Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Shits­torms und Moral

Der Straf­recht­ler und Rechts­phi­lo­soph Rein­hard Mer­kel (*1950) geht in einem In­ter­view auch auf die Rolle von Shits­torms im di­gi­ta­len Zeit­al­ter ein.

„Wir haben in un­se­rer Straf­pro­zess­ord­nung ein aus­dif­fe­ren­zier­tes Mo­dell von Schutz­mög­lich­kei­ten und Schwei­ge­rech­ten. Es gibt Ge­heim­nis­se, die im Straf­pro­zess nicht ge­knackt wer­den dür­fen, ob­wohl sie ge­knackt wer­den könn­ten: Aus­for­schen von Ta­ge­bü­chern, von An­ge­hö­ri­gen und der­glei­chen. Im Zeit­al­ter von Big Data wer­den diese Ver­bo­te zu­neh­mend ge­gen­stands­los, ver­lie­ren ihren Sinn. […]

Ich denke, wir wer­den bald Zeu­gen eines neuen Typus von Sui­zi­den wer­den – über Shits­torms, über ver­öf­fent­lich­te Lä­cher­lich­kei­ten, von denen man sich bio­gra­fisch nicht mehr er­holt. Ein­zel­ne Fälle gibt es ja schon, aber ich rede von einem neuen Typus sol­cher Selbst­tö­tungs­mo­ti­ve.“

(Mer­kel, Rein­hard (2016). In: Ders./Ha­rald Wel­zer [Ge­spräch auf der phil.​co­lo­gne]: Das Ende der Au­to­no­mie? In: Phi­lo­so­phie Ma­ga­zin Nr. 3, S. 26-31, hier: S. 31) [Ver­öf­fent­li­chung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung von Rein­hard Mer­kel und der phil.​co­lo­gne]

Ar­beits­auf­trä­ge

  1. Er­läu­tert Gren­zen des Straf­rechts in Bezug auf die Preis­ga­be von Ge­heim­nis­sen.
  2. Be­grün­det an­hand von zwei re­cher­chier­ten Bei­spie­len für Shits­torms, warum Shits­torms ethisch pro­ble­ma­tisch sind.

Der Rechts- und Mo­ral­phi­lo­soph Je­re­my Bent­ham (1748-1832) be­schäf­tig­te sich schon Ende des 18. Jahr­hun­dert mit dem Ein­fluss der öf­fent­li­chen Mei­nung auf den Ein­zel­nen.

Philo-Talk: Guten Tag, Herr Bent­ham. Ken­nen Sie Shits­torms?

Bent­ham: Ja, nur nenne es nicht Shits­torms, son­dern den Miss­brauch „volks­tüm­li­cher Sank­tio­nen“.

Philo-Talk: Zu­nächst ein­mal Herr Bent­ham, was ver­steht man unter Sank­tio­nen.

Bent­ham: Das Wort „Sank­ti­on“ stammt von dem la­tei­ni­schen Wort „sanc­tio“, das man über­set­zen kann mit „Akt des Bin­dens“. Sank­tio­nen sind also Bin­dun­gen, die einem Men­schen vor­schrei­ben, wie er sich zu ver­hal­ten bzw. an wel­che Re­geln er sich zu hal­ten hat.

Philo-Talk: Wel­che Sank­tio­nen gibt es denn?

Bent­ham: Das hängt davon ab, wer oder was die Bin­dun­gen für das Ver­hal­ten be­stimmt.

Philo-Talk: Kön­nen Sie das ein­mal an­hand eines Bei­spiels er­läu­tern?

Bent­ham: Ein Rich­ter hat den Auf­trag dafür zu sor­gen, dass sich das Volk an die Ge­set­ze eines Herr­schers hält. Falls da­ge­gen ver­sto­ßen wird, muss der Rich­ter Sank­tio­nen ver­hän­gen, zum Bei­spiel mit Stra­fen zu dro­hen. Diese Art von Sank­tio­nen nenne ich „staat­li­che“.

Philo-Talk: Gibt es noch an­de­re Sank­tio­nen?

Bent­ham: Ja, die Sank­tio­nen, die jeder tag­täg­lich auf­grund der Gren­zen sei­ner Natur er­fährt. Bei­spiel­wei­se kann er nicht so schnell lau­fen wie ein Ge­pard. Diese Sank­tio­nen nenne ich „phy­si­sche“.

Philo-Talk: Sie sag­ten, es gibt noch an­de­re Sank­tio­nen.

Bent­ham: Zum Bei­spiel die „re­li­giö­sen Sank­tio­nen“, die aus­ge­löst wer­den durch das Ein­grei­fen eines hö­he­ren gött­li­chen Wesen.

Philo-Talk: Was hat es nun auf sich mit den „volks­tüm­li­chen Sank­tio­nen“?

Bent­ham: Volks­tüm­li­che Sank­tio­nen haben ihren Ur­he­ber in der Volks­mei­nung. Sie ent­sprin­gen dem Mo­ral­emp­fin­den ein­zel­ner Per­so­nen, die ihre An­sich­ten ver­brei­ten. Daher nenne ich diese Sank­tio­nen auch „mo­ra­li­sche“. Wich­tig ist es noch, dass es sich ir­gend­wel­che Per­so­nen han­delt, die zu­fäl­li­ger­wei­se auf­grund ihrer ak­tu­el­len Si­tua­ti­on mit der Per­son, über die sie sich äu­ßern, zu tun haben. Mo­ra­li­sche Sank­tio­nen die­nen dazu, dass die Men­schen sich an Werte, Nor­men und Prin­zi­pi­en hal­ten, was letzt­lich der Ge­mein­schaft, nicht ein­zel­nen Men­schen nut­zen soll.

Philo-Talk: Was haben die „mo­ra­li­schen Sank­tio­nen“ mit den Shits­torms zu tun?

Bent­ham: Wenn mo­ra­li­sche Sank­tio­nen über ihr Ziel hin­aus­schie­ßen, ohne dass ein Nut­zen für die Ge­mein­schaft er­kenn­bar ist, wenn bei­spiels­wei­se die Volks­mei­nung Men­schen bloß­stellt oder lä­cher­lich macht, kann man von einem Shits­torm spre­chen.

(Frei nach: Bent­ham, Je­re­my (1789/2013): Eine Ein­füh­rung in die Prin­zi­pi­en der Moral und Ge­setz­ge­bung. Sal­den­burg: Sen­ging e.K, S. 35f.)

Ar­beits­auf­trä­ge

  1. Stellt in einer Ta­bel­le die vier Bent­ham­schen For­men von Sank­tio­nen dar und nennt je­weils ein Bei­spiel für diese.
  2. Be­grün­det, warum Shits­torms nach Bent­ham zu den Fehl­for­men „volks­tüm­li­cher Sank­tio­nen“ zäh­len.
  3. Prüft, ob die voll­stän­di­ge Auf­ga­be der Pri­vat­sphä­re, wie sie „Post-Pri­va­cy“-Be­we­gung for­dert, die Men­schen­rech­te und die Men­schen­wür­de* ver­letzt oder nicht.

    *Qua­li­tät, die alle Men­schen davor schüt­zen soll, nicht kör­per­lich und see­lisch ge­kränkt zu wer­den

  4. Dis­ku­tiert fol­gen­des Zitat des Phi­lo­so­phen Han:

„Mehr an In­for­ma­ti­on und Kom­mu­ni­ka­ti­on al­lein er­hellt die Welt nicht. Die Durch­sich­tig­keit macht auch nicht hell­sich­tig. Die In­for­ma­ti­ons­mas­se er­zeugt keine Wahr­heit. Je mehr In­for­ma­ti­on frei­ge­setzt wird, desto un­über­sicht­li­cher wird die Welt.“

(Han, Byung-Chul (42015/2012): Trans­pa­renz­ge­sell­schaft. Ber­lin: Mat­thes & Seitz, S. 68) [Ver­öf­fent­li­chung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung von Mat­thes & Seitz]

  1. Ent­wi­ckelt ein Schau­bild, das die Zu­sam­men­hän­ge zwi­schen den Be­grif­fen „Pri­vat­heit“, „ne­ga­ti­ve Frei­heit“, „po­si­ti­ve Frei­heit“, „Au­to­no­mie“, „De­mo­kra­tie“ und „Men­schen­wür­de“* ver­deut­licht.

→ Leit­be­griff Frei­heit

PbK

2.2 Ana­ly­sie­ren und in­ter­pre­tie­ren

2.2.8 Ar­gu­men­ta­tio­nen (*zum Bei­spiel aus Tex­ten der Mo­ral­phi­lo­so­phie*) für die Deu­tung ethisch-mo­ra­li­scher Sach­ver­hal­te er­ar­bei­ten und ein­ord­nen

2.3 Ar­gu­men­tie­ren und re­flek­tie­ren

2.3.3 die Schlüs­sig­keit und den Auf­bau von ethi­schen Ar­gu­men­ta­tio­nen oder von ethi­schen Ent­schei­dungs­pro­zes­sen über­prü­fen und in der Ar­gu­men­ta­ti­on an­wen­den

2.3.4 ver­schie­de­ne Ar­gu­men­te in der ethisch-mo­ra­li­schen Aus­ein­an­der­set­zung in Be­zie­hung set­zen und ge­wich­ten

2.3.5 Werte und Nor­men bei ethi­schen Frage- und Pro­blem­stel­lun­gen dis­ku­tie­ren

IbK

3.​2.​3.​1 (3) me­dia­le Dar­stel­lun­gen unter ethisch re­le­van­ten Fra­ge­stel­lun­gen ana­ly­sie­ren und be­ur­tei­len (zum Bei­spiel be­zo­gen auf Mei­nungs­frei­heit, Per­sön­lich­keits­rech­te, Pri­vat­sphä­re, Men­schen­wür­de, Ge­rech­tig­keit, Wahr­haf­tig­keit)

3.​2.​3.​1 (4) den Stel­len­wert von mo­ra­li­schen Wer­ten und Nor­men für me­dia­le Dar­stel­lun­gen aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven be­schrei­ben und dis­ku­tie­ren (zum Bei­spiel Pro­duk­ti­on, Ver­trieb, Re­zep­ti­on)

3.​2.​6.​1 (2) Werte und Nor­men als kon­sti­tu­tiv für das Zu­sam­men­le­ben dar­le­gen und dis­ku­tie­ren

Ma­chen Smart­pho­nes unser Leben frei­er oder ab­hän­gi­ger?: Her­un­ter­la­den [docx][67 KB]