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Kurz­ge­schich­te: A.T. Awert­schen­ko: „Aben­teu­er im Ab­teil“ [Ma­te­ri­al 20]

Aben­teu­er im Ab­teil

Der Schnell­zug raste nach dem Süden. In einem Ab­teil zwei­ter Klas­se saß der Be­am­te des Kon­troll­am­tes Iwan Mi­ch­ailow mit sei­ner jun­gen, schlan­ken Frau Si­no­t­sch­ka. Ihnen ge­gen­über lehn­te der Ge­schäfts­rei­sen­de Schi­to­mir­ski und las ein hu­mo­ris­ti­sches Blatt. Die Pas­sa­gie­re spra­chen kein Wort. »Mein Gott, wie lang­wei­lig!« be­merk­te die junge Frau und gähn­te. »Hör doch auf!« rief ihr der Mann zu. »Du steckst doch alle an!« Und un­will­kür­lich gähn­te er auch. Dann wand­te er sich sei­nem Ge­gen­über zu und sagte: »Nicht wahr, mein Herr, es ist ein wenig er­mü­dend?« Der Ge­schäfts­rei­sen­de legte die Zei­tung zur Seite, schau­te Mi­ch­ailow an, ent­zün­de­te sich eine Zi­gar­ret­te und sprach be­däch­tig: »Ja, lus­tig ist es nicht. Wenn man lange im Ab­teil sitzt, be­ginnt es lang­wei­lig zu wer­den. Was für eine Sta­ti­on war das?« Der Be­am­te wisch­te den Hauch vom Fens­ter und nann­te ir­gend­ei­nen Namen. »Ach, ist das eine Fahrt!« rief indes seine Frau. »Hör doch auf«, sagte Mi­ch­ailow. »Des­halb kom­men wir auch nicht ra­scher in die Krim.« Eine Weile spä­ter fuhr der Zug in eine Sta­ti­on ein und blieb ste­hen. Gleich dar­auf trat ein Herr ins Ab­teil. Er trug einen groß­ka­rier­ten Man­tel und eine graue Rei­se­müt­ze, grüß­te die Pas­sa­gie­re höf­lich, warf seine Ta­sche ins Netz und sagte zu Mi­ch­ailow: »Sie ge­stat­ten?« Mi­ch­ailow drück­te sich noch mehr in seine Ecke und mur­mel­te etwas, aber Si­no­t­sch­ka schau­te den Un­be­kann­ten an, und da er ein ele­gan­ter Mann war, be­merk­te sie lä­chelnd: »Bitte.« Der Ge­schäfts­rei­sen­de Schi­to­mir­ski war mit dem Auf­tre­ten des neuen Pas­sa­giers kei­nes­wegs zu­frie­den. Leise sagte er: »Das haben wir nötig!« Der Frem­de sprach kein Wort, nahm eine Zei­tung aus der Ta­sche und ver­tief­te sich in seine Lek­tü­re. Im Wagen trat Stil­le ein. Man hörte nur das Rat­tern der Räder und das Pfei­fen der Lo­ko­mo­ti­ve. Die junge Frau Sina kreuz­te be­däch­tig ein Bein über das an­de­re, nahm den Hut her­un­ter, damit man ihren schö­nen blon­den Pa­gen­kopf sehen konn­te, dehn­te und streck­te sich und rief: »Wir müs­sen noch sechs Stun­den fah­ren!« »Ach ja«, sagte ihr Mann. »Das Rei­sen ist ein­tö­nig.« Der Ge­schäfts­rei­sen­de nick­te. »Stimmt! Und dabei ist es ein ziem­lich teu­res Ver­gnü­gen.« »Und so wenig un­ter­hal­tend!« rief Sina und blick­te den Frem­den an. Der Un­be­kann­te fing ihren Blick auf, legte die Zei­tung zur Seite und lach­te: »Die Herr­schaf­ten lang­wei­len sich? Wis­sen Sie, woher das kommt? Weil die Men­schen nicht so sind, wie sie sich zei­gen.« Schi­to­mir­ski rief be­lei­digt: »Was heißt das? Was wol­len Sie damit sagen, Herr? Ich als in­tel­li­gen­ter Mensch...« Der Frem­de un­ter­brach ihn. »Und wer sind Sie zum Bei­spiel?« »Ich? Ge­schäfts­rei­sen­der! Mein Name ist Schi­to­mir­ski. Ich ver­tre­te die Firma Krim­bel u. Co., Tuche und Sei­den en gros.« Der Frem­de lach­te hell­auf. »Ich habe ge­wußt, daß Sie die Un­wahr­heit sagen wer­den. Wes­halb lügen Sie Ihre Mit­rei­sen­den an ? Wes­halb be­haup­ten Sie, daß Sie Ge­schäfts­rei­sen­der sind? Sie sind doch der Kar­di­nal Giu­sep­pe beim päpst­li­chen Hof! Mein Herr, Ihr In­ko­gni­to ist ent­larvt!« Schi­to­mir­ski schau­te den Spre­cher er­schreckt an. »Was? Ich ein päpst­li­cher Kar­di­nal? Sie irren sich!« Aber der Frem­de sagte en­er­gisch: »Ja­wohl, Sie sind der Kar­di­nal Giu­sep­pe! Spie­len Sie keine Ko­mö­die! Ich weiß, daß Sie eine der ein­fluß­reichs­ten Per­sön­lich­kei­ten der Ge­gen­wart sind. Man hat mir er­zählt, daß...« Der Ge­schäfts­rei­sen­de warf die Zi­ga­ret­te weg, sprang auf und rief wü­tend: »Herr, las­sen Sie diese dum­men Späße! Was er­lau­ben Sie sich ei­gent­lich?« Der Un­be­kann­te stand gleich­falls auf, legte seine Hand auf die Schul­ter des Rei­sen­den und sagte in einem Tone, der kei­nen Wi­der­spruch er­laub­te: »Mich wer­den Sie nicht zum Nar­ren hal­ten. Statt dum­mer Ge­sprä­che er­zäh­len Sie mir lie­ber etwas vom Va­ti­kan, von den Sit­ten, die am päpst­li­chen Hofe herr­schen, von Ihren Er­fol­gen bei den schö­nen Ita­lie­ne­rin­nen!« Der Rei­sen­de wich ent­setzt zu­rück, blick­te nach der Not­lei­ne und rief: »Was wol­len Sie von mir? Las­sen Sie mich in Ruhe!« Der Un­be­kann­te trat auf ihn zu und rief dro­hend: »Nicht schrei­en - Hand von der Not­lei­ne - hier ist eine Dame!« Dann ließ er sich auf sei­nen Sitz nie­der, zog einen Re­vol­ver aus der Ta­sche und rich­te­te lang­sam den Lauf gegen Schi­to­mir­ski: »Her­aus mit der Wahr­heit! Ich ver­tra­ge keine Ko­mö­die!« Unter den Mit­rei­sen­den ent­stand eine Panik. Sina drück­te sich in die Ecke, ihr Mann ver­such­te auf­zu­ste­hen, doch eine Hand­be­we­gung des Un­be­kann­ten zwang ihn, Platz zu be­hal­ten. Der Frem­de spiel­te mit dem Re­vol­ver und sagte dann: »Meine Herr­schaf­ten, Sie kön­nen be­ru­higt sein, ich werde Ihnen nichts tun, aber ich ver­lan­ge, daß die­ser Mensch die Wahr­heit ge­steht!« Schi­to­mir­ski stand zit­ternd und rief nur immer: »Was wol­len Sie von mir? Ich bin Rei­sen­der der Firma Krim­bel u. Co.!« »Du lügst!« be­merk­te der Frem­de. »Du bist der Kar­di­nal Giu­sep­pe!« Mi­ch­ailow flüs­ter­te: »Sehen Sie nicht, mit wem Sie es zu tun haben? Das ist ein Wahn­sin­ni­ger, der aus dem Ir­ren­haus ent­sprun­gen ist. Sagen Sie ihm, daß Sie ein Kar­di­nal sind - das kos­tet doch nichts!« Schi­to­mir­ski schüt­tel­te ver­zwei­felt den Kopf. »Aber ich bin doch kein Kar­di­nal!« Da trat Mi­ch­ailow auf den Frem­den zu und sagte mit weh­mü­ti­gem Lä­cheln: »Sei­nen Zügen nach zu ur­tei­len, sieht er einem Kar­di­nal ähn­lich. Si­cher reist er in ge­hei­mer Mis­si­on!« Und sich zu Schi­to­mir­ski wen­dend, rief er leise: »Hol's der Teu­fel, sagen Sie ihm doch, daß Sie ein Kar­di­nal sind, sonst knallt er Sie noch nie­der!« Der Ge­schäfts­rei­sen­de nick­te schwei­gend mit dem Kopfe und sagte ver­zwei­felt: »Gut: ich bin ein Kar­di­nal!« Der Un­be­kann­te be­merk­te tri­um­phie­rend: »Sehen Sie? Was habe ich ge­sagt? Die Men­schen sind nicht so, wie sie er­schei­nen!« Schi­to­mir­ski brach auf sei­nem Platz zu­sam­men und saß wie ein Häuf­chen Un­glück da. Der Un­be­kann­te wand­te sich nun an Mi­ch­ailow und sagte lie­bens­wür­dig: »Ich be­grei­fe nicht, wie Ihre rei­zen­de, klei­ne Frau mit die­sem ent­zü­cken­den Pa­gen­kopf und den schlan­ken Bei­nen sich lang­wei­len kann, wenn sie die Gat­tin einer so be­rühm­ten Per­sön­lich­keit ist!« »Wel­cher be­rühm­ten Per­sön­lich­keit?« frag­te der Kon­troll­be­am­te un­ru­hig. Der Un­be­kann­te schau­te ihn scharf an und sagte, jede Silbe be­to­nend: »Sie sind doch der be­rühm­te Sän­ger An­sel­mi von der Mai­län­der Scala, der beste Ba­ri­ton der Welt! Sin­gen Sie uns etwas vor, Ma­es­tro!« Mi­ch­ailow blick­te den Spre­cher geis­tes­ab­we­send an und rief: »Herr, das ist ein Irr­tum - ich kann gar nicht sin­gen. Ich habe eine klei­ne, krei­schen­de Stim­me!« Der Frem­de lach­te wild auf: »Ha, ha! Die Be­schei­den­heit der gro­ßen Ta­len­te - las­sen Sie das! Sin­gen Sie, oder...!« Und er be­gann wie­der mit dem Re­vol­ver zu spie­len. In sei­ner To­des­angst sang Mi­ch­ailow so falsch, wie noch nie im Leben: »Adieu, mein klei­ner Gar­de­of­fi­zier!« »So!« rief der Frem­de. »Jetzt habe ich die Maske von die­sen zwei Her­ren ge­ris­sen. Der eine er­wies sich als Kar­di­nal, der zwei­te als Ba­ri­ton. Lüge auf Schritt und Tritt! Die Lüge be­glei­tet uns von der Wiege, wir atmen sie ein und tra­gen sie mit uns!« Dann wen­de­te er sich zu Sina und rief: »Meine Gnä­di­ge, Sie sind die Venus von Milo! Unter Ihrem Klei­de be­fin­det sich der ide­als­te Kör­per der Welt. Strei­fen Sie Ihre Bluse ab!« Dabei zog er den Re­vol­ver und rich­te­te den Lauf gegen Mi­ch­ailow: »Ihr Mann wird doch nichts da­ge­gen haben?« Mi­ch­ailow blick­te zit­ternd auf den Re­vol­ver und sagte stam­melnd: »Nein, ich habe nichts da­ge­gen - ich liebe die Schön­heit! Ein wenig kannst du die Bluse ab­strei­fen!« Sina schau­te ihren Mann voll Ver­ach­tung an, lach­te hys­te­risch, erhob sich und sagte »Kar­di­nal, wen­den Sie sich um!« Sie streif­te die Bluse ab, so daß man ihre schnee­wei­ßen, run­den Schul­tern sehen konn­te. »Nicht wahr, ich bin hübsch?« be­merk­te sie zu dem Frem­den. »Wenn Sie mich küs­sen wol­len, fra­gen Sie mei­nen Mann, er er­laubt alles!« Doch der Frem­de küßte bloß ga­lant ihre Hand. Plötz­lich ver­lang­sam­te der Zug das Tempo, denn er nä­her­te sich einer Sta­ti­on. Der Frem­de stand auf, nahm seine Hand­ta­sche und sagte zu dem Be­am­ten und zu dem Ge­schäfts­rei­sen­den: »Meine Her­ren, in we­ni­gen Mi­nu­ten stei­ge ich aus. Der Zug hält in die­ser Sta­ti­on fünf Mi­nu­ten. Ich stehe auf dem Per­ron, mit dem Re­vol­ver in der Hand, und wenn einer von Ihnen den Zug ver­läßt, schie­ße ich ihn nie­der - ver­stan­den?« Der Un­be­kann­te ver­ließ den Wagen. Alle saßen er­starrt. Plötz­lich öff­ne­te sich leise die Tür, eine Hand warf einen Zet­tel in den Wagen und ver­schwand. Gleich dar­auf setz­te sich der Zug in Be­we­gung... Der Be­am­te hob den Zet­tel auf, schau­te ihn an und las dann vor: »Meine Herr­schaf­ten, ge­ste­hen Sie, daß Sie sich nicht ge­lang­weilt haben. Diese ori­gi­nel­le Me­tho­de ver­jagt die Lan­ge­wei­le und zeigt die Men­schen in ihrer wah­ren Ge­stalt. Wir waren vier im Wag­gon: Ein Trot­tel, ein Feig­ling, eine mu­ti­ge Frau und ein Spaß­ma­cher - die Seele der Ge­sell­schaft! Ba­ri­ton, küs­sen Sie den Kar­di­nal!« Die drei Pas­sa­gie­re spra­chen kein Wort und sahen ein­an­der an. Der Zug rat­ter­te wei­ter...

  1. Am Ende wer­den die Per­so­nen als „Trot­tel, Feig­ling, mu­ti­ge Frau und Spaß­ma­cher" be­schrie­ben. Ordne die Be­zeich­nun­gen den Per­so­nen zu. Be­grün­de deine Zu­ord­nung am Text.
  2. Er­klä­re, wes­halb die Me­tho­de des Frem­den die „Men­schen in ihrer wah­ren Ge­stalt" (Z. 137) zeigt. Be­grün­de mit Text­be­le­gen!

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