Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Der Un­sicht­ba­re – Lang­ver­si­on

Dass die Men­schen, die sich der Ge­rech­tig­keit be­flei­ßi­gen, nur aus Un­ver­mö­gen des Un­recht­tuns und un­gern sie aus­üben, das wür­den wir am bes­ten mer­ken, wenn wir so etwas tun in Ge­dan­ken: Wir geben jedem von bei­den Macht zu tun, was er nur will, dem Ge­rech­ten und dem Un­ge­rech­ten, und dann gehen wir ihnen nach, um zu sehen, wohin die Be­gier­de jeden von bei­den füh­ren wird. Dann wür­den wir ge­wiss den Ge­rich­ten auf fri­scher Tat er­tap­pen, dass er ganz nach dem­sel­ben strebt wie der Un­ge­rech­te wegen des Mehr­ha­ben­wol­lens, nach wel­chem jedes Wesen als nach einem Gute zu trach­ten pflegt und nur durch das Ge­setz und mit Ge­walt ab­ge­lenkt wird zur Hoch­hal­tung des Glei­chen. Die Macht aber, die ich meine, kann am ehes­ten eine sol­che sein, wenn ihnen die­sel­be Kraft zu­teil würde, die einst Gyges, der Ahn­herr der Ly­dier, ge­habt haben soll. Die­ser näm­lich soll ein Hirt ge­we­sen sein, der bei dem da­ma­li­gen Be­herr­scher von Ly­di­en dien­te. Als nun einst gro­ßes Un­ge­wit­ter ge­we­sen und Erd­be­ben, sei die Erde ge­spal­ten und eine Kluft ent­stan­den in der Ge­gend, wo er hü­te­te. Wie er nun dies mit Ver­wun­de­rung ge­se­hen und hin­ein­ge­stie­gen sei, habe er dort vie­les an­de­re Wun­der­ba­re, von dem sie er­zäh­len, und auch ein hoh­les, eher­nes mit Fens­tern ver­se­he­nes Pferd ge­fun­den, durch die er hin­ein­ge­schaut und darin einen Leich­nam ge­se­hen, dem An­schein nach grö­ßer als nach mensch­li­cher Weise. Die­ser nun habe nichts An­de­res an sich ge­habt als an der Hand einen gol­de­nen Ring, wel­chen jener ihm dann ab­ge­zo­gen habe und wie­der hin­aus­ge­stie­gen sei. Als nun die Hir­ten ihre ge­wöhn­li­che Zu­sam­men­kunft ge­hal­ten, worin sie dem König mo­nat­lich be­rich­te­ten, was bei den Her­den vor­ge­gan­gen, sei auch jener er­schie­nen, den Ring am Fin­ger. Wie er nun unter den an­dern ge­ses­sen, habe es sich ge­trof­fen, dass er den Kas­ten des Rings nach der in­nern Seite der Hand zu um­ge­dreht, und als die­ses ge­sche­hen, sei er den Da­bei­sit­zen­den un­sicht­bar ge­wor­den, so dass sie von ihm ge­re­det als von einem Ab­we­sen­den; dar­über habe er sich ge­wun­dert, den Ring wie­der an­ge­fasst und den Kas­ten nach außen ge­dreht, und so­bald er ihn um­ge­kehrt, sei er sicht­bar ge­we­sen. Wie er das nun ge­merkt, habe er den Ring ver­sucht, ob er wirk­lich diese Kraft habe, und es sei ihm immer so ge­sche­hen, dass, so­bald er den Kas­ten nach innen ge­dreht, er un­sicht­bar ge­wor­den, nach außen aber sicht­bar. Als er des­sen in­ne­ge­wor­den, habe er so­gleich be­wirkt, unter die Boten des Kö­nigs auf­ge­nom­men zu wer­den, und so sei er ge­kom­men, habe des­sen Weib zum Ehe­bruch ver­lei­tet, dann mit ihr dem Kö­ni­ge nach­ge­stellt, ihn ge­tö­tet und die Herr­schaft an sich ge­ris­sen.

Wenn es nun zwei sol­che Ringe gäbe und den einen der Ge­rech­te an­leg­te, den an­dern aber der Un­ge­rech­te: so würde doch wohl kei­ner, wie man ja den­ken müsse, so stahl­hart sein, dass er bei der Ge­rech­tig­keit blie­be und es über sich ge­wän­ne, sich frem­den Gutes zu ent­hal­ten und es nicht an­zu­rüh­ren, ob­wohl es ihm frei­stän­de, teils vom Markt ohn alle Be­sorg­nis zu neh­men, was er nur woll­te, teils in die Häu­ser zu gehen und bei­zu­woh­nen, wem er woll­te, und zu töten oder aus Ban­den zu be­frei­en, wen er woll­te, und so auch alles an­de­re zu tun, recht wie ein Gott unter den Men­schen. Wenn er nun so han­del­te, so täte er nichts von dem an­dern Ver­schie­de­nes, son­dern beide gin­gen den­sel­ben Weg. Und dies, müsse doch je­der­mann ge­ste­hen, sei ein star­ker Be­weis dafür, dass nie­mand mit gutem Wil­len ge­recht ist, son­dern nur aus Not, weil es eben für kei­nen an sich gut ist. Denn wo jeder nur glau­be, dass er werde Un­recht tun kön­nen, da tue er es auch. Denn je­der­mann glaubt, dass ihm für sich die Un­ge­rech­tig­keit weit mehr nützt als die Ge­rech­tig­keit, und glaubt auch recht, wie der sagt, der sich die­ser Rede an­nimmt. Denn wenn einer, dem eine sol­che Macht zu­fie­le, gar kein Un­recht be­ge­hen woll­te noch frem­des Gut be­rüh­ren: so würde er denen, die es merk­ten, als der Al­le­r­elends­te vor­kom­men und als der Al­le­run­ver­stän­digs­te; wie wohl sie ein­an­der be­trü­gen und ihn einer vor dem an­dern loben wür­den aus Furcht vor dem Un­recht­lei­den.                                                   

Pla­ton, PO­LI­TEIA (359b-360d)

[ Abb.: Rönt­gen­bild einer Hand mit Ring ]

Um­set­zungs­bei­spiel So­kra­tes: Her­un­ter­la­den [docx][117 KB]