen einer neuen Me­ta­phy­sik der Mensch-Natur-Be­zie­hung ( Deep Eco­lo­gy ; H. Rols­ton, A. Naess) ge­kom­men ist, ist das Thema Mensch-Natur im Ethik-Un­ter­richt und in den Bil­dungs­plä­nen kein zen­tra­les; im der­zei­ti­gen baden-würt­tem­ber­gi­schen Bil­dungs­plan fehlt es auf der Kurs­stu­fe (im 2-stün­di­gen Fach).

Die im Bil­dungs­plan schon ver­an­ker­ten mo­ral­phi­lo­so­phi­schen Po­si­tio­nen for­dern aber ge­ra­de­zu dazu auf, sich mit öko­lo­gie­ethi­schen Fra­ge­stel­lun­gen kon­se­quent aus­ein­an­der­zu­set­zen. Über­le­gun­gen die­ser Art legen min­des­tens die Be­schäf­ti­gung mit Hans Jonas’ Heu­ris­tik der Furcht und sei­nes Prin­zip Ver­ant­wor­tung nahe. Be­mer­kens­wert ist in die­sem Zu­sam­men­hang, dass es das nicht mehr zu leug­nen­des Phä­no­men des Kli­ma­wan­dels ist, das einen Ge­sin­nungs­wan­del des Prä­fe­ren­zu­ti­li­ta­ris­ten Peter Sin­ger her­bei­ge­führt hat. In der drit­ten und kom­plett re­vi­dier­ten Auf­la­ge sei­ner Prak­ti­schen Ethik räumt er so­wohl ein nicht-kon­se­quen­zia­lis­ti­sches ver­ant­wor­tungs­ethi­sches Prin­zip (S. 411) als auch die Mög­lich­keit der „Exis­tenz ob­jek­ti­ver ethi­scher Wahr­hei­ten un­ab­hän­gig von un­se­ren Wün­schen“ (S. 19) ein.

Wäh­rend sich Kan­tia­ner und Uti­li­ta­ris­ten nach wie vor schwer damit tun, eine kon­se­quen­te­re Be­rück­sich­ti­gung der Natur zu be­grün­den, hat der neo-aris­to­te­li­sche Ca­pa­bi­li­ty -An­satz von Mar­tha C. Nuss­baum damit we­ni­ger Pro­ble­me, ver­glei­che  den Punkt 8 auf der Liste ba­sa­ler Fä­hig­kei­ten für ein ge­lin­gen­des, men­schen­wür­di­ges Leben.

Für einen mo­ti­va­tio­na­len Im­puls zur Sen­si­bi­li­sie­rung für den „eu­dai­mo­nis­ti­schen Ei­gen­wert der Natur für uns“ über äs­the­ti­sche Er­zie­hung   plä­die­ren die jüngs­ten Ar­bei­ten von An­ge­li­ka Krebs. Wenn die Wahr­neh­mung und Er­fah­rung z.B. der Schön­heit einer Land­schaft (neben Hei­mat-(Iden­ti­täts)- und sog. Hei­lig­keits-Ar­gu­men­ten) zur Ein­sicht in einen nicht-in­stru­men­tel­len Wert der Natur im Gan­zen und zur Er­kennt­nis eines zu er­hal­ten­den Wer­tes bei­trägt - und zwar eines Wer­tes, der über den Wert tou­ris­ti­schen Dekor oder Well­ness-Fak­tors zu sein hin­aus­geht - , dann emp­fiehlt es sich, ein Mo­ment „äs­the­ti­scher Bil­dung“  auch im Ethik-Un­ter­richt ein­zu­bau­en.

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