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MENON 4: Ist Tugend eine Art Wissen?

MENON: Besteht die Tugend, d.h. das Gutsein eines Menschen, in einem Wissen?

SOKRATES: Ich denke, dass das zu einem Gutteil der Fall ist.

MENON: Aber, wenn das nicht nur deine vielleicht richtige Meinung sein soll, bis du mir noch eine stützende und verbindliche Begründung schuldig.

SOKRATES:  Schau, Menon. Einen wertvollen Charakter zu haben, ist doch etwas Gutes. Und wenn gut, dann ja wohl auch nützlich für das Wohl und Glück des Tüchtigen. Nützlich sind aber alle Güter nur durch den rechten Gebrauch.

MENON: Was meinst du damit?

SOKRATES: Nehmen wir Güter wie Reichtum, Macht, Ehre, Schönheit und Gesundheit: die sind doch wohl nützlich, könnten aber auch schaden - und das hängt offenbar vom rechten Gebrauch ab, den man von ihnen macht.

MENON: Stimmt.

SOKRATES: Und das trifft auch auf die seelischen oder mentalen Güter zu, wie wir sie vielleicht nennen können; ich meine z.B.  so was wie Mut oder Gedächtniskraft oder Selbstbeherrschung:  auch die sind nützlich, können aber auch schaden, und das hängt jeweils vom rechten Gebrauch ab, den man von ihnen macht.

MENON: Einverstanden.

SOKRATES:  Der rechte Gebrauch ist aber eine Sache des Wissens, der Einsicht und vernünftiger Überlegung.

MENON: Auchda magst du recht haben.

SOKRATES: Also ist die Tugend insofern gut und nützlich, als sie eine Art Einsicht ist, und zwar bei der Bestimmung des richtigen Gebrauchs aller Güter, der materiellen wie der mentalen.

MENON: Klingt etwas kompliziert. Aber wenn es stimmt, dann ist die Tugend, d.h. das Gutsein eines Menschen jedenfalls nicht angeboren, sondern lern- und lehrbar.

SOKRATES:  Genau, sofern wir dann in der Praxis auch noch Lehrer und Schüler dafür finden.

Platon: MENON 87e ff. – 89a; Paraphrase

 

Die Klugheit galt seit den Anfängen der abendländischen Philosophie als bedeutsame Tugend, zunächst sogar als die wichtigste der Tugenden. Insbesondere Platon sah sie als Voraussetzung für jede Tugend; in seinen Dialogen verwendet er oft den Ausdruck phronesis, der manchmal auch als ‚Vernünftigkeit’, ‚praktische Vernunft’, ‚sittliche Einsicht’ übersetzt wird.

                               Allegorie der Klugheit/prudentia →

Eine sehr interessante Darstellung der Allegorie der Klugheit findet sich in Johann Amos Comenius’ Lehrwerk Orbis pictus.

Merkmale der Klugheit sind in der Illustration nummeriert und in einer Bild-Legende erklärt.

Vorschläge für Arbeitsanregungen

A1: Stelle Sokrates’ Argument für die Beantwortung der Titelfrage in Kurzform dar.
(HILFE: 1. Begriffsskelett→2.durch Pfeile verbinden→3.Pfeile mit Verben beschriften; oder: Syllogismus; oder Toulmin-Schema)

A2: Bewerte die Argumentation: überzeugend? Schwachpunkte?

A3: Betrachte die Allegorie der Klugheit (in Comenius’ Orbis pictus) und identifiziere ihre Attribute.
Interpretiere die Aspekte des Wissens, die damit visualisiert werden.

A4: Erörtere am Beispiel des Mutes (oder der Großzügigkeit / Hilfsbereitschaft / Aufrichtigkeit / ...) inwiefern das Wissen der Klugheit erforderlich ist, um gemäß dieser Tugend zu handeln.

Umsetzungsbeispiel Sokrates: Herunterladen [docx][117 KB]