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As­pek­te des Zu­hö­rens

„Ohren kann man, im Ge­gen­satz zu Augen, nicht schlie­ßen, so­dass das Ohr Ge­räu­sche stän­dig wahr­nimmt. Al­ler­dings blen­det das Ge­hirn viele Ge­räu­sche aus, und das Be­wusst­sein nimmt nur sol­che Schall­er­eig­nis­se wahr, die dem Ge­hirn re­le­vant er­schei­nen. Hören ist zu­nächst ein­mal die akus­ti­sche Wahr­neh­mung und Ver­ar­bei­tung von Schall­er­eig­nis­sen (...) Zu­hö­ren hin­ge­gen meint we­sent­lich mehr, näm­lich die so­ge­nann­te au­di­to­ri­sche Reiz­ver­ar­bei­tung: Wir se­lek­tie­ren den akus­ti­schen Reiz, rich­ten die ko­gni­ti­ve Auf­merk­sam­keit dar­auf aus und in­ter­pre­tie­ren ihn. Dem Schall­er­eig­nis wird so Sinn­haf­tig­keit un­ter­stellt.“ 1

Die hier be­schrie­be­ne Kom­pe­tenz wird als „Hör­ver­ste­hen“ be­zeich­net. Wäh­rend im All­tag Zu­hö­ren in der Regel ver­bun­den ist mit einer Reihe kom­mu­ni­ka­ti­ver An­for­de­run­gen (Kom­mu­ni­ka­ti­ons­si­tua­tio­nen), meint Hör­ver­ste­hen ein Zu­hö­ren in mo­no­lo­gi­schen Kon­tex­ten. Dabei ist die Rolle des Schü­lers genau fest­ge­legt: Er ist der Zu­hö­ren­de. Es geht also um die Fä­hig­keit, einen münd­lich vor­ge­tra­ge­nen Text auf­merk­sam zu ver­fol­gen und ge­zielt In­for­ma­tio­nen zu ent­neh­men. Dabei geht es ins­be­son­de­re auch darum, sich auf das We­sent­li­che zu kon­zen­trie­ren und Un­we­sent­li­ches zu über­hö­ren.2

Zu­hö­ren ist also eine be­son­de­re Kon­zen­tra­ti­ons­leis­tung, denn ein „we­sent­li­ches Cha­rak­te­ris­ti­kum ge­spro­che­ner Spra­che ist ihre Flüch­tig­keit. In­hal­te müs­sen vom Hörer in Echt­zeit ver­ar­bei­tet wer­den.“ 3 Daher be­deu­tet Zu­hö­ren eine hohe Be­an­spru­chung des Ar­beits­ge­dächt­nis­ses. Zudem setzt gutes Zu­hö­ren auch Sen­si­bi­li­tät für pro­so­di­sche Merk­ma­le des Ge­spro­che­nen vor­aus.

Das fol­gen­de Bei­spiel ver­deut­licht dies. Hier wird ge­zeigt, dass je nach Be­to­nung nach Ort, Per­son oder Zeit ge­fragt wird.

Gehst du heute ins Kino?
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Ähn­lich wie Le­se­pro­zes­se funk­tio­niert auch Zu­hö­ren so­wohl als bot­tom-up als auch als top-down-Pro­zess. Das neu Ge­hör­te trifft immer auf be­reits vor­han­de­ne Si­tua­ti­ons­mo­del­le. Diese wer­den de­fi­niert als „Vor­stel­lun­gen, die sich eine Per­son auf der Grund­la­ge der ihr zur Ver­fü­gung ste­hen­den In­for­ma­tio­nen und unter Ein­be­zie­hung der ei­ge­nen Vor­er­fah­run­gen macht. Diese Vor­stel­lung kann beim Hin­zu­kom­men neuer In­for­ma­tio­nen be­stä­tigt oder ir­ri­tiert wer­den. Dies be­deu­tet, dass ein in­di­vi­du­el­les Si­tua­ti­ons­mo­dell (...) nicht erst im bot­tom-up-Ver­fah­ren nach Kennt­nis aller In­for­ma­tio­nen ge­fol­gert, son­dern un­mit­tel­bar ge­bil­det wird.“ 5

Dies ver­an­schau­licht das fol­gen­de Bei­spiel:

Hans war auf dem Weg zur Schu­le. Er mach­te sich Sor­gen wegen der Ma­the­ma­tik­stun­de.

Er hatte Angst, er würde die Klas­se nicht unter Kon­trol­le hal­ten kön­nen.

Beim Hören des ers­ten Sat­zes wird sich bei den meis­ten Men­schen die Vor­stel­lung, dass es sich bei Hans um einen Schü­ler han­delt, ge­bil­det haben. Die­ses Mo­dell muss nach dem Hören des zwei­ten Sat­zes re­vi­diert wer­den. Das ge­bil­de­te Mo­dell muss somit noch wäh­rend des Zu­hö­rens fort­wäh­rend an­ge­passt wer­den. Ge­lin­gen­des Zu­hö­ren kann also als kom­ple­xer Pro­zess be­schrie­ben wer­den, bei dem ins­be­son­de­re die Fä­hig­keit, sich zu kon­zen­trie­ren von zen­tra­ler Be­deu­tung ist.6

Zu­hö­ren und Hör­ver­ste­hen sind somit an­spruchs­vol­le Leis­tun­gen, des­halb er­scheint die Fo­kus­sie­rung auf Teil­as­pek­te für die schu­li­sche Pra­xis sinn­voll. Hör­ver­ste­hens­auf­ga­ben soll­ten dem­nach in ver­schie­de­ne Auf­ga­ben­for­ma­te an­ge­legt wer­den, die je­weils eine be­stimm­te Teil­kom­pe­tenz för­dern, z. B. die Kon­zen­tra­ti­on. Diese ist beim Zu­hö­ren z. T. in noch grö­ße­rem Maße von Be­deu­tung als beim Lesen. Denn an­ders als beim Le­se­pro­zess ist das Sprechtem­po vor­be­stimmt, ein Zu­rück­blät­tern nicht mög­lich. Auch un­be­kann­te Wör­ter stel­len beim rei­nen Hören eine grö­ße­re Her­aus­for­de­rung dar, denn eine so­for­ti­ge Klä­rung von Be­grif­fen (z. B. durch das Lesen von Fuß­no­ten und an­de­ren Er­läu­te­run­gen) ist nicht mög­lich. An­de­rer­seits wird Zu­hö­ren oft als leich­ter emp­fun­den, weil durch die Stimm­füh­rung, die Ver­tei­lung des Tex­tes auf ver­schie­de­ne Spre­cher, Ge­räu­sche usw. schon Ver­ständ­nis- und Deu­tungs­hil­fen an­ge­bo­ten wer­den.7

In der Schu­le sind Hör­ver­ste­hens­auf­ga­ben Text­ver­ständ­nis­auf­ga­ben oft sehr ähn­lich. Es er­scheint also sinn­voll, Le­se­ver­ste­hen und Hör­ver­ste­hen mit­ein­an­der in Be­zie­hung zu set­zen. Wäh­rend in der Le­se­för­de­rung seit lan­gem per­so­na­le As­pek­te wie z.B. Mo­ti­va­ti­on, Kon­zen­tra­ti­on etc. sowie so­zia­le As­pek­te (An­schluss­kom­mu­ni­ka­ti­on) bei der Ge­stal­tung von Auf­ga­ben eine Rolle spie­len, wer­den diese Fa­cet­ten beim Ein­satz von Hör­tex­ten oft noch wenig be­rück­sich­tigt.8

In An­leh­nung an das Meh­re­be­nen­mo­dell des Le­sens von Ro­se­brock und Nix9 ent­wi­ckel­te Ruth Gschwend zur Dar­stel­lung des Hör­ver­ste­hens daher ein Mo­dell, das neben der Pro­zes­s­ebe­ne auch die per­so­na­le und so­zia­le Ebene des Zu­hö­rens be­rück­sich­tigt. Wie beim Le­se­pro­zess wird zudem zwi­schen hier­ar­chie­nied­ri­gen Pro­zes­sen (Laute er­ken­nen, Wör­ter und Sätze er­fas­sen, Zu­sam­men­hän­ge her­stel­len) und hier­ar­chie­hö­he­ren Pro­zes­sen (Sche­ma­ta ab­ru­fen und er­wei­tern, Su­per­struk­tu­ren er­ken­nen, Dar­stel­lungs­in­ten­tio­nen iden­ti­fi­zie­ren) un­ter­schie­den.10

Pro­zes­s­ebe­ne hier­ar­chie­nied­ri­ge Pro­zes­se

 

 

hier­ar­chie­hö­he­re Pro­zes­se

  • Laute er­fas­sen, iden­ti­fi­zie­ren, sor­tie­ren, grup­pie­ren (nach Imhof 2010, S. 19)
  • Worte er­ken­nen, Be­deu­tung zu­wei­sen, Sätze ver­ar­bei­ten, Vor­wis­sen zu Hilfe neh­men, Zu­sam­men­hän­ge her­stel­len (ebd.)
  • Sche­ma­ta ab­ru­fen und er­wei­tern, schluss­fol­gern, mit Vor­wis­sen ver­knüp­fen (ebd.)
  • Su­per­struk­tu­ren er­ken­nen
  • Dar­stel­lungs­in­ten­tio­nen iden­ti­fi­zie­ren
Sub­jekt­ebe­ne (per­so­na­le Ebene)
  • Vor­wis­sen/Hö­r­er­fah­run­gen
  • Auf­merk­sam­keits­steue­rung/Kon­zen­tra­ti­on
  • Mo­ti­va­ti­on/In­ter­es­se
  • Emo­ti­on (Em­pa­thie- und Ge­nuss­fä­hig­keit)
  • Selbst­kon­zept
So­zia­le Ebene
  • An­schluss­kom­mu­ni­ka­ti­on (evtl. so­zia­ler/kul­tu­rel­ler Hör­raum, nach Hagen/Huber 2010, S. 186)
  • Fa­mi­lie – Peers –Schu­le – Me­di­en

Ab­bil­dung 1: Kom­pe­tenz­mo­dell „Hör­ver­ste­hen“ in An­leh­nung an das Meh­re­be­nen­mo­dell von Ro­se­brock/Nix (2008, S. 16) aus: Ruth Gschwend: Zu­hö­ren und Hör­ver­ste­hen, S. 154f.

Die hier be­schrie­be­nen hier­ar­chie­nied­ri­gen Teil­kom­pe­ten­zen der Pro­zes­s­ebe­ne wer­den im so­ge­nann­ten S-O-I –Mo­dell (Se­lek­ti­on-Or­ga­ni­sa­ti­on-In­te­gra­ti­on) von Ma­ga­re­te Imhof de­tail­liert be­schrie­ben.11 Zu­hö­ren er­scheint hier als mehr­stu­fi­ger Pro­zess der In­for­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung.

Schema Zuhörerabsicht

Ab­bil­dung 2: Zu­hö­ren als mehr­stu­fi­ger Pro­zess der In­for­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung
aus: Mar­ga­re­te Imhof, Zu­hö­ren ler­nen und leh­ren, in: HÖR­PÄD 3/2013, S. 95

Si­gna­le wer­den ge­fil­tert, durch die Or­ga­ni­sa­ti­on der In­for­ma­ti­on wird das Ge­hör­te sor­tiert und in­ter­pre­tiert, bevor es dann im Lang­zeit­ge­dächt­nis mit dem Vor­wis­sen ver­knüpft und in­te­griert wird. Diese Ak­ti­vie­rung der In­hal­te aus dem Lang­zeit­ge­dächt­nis dient auch der Über­wa­chung des ak­tu­el­len Zuhör- und Ver­ste­hens­pro­zes­ses. Denn indem re­le­van­te Sche­ma­ta oder Vor­wis­sen ak­ti­viert wer­den, wird die Ver­ar­bei­tung der neuen In­for­ma­ti­on un­ter­stützt und be­schleu­nigt. Un­ter­su­chun­gen haben ge­zeigt, dass Zu­hö­rer, die im Vor­aus wuss­ten, wor­über ein Text han­delt, mehr In­for­ma­tio­nen her­aus­hö­ren konn­ten, auch wenn die Über­tra­gung ge­stört wurde.

Eine ähn­lich ori­en­tie­ren­de Wir­kung haben Fra­gen, die vor dem Hören eines Tex­tes ge­stellt wer­den. Auch so kann die In­for­ma­ti­ons­auf­nah­me ge­zielt ge­steu­ert wer­den.12 Beide As­pek­te kön­nen im schu­li­schen Kon­text durch die ent­spre­chen­de Vor­ent­las­tung eines Hör­tex­tes be­rück­sich­tigt wer­den.

Ein kom­pe­ten­ter und au­to­no­mer Zu­hö­rer kann diese Pro­zes­se selbst­stän­dig und ef­fek­tiv steu­ern. Die För­de­rung der Zu­hör­kom­pe­tenz soll­te daher auch Maß­nah­men zur Stei­ge­rung der Fä­hig­keit zur Selbst­re­gu­la­ti­on um­fas­sen.

Tabelle: Selbstregulation

Ab­bil­dung 3, aus: Mar­ga­re­te Imhof, Zu­hö­ren ler­nen und leh­ren, S.20

 


1   Spie­gel, Car­men: Zu­hö­ren im Ge­spräch (2009), S. 190.

2   s. Gschwend a.a.O. S. 147f.

3   s. Beh­rens: As­pek­te eines Kom­pe­tenz­mo­dells Zu­hö­ren und Mög­lich­kei­ten ihrer Tes­tung (2014), S. 40.

4   s. Beh­rens a.a.O. S.41.

5   Beh­rens a.a.O. S. 45f. Hier fin­det sich auch das an­ge­ge­be­ne Bei­spiel.

6   s. die v. Gschwend a.a.O. an­ge­führ­te Un­ter­su­chung S. 152.

7   s. Mül­ler, Karla: Li­te­ra­tur hören und hör­bar ma­chen, in: Pra­xis Deutsch 185 (Mai 2004), S. 7.

8   s. Gschwend a.a.O. S. 153.

9   Ro­se­brock/ Nix: Grund­la­gen einer Le­se­di­dak­tik und der sys­te­ma­ti­schen schu­li­schen För­de­rung (2008).

10   s. Gschwend a.a.O. S. 153ff.

11   s. Imhof, Zu­hö­ren ler­nen und leh­ren. Psy­cho­lo­gi­sche Grund­la­gen zur Be­schrei­bung und För­de­rung von Zu­hör­kom­pe­tenz in Schu­le und Un­ter­richt, S. 18f.

12   s. ebd.

 

Zu­hö­ren im Deutsch­un­ter­richt: Her­un­ter­la­den [pdf][855 KB]

 

Wei­ter zu Zu­hö­ren und Lesen