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Didaktische Aspekte

Das Schiff Esperanza ist sicher das erfolgreichste deutschsprachige Hörspiel der Nachkriegszeit, wie bereits mehrfach in Würdigungen betont worden ist. Es ist aber auch ein in besonderer Weise für die Verwendung in der Schule geeignetes Werk, sozusagen ein didaktischer Glücksfall. Sowohl als gut zugänglicher Vertreter einer literarischen Gattung, als auch als literarisches Werk mit Eigenwert lohnt Hoerschelmanns bekanntestes Hörspiel die Beschäftigung. Durch die zentralen Themen von Schuld, Verantwortung und menschlichen Lebensentwürfen eignet es sich auch besonders zur Behandlung in Klassen, in denen gerade kritische Entwicklungsphasen durchlaufen werden. Darüber hinaus hat es durch die Bürgerkriege im Nahen Osten und die durch diese ausgelösten Fluchtbewegungen in letzter Zeit eine eindringliche Aktualität bekommen, die im Zusammenhang mit der Leitperspektive der „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)“ steht.

Zusätzlich bietet es sich ebenso für eine identifikatorische, wie auch für eine analytische Erschließung an. Identifikatorisch gelingen Verfolgung und Erfassung der Handlung ebenso wie die Erschließung des Charakters Axel Groves, der den Schülerinnen und Schülern im Alter nahe ist. Auch die Entzauberung des Vaters, die in seinem Fall dramatische Ausmaße annimmt, wie auch die Abkehr von sicher geglaubtem Wissen über die eigene Person und die Welt lassen eine Aneignung durch Einfühlung und Empathie zu. An dieser Stelle ist wieder die Leitperspektive der „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt (BTV)“ sehr nahe, wo die „Auseinandersetzung mit der eigenen Identität“, aber auch „die Konfrontation mit dem Anderen“ betont werden.

Die erstmals verstärkt analytische Arbeit am Text bietet sich vor allem da an, wo es um Arbeit mit Motiven und Symbolen geht. Diese Arbeit erfordert Distanznahme, indem ein Sachverhalt im Text eben nicht ein kausal bedingter und pragmatisch zu begreifender Umstand ist, sondern Bedeutung trägt, die über die Handlungsebene hinausweist. Der Kapitän will das Schiff weiß streichen lassen, nicht nur, weil neue Farbe Rostschutz bedeutet, sondern weil das Weiße als Symbol für den Anschein von Schuldlosigkeit fungiert. Das Schiff Esperanza ist reich an derlei Symbolen, die sich sehr zum Einstieg in die literarische Deutung jenseits der Handlungsebene eignen.

Ein weiteres Beispiel für die besondere Bedeutung, die Symbole im Hörspiel Hoerschelmanns tragen, ist der Name des Schiffes Esperanza, das Schauplatz der Handlung ist, aber auch Bild der Welt. „Esperanza“, also Hoffnung, heißt das Schiff zu Recht, indem es für Auswanderer aus dem zerstörten Europa und Flüchtlinge vor der Justiz die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben in einer neuen Welt darstellt. Zu dieser Zuschreibung passt die weiße Farbe des Schiffes, die der Kapitän Grove erneuern lässt, „das unschuldigste Weiß, das es gibt“(13) 1, nennt er es. Das Weiß des Schiffes erweist sich aber als trügerisch, indem mit der Farbe lediglich der alte Rost überstrichen wird, was wiederum zur Deutung einlädt. Parallel dazu ist die Hoffnung der Auswanderer trügerisch, da sie bald auf einer Sandbank ausgesetzt werden sollen und keiner von ihnen die neue Welt erreichen soll. Somit ist der Name des Schiffes Esperanza in doppeltem Sinne mehrdeutig: Er fungiert als Benennung und als Hinweis auf die Funktion des Hoffnungsträgers. Außerdem weist das Symbol in zwei Richtungen, in die der hoffenden Menschen, als auch in die der Täuschung. Der neue Bildungsplan thematisiert die Arbeit mit derlei literarischen Funktionen im Abschnitt „Literarische Texte“ im Standard 18: „die Mehrdeutigkeit von literarischen Texten erkennen und in Grundzügen erläutern“. Konsequent arbeitet das Hörspiel mit mehrdeutiger Symbolik. Das Schiff heißt Hoffnung, weckt Hoffnung in Flüchtlingen und zerstört am Ende fast alle Hoffnung.

Am Ende des Hörspiels ist klar geworden, dass die Auswanderer auf einer Sandbank ausgesetzt sind, auf der sie sterben werden, darüber hinaus, dass Axel Grove bei ihnen ist. 2 Kontrafaktisch dagegen steht das Schicksal des Kassierers Megerlin. Er wird bereits zu Beginn des Hörspiels deutlich als ängstlich und zaghaft eingeführt. Ihm, dem kurz nach der Abreise schon das Unternehmen zu groß und gewagt vorkommt, gehören die letzten Worte des Werkes:

Jetzt hat das Schiff gewendet. Fahren wir wieder zurück auf das offene Meer? Wie herrlich… Das dunkle Meer… das dunkle Schiff… der dunkle Himmel… Aber es wird immer heller, immer heller. Jetzt wird sie bald erscheinen, die Sonne – kaum zu glauben, dass in diese Dunkelheit und diese Stille der Tag einbrechen wird. Wie ich mich darauf freue. Als wäre ich von neuem zur Welt gekommen, eine ganz andere, herrliche, riesige Welt…(62)

Dieser euphorische Ausblick wird vom zentralen Symbol des Sonnenaufgangs begleitet, auf den bislang erst gehofft wurde. Auch hier führen identifikatorische und analytische Lektüre zu unterschiedlichen Ergebnissen, zum Miterleben der neuen Hoffnung, oder zur Skepsis an der Fähigkeit Megerlins, seine eigenen Erwartungen zu verwirklichen.

Deutlich wird aus dem Bisherigen, dass das Schiff Esperanza die analytische Arbeit mit Motiven und Symbolen sehr anbietet. Wie gezeigt werden sollte, lohnt sich diese Arbeit auch und besonders mit Blick auf den neuen Bildungsplan. Dabei können manche Erkenntnisse durchaus identifikatorisch und analytisch erreicht werden, bzw. die Erkenntnisse aus den verschiedenen Lesarten einander ergänzen. Die moralische Fragwürdigkeit des Kapitän Grove und seiner Handlungen wird im miterlebenden Lesen aus Axels Perspektive ebenso deutlich wie durch die analytische Einordnung und Deutung von Symbolen, zum Beispiel der Farbe Weiß und dem Namen des Schiffes. Das Analytische vertieft dabei den Einblick in Hintergründe und Handlungsmotive.

Ähnlich wie es Moby Dick in epischer Breite unternimmt, ein Abbild der Welt in einem Schiff zu erzeugen, lässt sich die Esperanza als Bedeutung tragendes Modell verstehen. Besonders die vertikale Dimension ist auf eindrucksvolle Weise sinntragend. Kapitän Grove auf der Brücke steht ganz oben, die Flüchtlinge sind im Kielraum, mithin ganz unten eingepfercht. Die dort herrschende Dunkelheit verstärkt den Symbolwert der Anordnung. Kennzeichen der Orientierungsversuche Axels ist es, dass er zwischen oben und unten umherirrt. Hier unterstützt der Text die Erweiterung der Lesehaltungen. Die Machtstrukturen auf dem Schiff erschließen sich bereits dem identifikatorischen Lesen, die Analyse zeigt Bestätigung und Präzisierung durch Symbole. Diese finden sich im Bildungsplan erstmals für 7/8 erwähnt: Die Schülerinnen und Schüler können

wesentliche Elemente eines Textes (Titel, Aufbau, Handlungs- und Konfliktverlauf, Figuren und Figurenkonstellation, Raum- und Zeitgestaltung, Motive, Symbole) bestimmen, analysieren und in ihrer Funktion beschreiben (7)

Dabei ist die Anforderung, in der räumlichen Gliederung des Schiffes nicht nur pragmatischen Nutzen, sondern auch symbolischen Wert zu erkennen, keineswegs trivial. Es zeigt sich hier eine Möglichkeit,

zwischen Sachtexten und literarischen Texten <zu> unterscheiden; Fiktionalität <zu> erkennen (5)“.

Dieser Standard fordert grundsätzlich Analytisches, nämlich Klarheit über die eigene Einstellung zum Text, das heißt, ob das dargestellte Geschehen als Faktum oder als Symbol gelesen wird. Dieses Vermögen ist ja noch im Abitur häufig nicht hinreichend gefestigt. Im Schiff Esperanza bietet sich vielfältig die Möglichkeit, die Unterscheidung zwischen Handlungslogik und Verweisebene sichtbar zu machen und so das analytische Lesen einzuüben.

Das Schiff Esperanza bietet nicht nur da Möglichkeiten, dem neuen Bildungsplan zu begegnen, wo es um die Erfüllung einzelner Standards geht. Das Hörspiel weist in seinen Inhalten über den Deutschunterricht im engeren Sinne hinaus und erweist sich so als besonders sinnvoll im Zusammenhang mit dem neuen Bildungsplan. Zum einen wird mit dem Konflikt zwischen Axel und Kapitän Grove die Entzauberung der Vaterinstanz thematisiert, die in der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler in den Klassenstufen 7/8 von großer Bedeutung ist. Zum anderen wird das Thema Flucht konkret gemacht. Zwar scheint der historische Bezugsrahmen, den das Hörspiel anvisiert, zunächst weit entfernt von heutigen Jugendlichen, es zeigt sich aber gerade im Detail eine beeindruckende Nähe des Dargestellten zu heutigen Umständen einer Flucht über das Meer. In diesem Zusammenhang ist die Leitperspektive Bildung für nachhaltige Entwicklung von großer Relevanz. Ihr Beitrag zum Fach Deutsch ist wie folgt formuliert:

Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)

In der Auseinandersetzung mit Literatur wie mit Sach- und Gebrauchstexten wird der Deutschunterricht zu einem Forum, in dem gesellschaftlich relevante Fragen diskutiert werden. Dadurch wird nicht nur das Urteilsvermögen der Schülerinnen und Schüler gestärkt, auch ein differenziertes Textverständnis ist notwendig, um die Fähigkeit zu demokratischer Teilhabe, Mitwirkung und Mitbestimmung in einer komplexen Lebenswelt mit ihren globalen Herausforderungen im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Das Schiff Esperanza und seine Behandlung im Deutschunterricht der achten Klasse kann dabei helfen, die Aufmerksamkeit für globale Entwicklungen zu schärfen, aber auch Fragen zur persönlichen Verantwortung im Zusammenhang mit der Situation von Flüchtlingen in Deutschland zum Thema zu machen. Diese Anforderung ist übrigens nicht nur in der Leitperspektive verankert, sondern auch in einem konkreten Standard im Abschnitt „Texte kontextualisieren“, wo es heißt: „vergleichend eigene und literarische Lebenswelten beschreiben und reflektieren (Alterität auch in Bezug auf kulturelle, ethnische, religiöse und weltanschauliche Prägungen <…>I (20). Dieser Standard weist bereits über die angesprochenen literarischen Lebenswelten hinaus, festgeschrieben findet sich das im betreffenden Standard in 9/10, wo „eigene und fremde Lebenswelten“ (23) Gegenstände der Kontextualisierung sind, aber auch in 7/8 drängt sich der Blick über die Grenzen des Textes hinaus auf aktuelle Gegebenheiten auf. Für die Erschließung des Hörspiels bietet sich neben der Anbindung an aktuelle Gegebenheiten bietet sich auch die Einbettung des Werkes in seinen historischen Bezugsrahmen an. Der Bildungsplan fordert, dies eine weitere Neuerung, dass die Schülerinnen und Schüler

exemplarisch historische Kontexte in ihr Verständnis von Texten einbeziehen (auch Mittelalter), indem sie Bezüge zu Entstehungszeit und bedingungen herstellen (22)“.

Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Verdrängung von Schuld in der frühen Nachkriegszeit sind am vorliegenden Beispiel leicht als grundlegendes Thema sichtbar zu machen. Auf der anderen Seite werden hier geistesgeschichtliche Verfahren, wie sie in der Kursstufe gefordert werden, in einer Vorform angelegt.

Im Ergebnis zeigt sich, dass sich das Schiff Esperanza als Jugendbuch ebenso wie als „Erwachsenenliteratur“ 3 lesen und unterrichten lässt. Der Unterschied, bei der Unterscheidung von Texten häufig diffus, ist didaktisch, also mit Blick auf die Unterrichtsziele, gut zu leisten. Da, wo vordringlich ein identifikatorisches Lesen gewollt ist, wo der Text miterlebend erschlossen werden soll, ist eine Beschäftigung mit Jugendliteratur gegeben. Dort, wo durch analytisches Vorgehen auf analytische Ergebnisse abgezielt wird, ist dieser Bereich verlassen. 4 Es ist ein Verdienst des neuen Bildungsplans, diesen Unterschied in Herangehensweisen und Zielen deutlicher sichtbar gemacht zu haben.


1   Zitiert nach der Reclamausgabe RUB 8762.

2   Die Parallele zu dem Ende des Jungen im gestreiften Pyjama, in dem auch ein schuldiger Vater nach dem nicht mehr zu rettenden Sohn sucht, zeigt den Unterschied der angestrebten Lesehaltungen. Während im reinen Jugendbuch der Text und seine Wirkung verstanden werden sollten, fordert das Schiff Esperanza, besonders in seiner Arbeit mit Symbolen, zur distanzierten, ja kritischen Lektüre heraus.

3   Wie prekär und wenig gesichert der Begriff der Jugendliteratur ist, zeigt sich auch darin, dass die begriffliche Fassung dessen, was eben kein Jugendbuch ist, kaum zu leisten ist.

4   Natürlich wird Kleider machen Leute durch die Behandlung in Klasse 7 nicht zum Jugendbuch. Wichtiger als die kategoriale Einordnung des Textes aber ist wohl die didaktische Trennung der Unternehmungen im Unterricht.

 

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