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Tri­vi­al­ro­man ana­ly­tisch

Iden­ti­fi­ka­to­risch, Ana­ly­tisch - Le­se­wei­sen und Le­se­be­dürf­nis­se – Mög­lich­kei­ten des Arzt­ro­mans

Li­te­ra­ri­sche Texte las­sen sich be­kannt­lich sehr un­ter­schied­lich er­le­ben, je nach­dem, wel­che Le­se­hal­tung man ihnen ge­gen­über ein­nimmt. In der Deutsch­di­dak­tik wer­den vor allem iden­ti­fi­ka­to­ri­sches und ana­ly­ti­sches Lesen von­ein­an­der un­ter­schie­den, denen un­ter­schied­li­che Ent­wick­lungs­pha­sen ju­gend­li­cher Leser zu­ge­ord­net wer­den. Die Fä­hig­keit zum ana­ly­ti­schen Lesen wächst im Ver­lauf der schu­li­schen Ent­wick­lung par­al­lel zum Abs­trak­ti­ons­ver­mö­gen, wie der Un­ter­richts­ver­such in der ach­ten Klas­se ge­zeigt hat. Al­ler­dings löst das ana­ly­ti­sche Lesen das iden­ti­fi­ka­to­ri­sche nicht ab, die­ses bleibt als Op­ti­on nutz­bar bis weit über die Schul­zeit hin­aus, wie jeder Leser aus ei­ge­ner Er­fah­rung weiß. Im Leben nach der Schul­zeit ist die Un­ter­schei­dung oft gleich­be­deu­tend mit der zwi­schen be­ruf­li­cher und pri­va­ter Lek­tü­re. Das be­deu­tet, dass Le­se­wei­sen Tex­ten und Le­se­si­tua­tio­nen zu­ge­ord­net wer­den, also nach Ar­beits- und Frei­zeit­lek­tü­re un­ter­schie­den wird. Der neue Bil­dungs­plan the­ma­ti­siert die bei­den Le­se­hal­tun­gen über den Zeit­raum der in 7/8 ver­or­te­ten Er­wei­te­rung der Mög­lich­kei­ten hin­aus bis in die Kurs­stu­fe, dies al­ler­dings recht dis­kret. In der Folge sei an einem Mo­dell an diese spä­te­re The­ma­ti­sie­rung her­an­ge­führt.

In den Klas­sen­stu­fen 7/8 wird ein be­trächt­li­cher Zu­wachs an Abs­trak­ti­ons­ver­mö­gen ver­or­tet. In der Kon­se­quenz wan­deln sich die für den Un­ter­richt ge­wähl­ten Lek­tü­ren und Text­sor­ten, eben­so die an­ge­leg­ten Un­ter­richts­zie­le. Am auf­fäl­ligs­ten ist dabei die Ab­lö­sung der Nach­er­zäh­lung durch die In­halts­an­ga­be, aber auch die im neuen Bil­dungs­plan nie­der­ge­leg­ten An­for­de­run­gen an die Aus­ein­an­der­set­zung mit Tex­ten zeigt sich die Kon­zen­tra­ti­on auf das ana­ly­ti­sche Lesen.

Das ana­ly­ti­sche Lesen an sich kann, wie ge­zeigt wer­den konn­te, in der ach­ten Klas­se mit Ge­winn ein­ge­übt wer­den. In der Kurs­stu­fe lässt sich das bis dahin Ge­lern­te mit Ge­winn re­flek­tie­ren.

Das nach­fol­gen­de Bei­spiel soll zei­gen, dass ver­schie­de­ne Le­se­wei­sen am glei­chen Text nicht nur mög­lich, son­dern auch er­hel­lend sein kön­nen.

„Ich gebe dich nicht auf, nie­mals!“, brüllt der Mann auf dem Bei­fah­rer­sitz wü­tend.

„Un­se­re Liebe ist doch schon lange vor­bei, Bob“, er­wi­dert Brit­ta und ver­sucht sich auf den Stra­ßen­ver­kehr zu kon­zen­trie­ren. „Du hast in mir immer nur das be­rühm­te Su­per­mo­del ge­se­hen. Aber ich sehne mich nach einer Fa­mi­lie, nach einem Kind … nach einem ganz nor­ma­len Leben!“

„So ein Un­sinn!“, be­gehrt der Mann auf. „Ich lasse dich nicht gehen, eher…“ Er spricht nicht wei­ter, doch im nächs­ten Mo­ment greift er Brit­ta ins Steu­er. Der Wagen schlin­gert, kommt von der Fahr­bahn ab. Glas split­tert, zer­schnei­det Arme und Ge­sicht, Blech knirscht.

Doch all das hört Brit­ta schon nicht mehr, eine gnä­di­ge Dun­kel­heit hält sie um­klam­mert… (3)

Die­ser Aus­zug aus dem Roman Nachts in der Ber­ling-Kli­nik. Ein Un­fall zer­stört das Leben einer schö­nen Frau von Kat­rin Kas­tell bie­tet viel Ma­te­ri­al für ver­schie­de­ne Lek­tü­re­wei­sen. Er stammt aus der Ro­man­rei­he Chef­arzt Dr. Holl, in der er die 1645­te Fort­set­zung dar­stellt 1.

Leser die­ses kur­zen Aus­zugs wer­den nicht im Zwei­fel über die han­deln­den Per­so­nen ge­las­sen. Brit­ta ist schön und mo­ra­lisch in­te­ger, das be­weist ihre Un­zu­frie­den­heit mit dem Da­sein als Su­per­mo­del. Bob da­ge­gen ist nicht nur un­be­herrscht, son­dern auch noch be­sitz­er­grei­fend. Brit­ta muss und wird sich von ihm be­frei­en. Dem iden­ti­fi­ka­to­ri­schen Leser wird die Ver­tei­lung sei­ner Sym­pa­thi­en leicht ge­macht. Brit­ta ist im Recht, auch wird sie am Ende, hier­für sind die Si­gna­le eben­so deut­lich, glück­lich sein. In der kur­zen Pas­sa­ge, die sich oben zi­tiert fin­det, ist schon die Tat­sa­che, dass Bob „brüllt“ und Brit­ta „er­wi­dert“, Hin­weis dar­auf, dass nur die Prot­ago­nis­tin Ver­nunft­grün­den zu­gäng­lich ist. In der Logik der Gat­tung be­deu­tet das, dass sie sich durch­set­zen wird. Wich­tig im Zu­sam­men­hang mit dem neuen Bil­dungs­plan ist, dass die skiz­zier­te Weise, zu einem Text­ver­ständ­nis zu kom­men, am ehes­ten dem ent­spricht, was für 5/6 ge­for­dert wird. Dort heißt es in den Vor­be­mer­kun­gen zu „Li­te­ra­ri­sche Texte“: „Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler näh­ren sich al­ters­ge­mä­ßen li­te­ra­ri­schen Tex­ten und ge­winn­nen einen per­sön­li­chen Le­seein­druck. Sie ver­ste­hen deren we­sent­li­che In­hal­te, kön­nen Er­le­ben, Han­deln und Ver­hal­ten li­te­ra­ri­scher Fi­gu­ren be­schrei­ben und er­wei­tern ihre Vor­stel­lungs­kraft.“

Der Tri­vi­al­ro­man als Text­sor­te lässt sich leicht ab­ur­tei­len, er ist in der Regel schnell ge­schrie­be­ne Ver­brauchs­li­te­ra­tur und auf mü­he­lo­se Les­bar­keit an­ge­legt. Kaum ein Autor ver­öf­fent­licht in die­sem Genre unter sei­nem ei­gent­li­chen Namen. Dass die Au­to­rin des vor­lie­gen­den Tex­tes Kat­rin Kas­tell heißt, darf be­zwei­felt wer­den. Al­ler­dings ist die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft schon seit län­ge­rer Zeit dazu über­ge­gan­gen, die­ses Feld ins Auge zu fas­sen und ernst­zu­neh­men. Auch bie­tet die Text­sor­te auf sehr di­rek­te Weise die Mög­lich­keit, äl­te­ren Schü­lern die Un­ter­schie­de zwi­schen iden­ti­fi­ka­to­ri­schem und ana­ly­ti­schem Lesen und da­durch das ei­ge­ne Le­se­ver­hal­ten be­wusst zu ma­chen. Ich emp­feh­le sehr eine kurze Un­ter­richts­ein­heit gegen Ende der Kurs­stu­fe, der er­hel­len­de Ef­fekt auf die Selbst­wahr­neh­mung le­sen­der Schü­ler ist mei­ner Er­fah­rung nach be­trächt­lich.

Zu­rück zum Un­ter­su­chungs­ob­jekt: Der In­halt des Ro­mans ist schnell wie­der­ge­ge­ben: Brit­ta, sehr er­folg­rei­ches Model, er­fährt bei einer Rou­ti­ne­un­ter­su­chung, dass sie schwan­ger ist. Wäh­rend ihr Ma­na­ger eine Ab­trei­bung ver­langt, will ihr Freund mit­hil­fe des er­war­te­ten Kin­des sei­nen Be­sitz­an­spruch auf die junge Frau fes­ti­gen. Durch eine Not­ope­ra­ti­on muss die Schwan­ger­schaft ab­ge­bro­chen wer­den, Brit­ta aber fin­det nicht in ihr altes Leben als Model zu­rück, dafür aber zu dem at­trak­ti­ven As­sis­tenz­arzt Ni­k­las, mit dem sie nach ei­ni­gen dra­ma­ti­schen, nicht aber über­ra­schen­den Ver­wick­lun­gen end­gül­tig zu­sam­men­kommt. Der un­be­herrsch­te Freund, Bob, kommt bei dem von ihm ver­schul­de­ten Un­fall ums Leben, so­dass der Weg für die neue Liebe frei ist. Eine Ne­ben­hand­lung um die eben­falls in Ni­k­las ver­lieb­te Kran­ken­schwes­ter Uschi ver­voll­stän­digt das Spek­trum an Cha­rak­te­ren.

Ana­ly­tisch lässt sich nicht nur be­le­gen, dass der Text­aus­zug durch tri­via­le Wen­dun­gen auf­fällt (von „Un­se­re Liebe ist doch schon lange vor­bei“, bis zur „gnä­di­ge<n> Dun­kel­heit“ in der letz­ten Zeile), das seit der ach­ten Klas­se er­wor­be­ne Hand­werks­zeug im In­ter­pre­tie­ren li­te­ra­ri­scher Texte er­laubt wei­te­ren Er­kennt­nis­ge­winn auf ver­schie­de­nen Ebe­nen:

  • Deut­lich wer­den Gut und Böse in der kur­zen Pas­sa­ge ein­an­der ge­gen­über ge­stellt. Dabei fällt Böse, Bob, durch sei­nen Be­sitz­an­spruch („Du ge­hörst mir – für immer!“) und seine Un­be­herrscht­heit auf, die sich in den für ihn ein­ge­setz­ten Ver­ben spie­gelt. Dass er der guten Per­son ins Steu­er greift, setzt ihn zu­sätz­lich ins Un­recht. Gut, Brit­ta, ver­ficht tra­di­tio­nel­le und ge­schlech­ter­rol­len­kon­for­me Idea­le, den Wunsch nach Fa­mi­lie und be­son­ders Kin­dern, die sie of­fen­sicht­lich ver­in­ner­licht hat. Das Ge­sche­hen im Roman wird also durch ein fest ge­füg­tes Wer­te­sys­tem be­stimmt. Gleich­zei­tig ist ge­währ­leis­tet, dass in die­ser ar­ti­fi­zi­el­len Welt das in ihr als gut De­fi­nier­te siegt.
  • Ge­rad­li­nig funk­tio­nie­ren Sym­bol und Vor­aus­wei­sung. Sie be­glei­ten und be­kräf­ti­gen die Be­wer­tung der Per­so­nen. Bob greift ins Steu­er, wozu er kein Recht hat. Damit löst er nicht nur den Un­fall aus, seine Hand­lung steht sym­bo­lisch für seine vom Text ver­ur­teil­ten Über­grif­fe auf das Selbst­be­stim­mungs­recht sei­ner Freun­din/Ex­freun­din. Die Sym­bo­lik, dies zeigt der ana­ly­ti­sche Blick auf die Sym­bo­le,
  • Die Zei­chen­set­zung ist be­son­ders er­hel­lend. Di­rek­te Rede wird in dem kur­zen Text­stück drei­mal mit Aus­ru­fungs­zei­chen ab­ge­schlos­sen, eben­falls drei­mal fin­den sich drei Punk­te, wo Sätze un­voll­endet blei­ben. Die Aus­ru­fungs­zei­chen haben of­fen­sicht­lich die Funk­ti­on, Laut­stär­ke ab­zu­bil­den und nicht, wie ur­sprüng­lich üb­lich, Ex­kla­ma­tio­nen, Be­feh­le, War­nun­gen etc. zu mar­kie­ren. Die drei Punk­te zei­gen zwei­mal, dass eine Per­son nicht wei­ter spricht, beim letz­ten Auf­tre­ten des ty­po­gra­phi­schen Phä­no­mens wird der Be­wusst­seins­ver­lust der Prot­ago­nis­tin ab­ge­bil­det.

Die drei As­pek­te ana­ly­ti­schen Le­sens zei­gen, dass nichts un­ter­sucht wird, was nicht schon im iden­ti­fi­ka­to­ri­schen Lesen prä­gend für das Le­se­ver­ständ­nis ge­wor­den wäre. Nun al­ler­dings wer­den die Me­cha­nis­men sicht­bar, mit denen unser Ein­druck ge­formt wurde 2.

Am Bis­he­ri­gen fällt zu­nächst auf, dass mit dem Be­griff „tri­vi­al“ nicht alles Cha­rak­te­ris­ti­sche des Tex­tes – und auch der Text­sor­te – er­fasst wird. Der Be­griff im­pli­ziert ja üb­li­cher­wei­se im Be­reich der Li­te­ra­tur ge­rin­gen Tief­gang und hand­werk­lich Min­der­wer­ti­ges, im stren­ge­ren Sinne leicht Zu­gäng­li­ches. Dies trifft auf den vor­ste­hen­den Text­aus­zug alles zu. Den­noch er­laubt ge­ra­de das Spiel mit den bei­den Le­se­hal­tun­gen wei­ter ge­hen­de Er­kennt­nis­se. So ist die fest­ge­füg­te Welt­ord­nung, die den Arzt­ro­man all­ge­mein und den vor­lie­gen­den Text im Be­son­de­ren trägt, in ähn­li­cher Weise zen­tral wie für das eben­so auf das ana­ly­ti­sche Lesen an­ge­leg­te Mär­chen. Dazu passt der wenig über­ra­schen­de gute Aus­gang der Er­zähl­hand­lung, auf den sich der rou­ti­nier­te Leser so­ge­nann­ter Tri­vi­al­ro­ma­ne ver­lässt. Diese Welt­ord­nung zu er­ken­nen, er­for­dert aber ana­ly­ti­sches Lesen. Es ist auch er­for­der­lich, um dem mo­ra­li­schen Ri­go­ris­mus nach­zu­for­schen, der den Roman gen­re­ty­pisch aus­zeich­net.

Be­son­ders er­trag­reich für eine Ana­ly­se des Ro­mans ist die Per­so­nen­cha­rak­te­ri­sie­rung. Sie trägt ei­ner­seits zum Auf­bau des Gut-Böse-Sche­mas bei und hilft an­de­rer­seits bei der iden­ti­fi­ka­to­risch stim­mi­gen Kon­kre­ti­sie­rung der mit­wir­ken­den Per­so­nen. So heißt es von dem As­sis­tenz­arzt Dr. Ni­k­las Klin­ger: „Dr. Ni­k­las Klin­ger war nicht nur at­trak­tiv, son­dern auch in­tel­li­gent, be­le­sen und hu­mor­voll.“(44) Da­ge­gen heißt es von Bob: „Bob war ein at­trak­ti­ver Mann, auch wenn er ihr manch­mal ein wenig zu ner­vös und lau­nisch war.“(11) Be­son­ders in der Par­al­le­li­sie­rung wer­den Un­ter­schie­de deut­lich. Es über­rascht nicht, dass auch der po­si­tiv be­setz­ten Hel­din Brit­ta ein kon­tras­tie­ren­des Pen­dant zur Seite ge­stellt wird, es han­delt sich um die ehr­gei­zi­ge und leis­tungs­star­ke, aber zur In­tri­ge nei­gen­de Schwes­ter Uschi, die, dies zur Eng­füh­rung not­wen­dig, ein Auge auf Dr. Klin­ger ge­wor­fen hat. In­ter­es­sant an die­ser Figur ist vor allem, dass sie bei ihrer ers­ten Er­wäh­nung im Roman eher po­si­tiv be­setzt ein­ge­führt wird und so schein­bar dem klar tren­nen­den Gut-Böse-Sche­ma zu wi­der­spre­chen scheint:

Sie hatte sich rasch ein­ge­ar­bei­tet und war für die Ent­bin­dungs­sta­ti­on eine echte Be­rei­che­rung.

Die jun­gen Müt­ter und ihre Säug­lin­ge um­sorg­te die neue Pfle­ge­rin, eine at­trak­ti­ve Drei­ßig­jäh­ri­ge, mit einer Auf­op­fe­rungs­be­reit­schaft, die auch den er­fah­re­nen Kli­nik­chef er­staun­te. (7)

Auf­fäl­lig ist hier, im Ge­gen­satz zur Ein­füh­rung aller an­de­ren Haupt­fi­gu­ren, dass in der ers­ten Be­schrei­bung auf jeg­li­che In­nen­sicht ver­zich­tet wird, was die Em­pa­thie von Sei­ten des Le­sers zu­min­dest bremst. Die Zu­rück­hal­tung des Er­zäh­lers schwin­det im wei­te­ren Ver­lauf des Ro­mans. Es wird mehr und mehr deut­lich, dass Schwes­ter Uschi nicht prin­zi­pi­ell bös­ar­tig ist, zur Er­rei­chung ihrer Ziele aber vor un­red­li­chen Hand­lun­gen nicht zu­rück­schreckt. Ihre Liebe zu Dr. Klin­ger, die al­ler­dings stets „Ver­liebt­heit“ oder „Sehn­sucht“ ge­nannt wird und so gut von Brit­tas Liebe zu un­ter­schei­den ist, lässt sie alle Skru­pel hint­an­stel­len, wenn sie denn über­haupt wel­che hat. Was sie als han­deln­de Per­son im Roman in­ter­es­sant macht, ist die Ver­wand­lung, die sie in ihrem Ver­hal­ten durch­macht. In dem Maße, in dem ihre Hoff­nun­gen auf eine Be­zie­hung mit Dr. Klin­ger schwin­den und sie Brit­ta als er­folg­rei­che Kon­kur­ren­tin wahr­nimmt, än­dert sich ihr Blick auf die Welt und ihre Be­reit­schaft, Scha­den an­zu­rich­ten.

Schwes­ter Uschi stei­ger­te sich von Tag zu Tag mehr in ihren Hass hin­ein und schloss mitt­ler­wei­le die ganze Welt ein. Sie ging schnip­pisch mit den Kol­le­gin­nen um und be­geg­ne­te jedem freund­li­chen Wort mit Iro­nie. (54)

Deut­lich wird nach Sich­tung der cha­rak­te­ri­sie­ren­den Be­schrei­bun­gen im Text, dass die Dar­stel­lung einer Per­son stets kon­stant und bruch­los bleibt, auch und ge­ra­de wenn sich ihr Ver­hal­ten wan­delt. In­ne­re Wi­der­sprü­che haben kei­nen Raum. Das zeigt sich be­son­ders deut­lich an Schwes­ter Uschi, deren Ver­hal­ten ge­ra­de in Kon­flikt­si­tua­tio­nen nicht immer selbst er­klä­rend ist und auch nie un­er­läu­tert bleibt. Die an­de­ren Be­tei­lig­ten ver­hal­ten sich in der Regel so be­re­chen­bar, ob gut oder schlecht, dass Er­läu­te­run­gen über­flüs­sig sind.

Auf der an­de­ren Seite, dies ist eine deut­lich er­kenn­ba­re Ent­wick­lung des Gen­res, hat sich das Frau­en­bild ge­wan­delt. So­wohl die Hel­din, als auch ihre Ant­ago­nis­tin, sind zu Be­ginn des Ro­mans selbst­stän­dig und im Beruf er­folg­reich, was in bei­den Fäl­len be­son­ders be­tont wird. Die po­si­ti­ve Be­wer­tung des selbst be­stimm­ten Le­bens geht sogar so weit, dass im Falle der Hel­din Brit­ta an der Spit­ze ihrer Le­bens­ent­schei­dun­gen die für den Beruf der Ärz­tin steht, auch wenn ihre Sehn­sucht nach einer Fa­mi­lie un­ge­bro­chen bleibt. Schwes­ter Uschi hin­ge­gen ver­liert nach der er­lit­te­nen Liebs­ent­täu­schung so sehr die mo­ra­li­sche Ori­en­tie­rung ihres Be­ru­fes, dass sie sogar be­reit ist, einen Mord zu be­ge­hen. Hier wird, in der Per­so­nen­cha­rak­te­ri­sie­rung im Arzt­ro­man, ein Wan­del im Frau­en­bild der brei­ten, ten­den­zi­ell kon­ser­va­ti­ven Le­ser­schaft sicht­bar. Wie sehr diese Le­ser­schaft nun bei­spiel­haft für die Be­völ­ke­rung steht, sei da­hin­ge­stellt. Si­cher ist, dass sich in der Dar­stel­lung von Per­so­nen ge­sell­schaft­li­che Wand­lun­gen ab­bil­den. Noch gegen Ende des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts wären be­ruf­lich so er­folg­rei­che Frau­en im Arzt­ro­man nicht als po­si­tiv be­setz­te Prot­ago­nis­tin­nen denk­bar ge­we­sen. Hier zeigt sich die Frucht­bar­keit des im neuen Bil­dungs­plan ex­pli­zit aus­ge­wie­se­nen Kon­textua­li­sie­rens als An­for­de­rung. Dort heißt es näm­lich für 11/12: Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler kön­nen

geis­tes, kul­tur, li­te­ra­tur- und so­zi­al­ge­schicht­li­che Ent­wick­lun­gen sowie in­ter­kul­tu­rel­le Zu­sam­men­hän­ge in ihr Text­ver­ste­hen ein­be­zie­hen (29).

Einen li­te­ra­ri­schen Text vor dem Hin­ter­grund sei­ner Zeit oder sei­nes kul­tu­rel­len Zu­sam­men­hangs zu un­ter­su­chen, stellt eine be­deu­ten­de Her­aus­for­de­rung dar, der des bis zur Kurs­stu­fe ge­wach­se­nen Ver­mö­gens zur Dis­tanz­nah­me be­darf. Was im Arzt­ro­man wegen des deut­lich zur Schau ge­tra­ge­nen Welt­bil­des leicht zu cha­rak­te­ri­sie­ren ist, fällt im Falle der Ab­itur­tes­te deut­lich schwe­rer. Af­fir­ma­ti­ve Li­te­ra­tur kann dabei hel­fen, die Hal­tung der ana­ly­ti­schen Dis­tanz­nah­me ein­zu­üben.

Die Be­hand­lung die­ses oder eines ver­gleich­ba­ren Ro­mans hat, wie sich zeigt, neben sei­nem un­ter­halt­sa­men As­pekt, viel­fäl­ti­ge Er­kennt­nis­in­ter­es­sen. Sie ist aber vor allem unter dem Ge­sichts­punkt des neuen Bil­dungs­plans und der von ihm an­ge­streb­ten Kom­pe­ten­zen von Be­deu­tung. Die Un­ter­schei­dung ver­schie­de­ner Le­se­hal­tun­gen wurde be­reits im Un­ter­richts­ver­such in einer ach­ten Klas­se the­ma­ti­siert. Hier, in der Kurs­stu­fe, ist die­sel­be pro­zess­be­zo­ge­ne Kom­pe­tenz­be­schrei­bung aus dem Be­reich Lesen wie­der re­le­vant, na­tür­lich, dem Spi­ral­cur­ri­cu­lum ent­spre­chend, auf an­de­rem Ni­veau:

Sie kön­nen zwi­schen un­ter­schied­li­chen Le­se­hal­tun­gen (zum Bei­spiel iden­ti­fi­ka­to­risch, ana­ly­tisch, wer­tend) un­ter­schei­den und diese re­flek­tiert bei der Ent­wick­lung ihres Text­ver­ständ­nis­ses be­rück­sich­ti­gen. (11/12)

Hier, in der Kurs­stu­fe, ist also die Re­fle­xi­on des ei­ge­nen Le­se­ver­hal­tens sinn­vol­ler Un­ter­su­chungs­ge­gen­stand. Text­sor­ten wie der Tri­vi­al­ro­man ma­chen iden­ti­fi­ka­to­ri­sches und ana­ly­ti­sches Lesen des glei­chen Tex­tes mit plau­si­bel un­ter­schied­li­chen Er­geb­nis­sen mög­lich und er­lau­ben dar­über hin­aus die Re­fle­xi­on der Un­ter­schie­de in Ver­fah­ren und Er­geb­nis. Das Lesen li­te­ra­ri­scher Texte wird im wei­te­ren Ver­lauf des Le­bens in den meis­ten Fäl­len iden­ti­fi­ka­to­risch blei­ben. Die zu­min­dest mög­li­che Re­fle­xi­on des ei­ge­nen Le­se­ver­hal­tens ent­hüllt Stra­te­gi­en und Ab­sich­ten von Tex­ten und Au­to­ren und ne­giert damit das Iden­ti­fi­ka­to­ri­sche nicht, der Leser ist ihm aber nicht mehr aus­ge­lie­fert. Auch kann ein Text in sei­nen „geis­tes, kul­tur, li­te­ra­tur- und so­zi­al­ge­schicht­li­che<n>“ Zu­sam­men­hang ge­stellt und ver­tieft un­ter­sucht wer­den Der Bil­dungs­plan be­tont in den Vor­be­mer­kun­gen zu 11/12, dass die Schü­le­rin­nen und Schü­ler „ihr Text­ver­ständ­nis dif­fe­ren­ziert for­mu­lie­ren, dis­ku­tie­ren und re­flek­tie­ren“ kön­nen, ihr ei­ge­nes Lesen also be­wusst und sou­ve­rän ge­stal­ten. Dar­über hin­aus ge­lingt es auch bei der stär­ker ana­ly­ti­schen Be­schäf­ti­gung mit li­te­ra­ri­schen Tex­ten, deren text­in­tern an­ge­leg­te Wir­kung auf Le­se­rin­nen und Leser zu be­schrei­ben und of­fen­zu­le­gen. Per­so­nen­be­schrei­bun­gen in er­zäh­len­der Li­te­ra­tur kön­nen in ihrer Wir­kung ding­fest ge­macht wer­den. Die Schü­le­rin­nen und Schü­ler kön­nen also

die Wir­kung eines Tex­tes be­schrei­ben und be­grün­den (Text­tei­le und Text­gan­zes)“ (11/12, 23).

Ins­ge­samt zeigt sich, dass der neue Bil­dungs­plan die Er­wei­te­rung des rein iden­ti­fi­ka­to­ri­schen zum iden­ti­fi­ka­to­ri­schen und ana­ly­ti­schen Lesen nicht nur in­ten­siv be­glei­tet, son­dern auch zur The­ma­ti­sie­rung und Re­fle­xi­on der bei­den Le­se­hal­tun­gen auf­for­dert, dies frei­lich erst in den Stan­dards der Kurs­stu­fe. Da­durch wer­den die Le­se­hal­tun­gen zum spi­ral­cur­ri­cu­lar durch­lau­fen­den Thema des Deutsch­un­terr­richts. Am Ende er­fül­len die Schü­le­rin­nen und Schü­ler so die An­for­de­run­gen, die in der Ein­lei­tung zu den pro­zess­be­zo­ge­nen Stan­dards zum Lesen for­mu­liert sind:

Sie er­ken­nen Gel­tungs­an­sprü­che sowie Wir­kungs­ab­sich­ten von Tex­ten und hin­ter­fra­gen diese kri­tisch. Die Re­le­vanz von Tex­ten in un­ter­schied­li­chen Re­zep­ti­ons- und Pro­duk­ti­ons­zu­sam­men­hän­gen sowie ihre äs­the­ti­sche Qua­li­tät kön­nen sie ein­schät­zen und An­sät­ze zu einer Be­ur­tei­lung ent­wi­ckeln.

Die Be­hand­lung af­fir­ma­ti­ver Li­te­ra­tur in der Kurs­stu­fe kann beim Er­rei­chen der hier for­mu­lier­ten Ziele hel­fen.


1   Bas­tei Ver­lag, Köln o.J.

2   Emil Stai­ger for­dert von der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft als Er­geb­nis, „dass wir be­grei­fen, was uns er­greift“. Er for­mu­liert damit eine grund­sätz­li­che Leis­tung der Her­me­neu­tik und damit des ana­ly­ti­schen Le­sens.

 

Tri­vi­al­ro­man ana­ly­tisch: Her­un­ter­la­den [docx][26 KB]

Tri­vi­al­ro­man ana­ly­tisch: Her­un­ter­la­den [pdf][372 KB]

 

Wei­ter zu Ar­beits­blät­ter