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Phy­sio­zen­tri­sche Ar­gu­men­te

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.


1.1. Das pa­tho­zen­tri­sche Ar­gu­ment

Cha­rak­te­ri­siert man Moral dar­über, dass sie etwas mit dem glei­chen Re­spekt vor dem guten Leben aller zu tun hat (ihren Emp­fin­dun­gen wie ihren Zwe­cken), dann kann man ar­gu­men­tie­ren, dass auch Tiere ein gutes Leben, zu­min­dest im Sinn von Emp­fin­dungs­wohl, haben kön­nen und es daher nicht ein­leuch­tet, wieso sich der mo­ra­li­sche Mensch nur um das gute Leben von an­de­ren Men­schen küm­mern soll und nicht auch um das von Tie­ren. Der füh­len­den Natur käme so ein mo­ra­li­scher Ei­gen­wert zu, sie wäre um ihrer selbst wil­len zu schüt­zen. Auch dann, wenn dies der Mensch­heit zum Nach­teil ge­reicht, wie etwa beim Ver­zicht auf leid­vol­le me­di­zi­ni­sche Tier­ver­su­che und leid­vol­le Tier­hal­tung. Die­ses u.a. von Peter Sin­ger (1979), Tom Regan (1984) und Ur­su­la Wolf (1990) ver­tre­te­ne Ar­gu­ment ist in der tie­re­thi­schen Li­te­ra­tur al­ler­dings nicht un­um­strit­ten.

Die zen­tra­len Ein­wän­de gegen das pa­tho­zen­tri­sche Ar­gu­ment sind zum ers­ten ein mo­ral­theo­re­ti­scher Ein­wand (das Ar­gu­ment be­ru­he auf einem uti­li­ta­ris­ti­schen, mit­leids­ethi­schen oder aris­to­te­li­schen Mo­ral­ver­ständ­nis, halt­bar sei aber nur das kon­trak­tua­lis­ti­sche oder kan­ti­sche Mo­ral­ver­ständ­nis – da­nach hät­ten nur Kon­trakt­part­ner oder Ver­nunft­we­sen mo­ra­li­schen Sta­tus), zum zwei­ten ein sprach­ana­ly­ti­scher Ein­wand (Moral hand­le von In­ter­es­sen, und In­ter­es­sen seien an das Vor­lie­gen von Spra­che ge­bun­den), drit­tens ein anti-ega­li­tä­rer Ein­wand (glei­che Rück­sicht auf Tiere sei men­schen­ver­ach­tend) und vier­tens der ‚ Po­li­cing-Na­tu­re -Ein­wand’ (das Ar­gu­ment führe zu der ab­sur­den Kon­se­quenz, dass wild­le­ben­de Beu­te­tie­re vor Raub­tie­ren zu schüt­zen seien).

In Ant­wort auf den ‚Po­li­cing-Na­tu­re-Ein­wand’ ist auf das er­wart­bar grö­ße­re mensch­li­che und tie­ri­sche Leid hin­zu­wei­sen, das ein ‚Po­li­cing Na­tu­re’ zu Folge hätte. Will der Anti-Ega­li­ta­rist die Hier­ar­chie Mensch-Tier nicht-spe­zie­zis­tisch be­grün­den, d.h. nicht unter dem blo­ßen Ver­weis auf die Gat­tungs­zu­ge­hö­rig­keit, dann muss er auf Grün­de zu­rück­grei­fen (wie In­tel­li­genz oder Mo­ral­fä­hig­keit), die be­reits im mensch­li­chen mo­ra­li­schen Uni­ver­sum Hier­ar­chi­en be­deu­ten, etwa die Hier­ar­chie Per­so­nen – sog. ‚Human Mar­gi­nal Cases’ (z.B. Schwerst­be­hin­der­te, Klein­kin­der oder Föten). Gegen den sprach­ana­ly­tisch ver­eng­ten In­ter­es­sen­be­griff lässt sich ein wei­te­rer In­ter­es­sen­be­griff set­zen, nach dem ein Wesen ein In­ter­es­se an etwas hat, wenn dies sein gutes Leben be­för­dert. Den mo­ral­theo­re­ti­schen Ein­wand kann man, auch ohne sich auf das Ter­rain der Mo­ral­theo­rie zu be­ge­ben, ent­kräf­ten, und zwar, indem man auf die Schwie­rig­kei­ten ver­weist, die so­wohl der Kon­trak­tua­lis­mus als auch der Kan­tia­nis­mus mit der Be­grün­dung mo­ra­li­schen Re­spekts für nicht-kon­trakt­fä­hi­ge und nicht-ver­nünf­ti­ge ‚Human Mar­gi­nal Cases’ haben.


1.2.
Das te­leo­lo­gi­sche Ar­gu­ment

Die­ses im deut­schen Sprach­raum vor allem von Hans Jonas (1979) und im eng­li­schen von Robin Att­field (1983) und Paul Tay­lor (1986) vor­ge­tra­ge­ne Ar­gu­ment schreibt der Natur im Gan­zen oder zu­min­dest der be­leb­ten Natur Zweck­tä­tig­keit oder Te­leo­lo­gie zu und mahnt die Aus­deh­nung des mo­ra­li­schen Re­spekts für die Zwe­cke der Men­schen auf die Zwe­cke der Natur an. Nach die­ser Ar­gu­men­ta­ti­on gerät nicht nur das Töten von Tie­ren, son­dern auch das Pflü­cken von Blu­men unter mo­ra­li­schen Ver­dacht.

Das Pro­blem bei die­sem Ar­gu­ment ist der Zweck­be­griff. Man kann näm­lich zwi­schen ‚funk­tio­na­len’ und ‚prak­ti­schen Zwe­cken’ un­ter­schei­den. Einen funk­tio­na­len Zweck ver­folgt z.B. ein Ther­mo­stat, wenn er eine be­stimm­te Raum­tem­pe­ra­tur an­strebt. Einen prak­ti­schen Zweck ver­folgt z.B. die Au­to­rin die­ses Ar­ti­kels, wenn sie diese Un­ter­schei­dung for­mu­liert und hofft, die Le­se­rin damit zu über­zeu­gen. Wäh­rend ihr daran liegt, ihren Zweck zu er­rei­chen, ist es dem Ther­mo­stat – an­thro­po­morph ge­spro­chen – ‚egal’, ob er sei­nen Zweck er­reicht. Ist die sog. Zweck­tä­tig­keit der Natur im we­sent­li­chen funk­tio­na­ler Art – Krank­heits­er­re­gern liegt ja nicht daran, dass sie Men­schen und Tiere krank ma­chen -, dann fällt sie nicht in den Be­reich sub­jek­tiv guten Le­bens, den Moral schüt­zen will. Wer dies dog­ma­tisch fin­det und mo­ra­li­schen Schutz auch auf ob­jek­tiv oder funk­tio­nal gutes Leben aus­ge­dehnt wis­sen will, der muss sich klar­ma­chen, dass er damit auch die funk­tio­na­le Zweck­tä­tig­keit von Ther­mo­sta­ten, Autos und Kern­kraft­wer­ken unter mo­ra­li­schen Schutz stel­len will.


1.3.
Das ho­lis­ti­sche Ar­gu­ment

Das viel­leicht be­lieb­tes­te Ar­gu­ment für den Ei­gen­wert der Natur be­steht in dem Ver­weis dar­auf, dass der Mensch doch Teil der Natur ist, dass sein Ge­dei­hen mit dem Ge­dei­hen des Na­tur­gan­zen zu­sam­men­geht. Nur Dua­lis­ten, die den Men­schen der Natur ge­gen­über­stel­len, könn­ten das eine gegen das an­de­re aus­spie­len. Die­ses fal­sche west­li­che, christ­li­che, männ­li­che dua­lis­ti­sche Den­ken gelte es zu über­win­den. Dann würde deut­lich, dass der mo­ra­li­sche Ei­gen­wert des Men­schen im Ei­gen­wert der Natur be­steht und um­ge­kehrt. Ver­tre­ter die­ses Ar­gu­ments sind die ‚ Deep-Eco­lo­gy -Be­we­gung’ und ihre Vor­rei­ter: Arne Naess (1989), der ‚Ök­o­fe­mi­nis­mus’, z.B. bei Val Plum­wood (1994), und die ‚Lan­de­thik’ im Ge­fol­ge von Aldo Leo­pold, z.B. bei J. Baird Cal­li­cott (1987), au­ßer­dem: Homes Rols­ton (1988) und Klaus-Mi­ca­hel Meyer-Abich (1984).

Das Pro­blem mit dem ho­lis­ti­schen Ar­gu­ment ist, dass der Satz, der Mensch sei Teil der Natur, no­to­risch viel­deu­tig ist. Wenn er nur be­deu­ten soll, dass der Mensch für sein Über­le­ben und sein gutes Leben von der Natur ab­hängt, dann ist er si­cher rich­tig, aber er be­grün­det dann kei­nen mo­ra­li­schen Ei­gen­wert der Natur, son­dern nur einen an­thro­po­zen­trisch mo­ti­vier­ten Na­tur­schutz. Wenn der Satz hin­ge­gen be­deu­ten soll, dass, wie in einem Sym­pho­nie­or­ches­ter, das Flo­rie­ren der Teile im Flo­rie­ren des Gan­zen be­steht, dann drückt er an­ge­sichts von Aids-Viren, Sturm­flu­ten, Eis­zei­ten etc. einen fal­schen Har­mo­nis­mus aus und ist daher ab­zu­leh­nen. Will der Satz schließ­lich die on­to­lo­gi­sche Un­ter­schei­dung zwi­schen Mensch und Natur auf­he­ben, weil alles, was ist, nichts als ein Kno­ten im bio­ti­schen Sys­tem oder ein En­er­gie­bün­del im kos­mi­schen Tanz der En­er­gie – nun, dann ist an die le­bens­welt­lich doch sinn­vol­le Un­ter­schei­dung zwi­schen Wesen, die füh­len, han­deln, Ver­ant­wor­tung tra­gen kön­nen, und sol­chen, die dies nicht kön­nen, zu er­in­nern. Wie würde unser Leben aus­se­hen, wenn wir ohne sol­che Un­ter­schei­dun­gen aus­kom­men müss­ten?