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MENON 2: Weißt du, was Tu­gend ist?

MENON: So­kra­tes, kannst du mir sagen, ob man die Tu­gend* ge­lehrt wer­den kann? - Oder kann sie nicht ge­lehrt, son­dern nur geübt wer­den? Oder weder ge­lehrt noch geübt, hat man sie von Natur aus oder sonst ir­gend­wie?

SO­KRA­TES: Wie soll ich denn wis­sen, ob man Tu­gend leh­ren kann, ich weiß ja nicht ein­mal, was Tu­gend über­haupt ist. Weißt du es denn?

MENON: Klar. Die Tu­gend des Man­nes ist, dass er im­stan­de ist, die An­ge­le­gen­hei­ten des Staa­tes zu ver­wal­ten und in sei­ner Ver­wal­tung sei­nen Freun­den wohl­zu­tun und sei­nen Freun­den weh, sich selbst aber zu hüten, dass ihm nichts der­glei­chen be­geg­ne. be­steht in der Fä­hig­keit, po­li­tisch aktiv zu sein und damit Freun­den Gutes, Fein­den Schlech­tes zu tun und auf­zu­pas­sen, dass einem selbst nichts Schlech­tes pas­siert. Die Tu­gend der Frau ist na­tür­lich, dass sie das Haus­we­sen gut ver­wal­ten muss, alles gut im­stan­de hal­tend und dem Mann ge­hor­chend. Noch­mal was An­de­res ist die Tu­gend bei Kin­dern, Jun­gen und auch bei Mäd­chen oder bei äl­te­ren Män­nern, je nach­dem, ob sie Skla­ve oder frei­er Bür­ger sind. Und so gibt es noch gar viele an­de­re Arten von Tu­gend: denn für jede Ak­ti­vi­tät und für jedes Alter hat jeder von uns je nach Auf­ga­be seine Tu­gend - und ge­nau­so, glau­be ich, auch seine Schlech­tig­keit.

SO­KRA­TES: Ich schei­ne ja enor­mes Glück zu haben, denn ob­wohl ich nur eine Tu­gend suche, finde ich nun einen gan­zen Schwarm von ihnen, der sich bei dir nie­der­ge­las­sen hat. Aber – um beim Bild des Schwarms zu blei­ben – wenn du auf meine Frage nach der Natur der Biene ge­ant­wor­tet hät­test, dass es derer gar viele und man­cher­lei gebe, was wür­dest du ant­wor­ten, wenn ich wei­ter frag­te: „Meinst du, dass sie viele und vie­ler­lei sind, in­so­fern sie Bie­nen sind? Oder sind sie hier­in wohl nicht un­ter­schie­den, son­dern nur in etwas An­de­rem, wie etwa hin­sicht­lich Schön­heit, Größe oder der­glei­chen?

MENON: Ich würde dar­auf ant­wor­ten, dass sie nicht ver­schie­den sind, so­fern sie Bie­nen sind.

SO­KRA­TES: Und wenn ich nun wei­ter wis­sen woll­te, worin sie nicht ver­schie­den sind, son­dern worin sie alle gleich sind, dann könn­test du mir doch etwas nen­nen.

MENON: Ja, na­tür­lich.

SO­KRA­TES: Dann mach es doch ge­nau­so mit den Tu­gen­den: wenn es auch viele und man­cher­lei (Arten) sind, haben sie doch wohl alle eine und die­sel­be ge­wis­se Ge­stalt, einen ge­mein­sa­men Grund­zug, um des­sent­wil­len sie eben Tu­gen­den sind. Dar­auf soll­ten wir ach­ten, wenn wir die Frage be­ant­wor­ten wol­len, was die Tu­gend ei­gent­lich ist. Oder ver­stehst du nicht, was ich meine?

MENON: Ich glau­be schon; aber doch habe ich das, wo­nach ge­fragt ist, noch nicht ganz er­fasst.

SO­KRA­TES: Meinst du, dass es nur bei der Tu­gend so ist, dass es eine an­de­re gibt für den Mann und eine an­de­re für die Frau? Oder ge­nau­so auch bei Ge­sund­heit, Größe und Stär­ke? Fin­dest du also, dass es eine an­de­re Ge­sund­heit ist beim Mann und eine an­de­re die der Frau? Oder ist es über­all der­sel­be Be­griff von Ge­sund­heit, mag nun ein Mann ge­sund sein oder wer auch immer?

MENON: Ge­sund­heit scheint mir bei bei­den das­sel­be zu sein.

SO­KRA­TES: Also auch wohl Größe und Stär­ke? Wenn eine Frau stark ist, wird sie ver­mö­ge des­sel­ben Be­griffs stark sein? Mit ‚das­sel­be’ meine ich: dass es der Stär­ke kei­nen Un­ter­schied macht in dem Stär­ke-Sein, ob sie in einem Mann ist oder in einer Frau.

MENON: Nein, das macht kei­nen Un­ter­schied.

SO­KRA­TES: Der Tu­gend aber soll es in dem Tu­gend-Sein einen Un­ter­schied ma­chen, ob sie in einem Kind, einem Alten, in einer Frau oder einem Mann ist?

MENON: Also ir­gend­wie finde ich, dass dies nicht mehr ganz ähn­lich ist wie in den an­de­ren.

SO­KRA­TES: Was? Hast du nicht ge­sagt, die Tu­gend des Man­nes be­ste­he darin, den Staat gut zu ver­wal­ten, die der Frau aber, das Haus­we­sen?

MENON: Ja.

SO­KRA­TES: Kann man nun wohl Staat oder Haus­we­sen oder sonst etwas gut ver­wal­ten, wenn man es nicht be­son­nen und ge­recht ver­wal­tet?

MENON: Ge­wiss nicht.

SO­KRA­TES: Beide also, Frau und Mann, brau­chen das­sel­be, Be­son­nen­heit und Ge­rech­tig­keit, wenn sie gut sein sol­len, d.h. Tu­gend haben sol­len?

MENON: Of­fen­bar.

SO­KRA­TES: Doch Ge­rech­tig­keit – ist das nun Tu­gend [schlecht­hin] oder eine[ Art von ] Tu­gend?

MENON: Wie meinst du das?

SO­KRA­TES: Na ja, ich könn­te doch z.B. sagen, Run­dung sei eine Art Figur, aber nicht ‚Figur’ schlecht­hin, denn es gibt ja auch noch an­de­re [geo­me­tri­sche] Fi­gu­ren.

MENON: Rich­tig; dem­nach sage ich auch, dass nicht al­lein Ge­rech­tig­keit Tu­gend ist, son­dern auch noch viele an­de­re [Arten]. auch an­de­re Arten von Tu­gend gibt. Tap­fer­keit z.B. ist ja auch eine Tu­gend, und Be­son­nen­heit, Weis­heit und Groß­mut, und noch viele an­de­re.

SO­KRA­TES: Jetzt ist uns wie­der das­sel­be pas­siert: viele Arten von Tu­gen­den haben wir ge­fun­den, ob­wohl wir nur eine su­chen, den all­ge­mei­nen Grund­zug. Wir haben wie­der Be­stand­tei­le und Gan­zes, Art und Gat­tung ver­wech­selt. - Du kannst nicht je­man­dem die Natur und das Wesen der Tu­gend er­klä­ren, indem du in der Ant­wort nur Be­stand­tei­le oder Arten der Tu­gend auf­lis­test.

*Tu­gend = Tüch­tig­keit, Taug­lich­keit, Best­heit, Vor­treff­lich­keit, Gut­sein (in etwas), wert­vol­ler Cha­rak­ter­zug, Ex­zel­lenz

Pla­ton, MENON 70a ff

Vor­schlä­ge für Ar­beits­an­re­gun­gen

Lö­sungs­hin­wei­se

A1: Er­läu­te­re den Zweck der Suche nach einer De­fi­ni­ti­on von Tu­gend.

Um her­aus­zu­fin­den, ob etwas (X) eine be­stimm­te Ei­gen­schaft (F) wie Lehr­bar­keit hat, muss man wis­sen, was X genau ist.

A2: Be­schrei­be Me­n­ons Be­find­lich­keit wäh­rend und im Ver­lauf des Ge­sprächs: Wie fühlt er sich zu Be­ginn, und dann ....

Von Selbst­si­cher­heit bis Rat­lo­sig­keit, Ver­le­gen­heit; dann: re­ak­ti­ves Bei­pflich­ten; dann (Z. 97) er­neu­te Selbst­si­cher­heit (aber: Wi­der­ho­lungs­feh­ler)

A2: Be­schrei­be Me­n­ons Be­find­lich­keit wäh­rend und im Ver­lauf des Ge­sprächs: Wie fühlt er sich zu Be­ginn, und dann ....

Von Selbst­si­cher­heit bis Rat­lo­sig­keit, Ver­le­gen­heit; dann: re­ak­ti­ves Bei­pflich­ten; dann (Z. 97) er­neu­te Selbst­si­cher­heit (aber: Wi­der­ho­lungs­feh­ler)

A3: Me­n­ons erste Ant­wort auf die Was-ist-X?-Frage muss nicht falsch sein, ob­wohl So­kra­tes nicht damit zu­frie­den ist: Cha­rak­te­ri­sie­re Me­n­ons De­fi­ni­ti­ons­vor­schlag (Z. 8-22) und er­klä­re dann, wor­auf So­kra­tes hin­aus will (23-51).

M. lis­tet Ver­wen­dungs­wei­sen von T in Bei­spie­len auf, wobei die weite Be­deu­tung des griech. Wor­tes Arete  zu­grun­de liegt (Gut­sein in/für/als etwas); S. sucht nach einem all­ge­mei­nen Gat­tungs­be­griff, der das Wesen aller dar­un­ter fal­len­den Arten um­fasst („Grund­zug“; spä­ter: ‚Idee’; engl. Form)

A4: Un­ter­su­che, woran es lie­gen könn­te, dass Menon mit dem Be­griff ‚Biene’ we­ni­ger Pro­ble­me hat als mit dem Be­griff ‚Tu­gend’. (Z. 52 f)

bio­log. Spe­zi­es-Be­griff  ethi­scher (auch: kul­tur­spe­zi­fi­scher) All­ge­mein­be­griff/ nor­ma­ti­ver Be­griff

A5: Ana­ly­sie­re die Zwi­schen­schrit­te, die So­kra­tes zur Über­win­dung der Schwie­rig­kei­ten (Z. 55-75) ein­schal­tet.

Ver­gleich/Ana­lo­gie: Beim Gut­sein sei es so wie beim Ge­sund-, Groß-, Stark­sein, dass es näm­lich einen ein­heit­li­chen, all­ge­mei­nen Be­deu­tungs­kern gibt.

A6: Mar­kie­re die Stel­le, an der So­kra­tes von einer funk­tio­na­len Be­deu­tung von „Tu­gend/Gut­sein“ (‚gut für etw./als...’) zu einer mo­ra­li­schen Be­deu­tung über­lei­tet (‚gut für alle/schlecht­hin’). (Z. 78-90)

‚gut etw. re­geln’ = ‚be­son­nen und ge­recht etw. re­geln’

A7: Fasse die von So­kra­tes dia­gnos­ti­zier­ten De­fi­ni­ti­ons­feh­ler die­ser Pas­sa­ge noch ein­mal in ei­ge­nen Wor­ten zu­sam­men (mit Bsp.).

Ver­wechs­lun­gen von … Teil/Gan­zes; Art/Gat­tung; Bsp./ge­mein­sa­mer Grund­zug

A8: Der Dia­log hat außer einem me­tho­di­schen  (ne­ga­ti­ven) Zwi­schen­er­geb­nis auch ein in­halt­li­ches  (po­si­ti­ves) Er­geb­nis, näm­lich:

vgl. Aris­to­te­les über S.’ Me­tho­de/Ziele : Met.  1078 b 17.28-30.; Ethi­sche Tu­gend um­fasst als all­ge­mei­ner Wert-Be­griff ‚Ge­recht­sein’ und ‚Be­son­nen­sein’ als Teile/Arten

Um­set­zungs­bei­spiel So­kra­tes: Her­un­ter­la­den [docx][117 KB]

Wei­ter zu MENON 3