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GOR­GI­AS 2: Zwei­er­lei Herr­schaft

SO­KRA­TES: Wohl­an, Kal­lik­les, du hältst wohl nicht zwei für bes­ser als einen oder deine Knech­te für bes­ser als dich, weil sie stär­ker sind. Oft­mals ist ein Ein­sichts­vol­ler bes­ser als zehn­tau­send, die ohne Ein­sicht sind ...

KAL­LIK­LES: ... und die­ser muss herr­schen, jene aber be­herrscht wer­den, und der Herr­schen­de soll mehr haben als die Be­herrsch­ten, das halte ich für ge­recht von Natur aus.

SO­KA­TES: Mehr von was soll der haben? Mehr Spei­sen und Ge­trän­ke, mehr Klei­der und Schu­he, mehr ...

KAL­LIK­LES: Ge­schwätz, So­kra­tes! Ich habe doch schon ge­sagt, dass die Bes­se­ren für mich die sind, die sich in Sa­chen Po­li­tik aus­ken­nen und durch­set­zen kön­nen, die sol­len herr­schen und mehr haben als die an­de­ren, die Herr­schen­den mehr als die Be­herrsch­ten.

SO­KRA­TES:  Wie ‚herr­schend’, lie­ber Freund, in Bezug auf sich selbst? Herr­schen sie über sich selbst oder wer­den sie [von ihren Emo­tio­nen] be­herrscht?    

KAL­LIK­LES: Was meinst du damit?

SO­KRA­TES: Ich meine, dass doch jeder ein­zel­ne über sich selbst herrscht. Oder ist das gar nicht nötig, sich selbst be­herr­schen, son­dern nur die an­dern?

KAL­LIK­LES: Wie meinst du ‚über sich selbst herr­schen’?

SO­KRA­TES: Nichts be­son­ders Schwie­ri­ges meine ich, son­dern wie es die Leute eben ver­ste­hen, wenn sie von ‚be­son­nen sein’ und ‚selbst­be­herrscht sein’ spre­chen, die Lüste und Be­gier­den, die jeder in sich hat, be­herr­schend.

KAL­LIK­LES: Wie naiv du bist! Wie kann wohl ein Mensch glück­lich sein, der ir­gend­wem dient und un­ter­tan ist? Son­dern das ist eben das na­tur­ge­mäß Schö­ne und Rech­te, was ich dir nun ganz frei­her­aus sage, dass, wer rich­tig leben will, seine Be­gier­den muss so groß wer­den las­sen als mög­lich und sie nicht ein­zwän­gen; er muss fähig sein, die­sen mög­lichst gro­ßen Be­gier­den mit Tap­fer­keit und Ein­sicht zu die­nen und zu er­fül­len, wor­auf immer sich sein Be­geh­ren rich­tet. Aber dazu sind die meis­ten nicht im­stan­de, wes­halb sie sol­che Men­schen ta­deln, aus Scham ver­ber­gen ihre ei­ge­ne Schwä­che, und be­haup­ten, die Zü­gel­lo­sig­keit sei schänd­lich, und un­ter­jo­chen die von Natur aus bes­se­ren Men­schen; und weil sie selbst nicht in der Lage sind, ihren Lüs­ten Be­frie­di­gung zu ver­schaf­fen, so loben sie die Be­son­nen­heit und die Ge­rech­tig­keit wegen ihrer ei­ge­nen Feig­heit. So ver­hält es sich mit der Wahr­heit, die du, So­kra­tes, zu ver­fol­gen be­haup­test: Luxus und Zü­gel­lo­sig­keit und ab­so­lu­te Frei­heit sind, wenn sie nur Rück­halt haben, die wahre Tüch­tig­keit und das Glück; alles an­de­re ist nur Fas­sa­de und wi­der­na­tür­li­che Ver­ein­ba­rung, lee­res Ge­schwätz der Leute und nichts wert.

SO­KRA­TES: Nicht feig­her­zig, Kal­lik­les, gehst du mit der Rede um, und sagst frei­mü­tig, was an­de­re zwar auch den­ken, aber nicht sagen wol­len. Ich bitte dich daher, ja auf keine Weise nach­zu­las­sen, damit nun in der Tat ganz klar werde, wie man leben muss. – Also, die Be­gier­den, sagst du, darf man nicht zü­geln, wenn man sein will, wie man soll, son­dern sie so groß wie mög­lich wer­den las­sen und ihnen, woher es auch sei, Be­frie­di­gung be­rei­ten, und das sei die Tüch­tig­keit.

KAL­LIK­LES: Genau das be­haup­te ich.

SO­KRA­TES: Dann wer­den nicht zu Recht die glück­lich ge­nannt, die nichts brau­chen?

KAL­LIK­LES: Die Stei­ne wären dann auf diese Weise die glück­lichs­ten und die Toten.

SO­KRA­TES: Aber auch so, wie du es be­schreibst, scheint das Leben müh­se­lig. Denn gleicht der Teil der Seele, in dem die Nei­gun­gen und Be­gier­den sind, nicht einem le­cken Fass, bei den Tö­rich­ten und Un­er­sätt­li­chen zu­min­dest? Und die Zü­gel­lo­ses­ten wären, wenn der Ver­gleich stimmt, die Un­glück­se­ligs­ten, denn sie tra­gen im­mer­zu Was­ser in das löch­ri­ge Fass, noch dazu mit einem eben­so le­cken Sieb. Einem Sieb gleicht die Seele, die nichts fest­hal­ten kann, aus Un­ge­wiss­heit und Ver­gess­lich­keit. Womit ich nur zei­gen will, dass statt des un­er­sätt­li­chen und un­ge­zü­gel­ten Le­bens eines zu wäh­len bes­ser wäre, das be­son­nen ist.

KAL­LIK­LES: Du über­re­dest mich nicht, So­kra­tes, denn für einen, des­sen Fass oder lass es meh­re­re sein, mit Wein, Honig und der­glei­chen voll und dicht wären, für den gäbe es gar keine Lust mehr, son­dern das heißt eben, wie ein Stein leben, wenn alles an­ge­füllt ist, weder Lust mehr haben noch Un­lust.

SO­KRA­TES: So muss doch not­wen­dig stän­dig, tags und nachts, bei mor­schen Fäs­sern viel auf­zu­fül­len sein, um nicht größ­te Un­lust zu emp­fin­den, und auch des Ab­ge­hen­den muss viel sein und gar große Öff­nun­gen für die Aus­flüs­se – das ist wie­der­um ein Leben eines Re­gen­pfei­fers. Denn du meinst es doch so, wie hun­gern, und wenn man hun­gert essen?

KAL­LIK­LES: Ja. Und eben­so alle an­de­ren Be­dürf­nis­se und Be­gier­den soll man haben und be­frie­di­gen kön­nen und so Lust ge­win­nen und glück­se­lig leben.

SO­KAR­TES: Gut, mein Bes­ter, dann lass dich wei­ter nicht durch Scham ab­hal­ten wie auch ich jetzt mich nicht zu­rück­hal­te: So sag mir, ob Krät­zig-sein und das Ju­cken haben, wenn man sich nur genug scha­ben kann und so ge­kit­zelt sein Leben hin­bringt, heißt das auch glück­se­lig leben?

KAL­LIK­LES: Wie ab­ge­schmackt du bist, aber von mir aus: ja! Wer sich kratzt, wird an­ge­nehm leben.

SO­KAR­TES: Und wer an­ge­nehm lebt, ist auch glück­se­lig?

KAL­LIK­LES: Frei­lich.

SO­KRA­TES: Etwa, wenn ihn nur der Kopf juckt oder soll ich dich sonst noch was fra­gen? Schau, Kal­lik­les, was ant­wor­test du, wenn dich je­mand, was hier­mit zu­sam­men­hängt, alles der Reihe nach fragt, und dabei her­aus­kommt, dass das Leben der Kin­der­schän­der nicht ab­scheu­lich und schänd­lich sei, weil auch diese glück­se­lig sind, wenn sie nur voll­auf haben, wo­nach sie be­geh­ren. - Willst du noch wei­ter deine Be­haup­tung auf­recht­er­hal­ten, glück­se­lig sei, wer nur Lust habe, egal wel­che, ob gute oder schlech­te, und: das An­ge­neh­me all­ge­mein sei das Gute?

GOR­GI­AS 489d – 494e; übers. v. F. Schlei­er­ma­cher, be­ar­bei­tet

Me­tho­di­sche An­re­gun­gen

Lö­sungs­hin­wei­se

A1

Cha­rak­te­ri­sie­re den Typ Kal­lik­les und seine Po­si­ti­on (Z. 1-18). Würde Pla­ton den Dia­log heute schrei­ben, hieße Kal­lik­les z.B. …

Vgl. Nietz­sche: Wille zur Macht

A2

Ana­ly­sie­re So­kra­tes’ Un­ter­schei­dung in Bezug auf ‚herr­schen’ und er­klä­re die Re­ak­ti­on des Kal­lik­les. (Z. 19-32)

‚Herr­schaft’, re­fle­xiv ver­wen­den

A3

Er­läu­te­re Glücks-Ver­ständ­nis und seine Er­klä­rung des Scham-Ge­fühls. (Z. 33-56)

A4

Un­ter­su­che die Er­wi­de­rung des So­kra­tes: prüfe die Über­zeu­gungs­kraft sei­ner Über­le­gun­gen (Z. 57-120).

quan­ti­ta­ti­ver He­do­nis­mus; zu Bent­ham Scham etc. = Skla­ven­mo­ral

A5

Ver­glei­che Kal­lik­les’ Po­si­ti­on mit dem „Gar­ten der Lüste“.

Ana­lo­gie-Ar­gu­men­te; Ge­gen­bei­spiel-Me­tho­de: zu De­fi­ni­ti­on von Glück (= Lust/An­ge­neh­mes); An­zei­chen von Selbst­wi­der­spruch bei Kal­lik­les: zu­erst fin­det er Scham nur schwäch­lich, nun win­det er sich vor „Ab­ge­schmack­tem“

[hier Abb: De­tail aus Hier­ony­mus Bosch: Der Gar­ten der Lüste]

Hier­ony­mus Bosch: Gar­ten der Lüste;

Prüfe: Ist das Ge­mäl­de (nicht)por­no­gra­phisch?

Jeder kann heut­zu­ta­ge je­der­zeit (zeit­wei­se) im „Gar­ten der Lüste“ wan­deln, - im In­ter­net. Ein vir­tu­el­ler Gar­ten er­füllt die­sel­be Funk­ti­on wie ein wirk­li­cher Gar­ten – oder nicht?

Nimm be­grün­det Stel­lung:

Ein on­line-Leben ist wie ein „le­ckes Fass“ – stimmt das?

Um­set­zungs­bei­spiel So­kra­tes: Her­un­ter­la­den [docx][117 KB]