Shitstorms und Moral
Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel (*1950) geht in einem Interview auch auf die Rolle von Shitstorms im digitalen Zeitalter ein.
„Wir haben in unserer Strafprozessordnung ein ausdifferenziertes Modell von Schutzmöglichkeiten und Schweigerechten. Es gibt Geheimnisse, die im Strafprozess nicht geknackt werden dürfen, obwohl sie geknackt werden könnten: Ausforschen von Tagebüchern, von Angehörigen und dergleichen. Im Zeitalter von Big Data werden diese Verbote zunehmend gegenstandslos, verlieren ihren Sinn. […]
Ich denke, wir werden bald Zeugen eines neuen Typus von Suiziden werden – über Shitstorms, über veröffentlichte Lächerlichkeiten, von denen man sich biografisch nicht mehr erholt. Einzelne Fälle gibt es ja schon, aber ich rede von einem neuen Typus solcher Selbsttötungsmotive.“
Arbeitsaufträge
- Erläutert Grenzen des Strafrechts in Bezug auf die Preisgabe von Geheimnissen.
- Begründet anhand von zwei recherchierten Beispielen für Shitstorms, warum Shitstorms ethisch problematisch sind.
Der Rechts- und Moralphilosoph Jeremy Bentham (1748-1832) beschäftigte sich schon Ende des 18. Jahrhundert mit dem Einfluss der öffentlichen Meinung auf den Einzelnen.
Philo-Talk: Guten Tag, Herr Bentham. Kennen Sie Shitstorms?
Bentham: Ja, nur nenne es nicht Shitstorms, sondern den Missbrauch „volkstümlicher Sanktionen“.
Philo-Talk: Zunächst einmal Herr Bentham, was versteht man unter Sanktionen.
Bentham: Das Wort „Sanktion“ stammt von dem lateinischen Wort „sanctio“, das man übersetzen kann mit „Akt des Bindens“. Sanktionen sind also Bindungen, die einem Menschen vorschreiben, wie er sich zu verhalten bzw. an welche Regeln er sich zu halten hat.
Philo-Talk: Welche Sanktionen gibt es denn?
Bentham: Das hängt davon ab, wer oder was die Bindungen für das Verhalten bestimmt.
Philo-Talk: Können Sie das einmal anhand eines Beispiels erläutern?
Bentham: Ein Richter hat den Auftrag dafür zu sorgen, dass sich das Volk an die Gesetze eines Herrschers hält. Falls dagegen verstoßen wird, muss der Richter Sanktionen verhängen, zum Beispiel mit Strafen zu drohen. Diese Art von Sanktionen nenne ich „staatliche“.
Philo-Talk: Gibt es noch andere Sanktionen?
Bentham: Ja, die Sanktionen, die jeder tagtäglich aufgrund der Grenzen seiner Natur erfährt. Beispielweise kann er nicht so schnell laufen wie ein Gepard. Diese Sanktionen nenne ich „physische“.
Philo-Talk: Sie sagten, es gibt noch andere Sanktionen.
Bentham: Zum Beispiel die „religiösen Sanktionen“, die ausgelöst werden durch das Eingreifen eines höheren göttlichen Wesen.
Philo-Talk: Was hat es nun auf sich mit den „volkstümlichen Sanktionen“?
Bentham: Volkstümliche Sanktionen haben ihren Urheber in der Volksmeinung. Sie entspringen dem Moralempfinden einzelner Personen, die ihre Ansichten verbreiten. Daher nenne ich diese Sanktionen auch „moralische“. Wichtig ist es noch, dass es sich irgendwelche Personen handelt, die zufälligerweise aufgrund ihrer aktuellen Situation mit der Person, über die sie sich äußern, zu tun haben. Moralische Sanktionen dienen dazu, dass die Menschen sich an Werte, Normen und Prinzipien halten, was letztlich der Gemeinschaft, nicht einzelnen Menschen nutzen soll.
Philo-Talk: Was haben die „moralischen Sanktionen“ mit den Shitstorms zu tun?
Bentham: Wenn moralische Sanktionen über ihr Ziel hinausschießen, ohne dass ein Nutzen für die Gemeinschaft erkennbar ist, wenn beispielsweise die Volksmeinung Menschen bloßstellt oder lächerlich macht, kann man von einem Shitstorm sprechen.
Arbeitsaufträge
- Stellt in einer Tabelle die vier Benthamschen Formen von Sanktionen dar und nennt jeweils ein Beispiel für diese.
- Begründet, warum Shitstorms nach Bentham zu den Fehlformen „volkstümlicher Sanktionen“ zählen.
-
Prüft, ob die vollständige Aufgabe der Privatsphäre, wie sie „Post-Privacy“-Bewegung fordert, die Menschenrechte und die Menschenwürde* verletzt oder nicht.
*Qualität, die alle Menschen davor schützen soll, nicht körperlich und seelisch gekränkt zu werden
- Diskutiert folgendes Zitat des Philosophen Han:
„Mehr an Information und Kommunikation allein erhellt die Welt nicht. Die Durchsichtigkeit macht auch nicht hellsichtig. Die Informationsmasse erzeugt keine Wahrheit. Je mehr Information freigesetzt wird, desto unübersichtlicher wird die Welt.“
- Entwickelt ein Schaubild, das die Zusammenhänge zwischen den Begriffen „Privatheit“, „negative Freiheit“, „positive Freiheit“, „Autonomie“, „Demokratie“ und „Menschenwürde“* verdeutlicht.
→ Leitbegriff Freiheit
PbK
2.2 Analysieren und interpretieren
2.2.8 Argumentationen (*zum Beispiel aus Texten der Moralphilosophie*) für die Deutung ethisch-moralischer Sachverhalte erarbeiten und einordnen
2.3 Argumentieren und reflektieren
2.3.3 die Schlüssigkeit und den Aufbau von ethischen Argumentationen oder von ethischen Entscheidungsprozessen überprüfen und in der Argumentation anwenden
2.3.4 verschiedene Argumente in der ethisch-moralischen Auseinandersetzung in Beziehung setzen und gewichten
2.3.5 Werte und Normen bei ethischen Frage- und Problemstellungen diskutieren
IbK
3.2.3.1 (3) mediale Darstellungen unter ethisch relevanten Fragestellungen analysieren und beurteilen (zum Beispiel bezogen auf Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrechte, Privatsphäre, Menschenwürde, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit)
3.2.3.1 (4) den Stellenwert von moralischen Werten und Normen für mediale Darstellungen aus verschiedenen Perspektiven beschreiben und diskutieren (zum Beispiel Produktion, Vertrieb, Rezeption)
3.2.6.1 (2) Werte und Normen als konstitutiv für das Zusammenleben darlegen und diskutieren
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