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APO­LO­GIE: Weis­heit ohne Wis­sen?

Ich hätte mich ganz ver­kehrt ver­hal­ten, ihr Män­ner von Athen, wenn ich zwar da­mals, als mich die mir von euch zu­ge­teil­ten Vor­ge­setz­ten auf­stell­ten, bei Po­ti­däa, Am­phi­po­lis und De­li­on*, wenn ich da­mals an der Stel­le, wo sie mich auf­stell­ten, aus­ge­harrt und dem Tod ins Auge ge­blickt hätte wie manch an­de­re auch, wenn ich hin­ge­gen da, wo der Gott [: Apol­lon] mich auf­ge­stellt – wie ich je­den­falls an­nahm und ver­mu­te­te: ich solle als Phi­lo­soph in Er­for­schung der Wahr­heit leben und mich und meine Mit­men­schen prü­fen – wenn ich dort aus Furcht vor dem Tode oder ir­gend­et­was an­de­rem den mir zu­ge­wie­se­nen Platz ver­lie­ße. Das wäre schlimm, und dann könn­te man mich wahr­haf­tig mit Recht vor Ge­richt brin­gen, weil ich nicht an die Göt­ter glaub­te, da ich den Se­her­spruch [: von Del­phi/Apol­lon] nicht be­folg­te und mich vor dem Tode fürch­te­te und mich für weise hiel­te, ohne es zu sein.

Denn sich vor dem Tod zu fürch­ten, ihr Män­ner, das ist nichts an­de­res als sich für weise zu hal­ten, ohne dass man es ist. Das be­deu­tet ja, dass man zu wis­sen glaubt, was man gar nicht weiß. Denn nie­mand weiß, ob nicht der Tod für den Men­schen die größ­te aller Wohl­ta­ten/Güter ist, und doch fürch­ten ihn die Leute, als ob sie genau wüss­ten, dass er das größ­te aller Übel ist. Und ist nicht eben dies die viel ge­schmäh­te Un­be­lehrt­heit: sich ein­zu­bil­den, man wisse, was man nicht weiß? Hier­durch, ihr Män­ner, un­ter­schei­de ich mich wohl auch in die­ser Frage von den meis­ten Men­schen, und wenn ich be­an­spru­chen woll­te, in ir­gend­ei­ner Hin­sicht wei­ser zu sein als an­de­re, dann darin, dass ich, da ich nichts Ge­nau­es von den Zu­stän­den im Hades/Jen­seits weiß, auch mir nicht ein­bil­de, etwas davon zu wis­sen. Un­recht zu tun und einem Bes­se­ren nicht zu ge­hor­chen, einem Gott oder Men­schen: dass das schlecht und schänd­lich ist, weiß ich. An­stel­le der schlech­ten Dinge, von denen ich weiß, dass sie schlecht sind, werde ich nie­mals an­de­res, von dem ich nicht weiß, ob es nicht viel­leicht sogar gut ist, fürch­ten und zu mei­den su­chen.

Wenn ihr mich also jetzt lau­fen lasst, ohne auf Any­tos zu hören, der da mein­te, ich hätte ent­we­der gar nicht hier er­schei­nen dür­fen oder aber es sei, da ich hier er­schie­nen bin, un­mög­lich, dass man mich nicht zum Tode ver­ur­tei­le, und der euch noch ver­si­cher­te, dass, wenn ich da­von­kä­me, eure Söhne, indem sie die Leh­ren von So­kra­tes be­folg­ten, al­le­samt ganz und gar ver­dor­ben wür­den – wenn ihr mir dar­auf­hin sag­tet: »So­kra­tes, die­ses Mal wol­len wir nicht auf Any­tos hören, son­dern dich lau­fen las­sen, al­ler­dings nur unter der Be­din­gung, dass du nicht mehr die­sen Un­ter­su­chun­gen frönst und nicht mehr nach Weis­heit suchst. Wenn du aber noch ein­mal dabei er­tappt wirst, dann musst du ster­ben « - wenn ihr mich also, wie ge­sagt, unter die­ser Be­din­gung lau­fen las­sen woll­tet, dann würde ich euch ant­wor­ten:  »Ich schät­ze und ver­eh­re euch, ihr Män­ner von Athen, doch ge­hor­chen werde ich eher dem Gotte als euch und, so­lan­ge ich atme und dazu im­stan­de bin, nim­mer auf­hö­ren, nach Weis­heit zu for­schen und auf euch ein­zu­re­den und jedem von euch, den ich tref­fe, ins Ge­wis­sen zu reden, indem ich in mei­ner ge­wohn­ten Art zu ihm sage: >Mein Bes­ter, du bist Athe­ner, ein Bür­ger der größ­ten und durch Bil­dung und Macht be­rühm­tes­ten Stadt, und du schämst dich nicht, dich darum zu küm­mern, wie du zu mög­lich viel Geld und wie du zu Ehren und Ruhm kommst, doch um Ein­sicht und Wahr­heit und darum, dass du eine mög­lichst gute Seele hast, küm­merst und sorgst du dich nicht?< - Und wenn einer von euch das be­strei­tet und sagt, er küm­me­re sich darum, dann werde ich ihn nicht gleich lau­fen las­sen und weg­ge­hen, son­dern ihn fra­gen und prü­fen und aus­for­schen, und wenn ich den Ein­druck be­kom­me, dass er keine Tu­gend be­sitzt, ob­wohl er’s be­haup­tet, dann werde ich ihm den Kopf zu­recht­set­zen, weil er das Wert­volls­te am nied­rigs­ten ein­schätzt und das Min­der­wer­ti­ge höher. Und das werde ich bei Jün­ge­ren und Äl­te­ren tun, wie ich sie tref­fe, und bei Frem­den und Ein­hei­mi­schen – um so viel mehr bei euch Ein­hei­mi­schen, als ihr mir durch Her­kunft nä­her­steht. Denn das be­fielt mir, seid des­sen ge­wiss, der Gott, und ich bin über­zeugt, dass euch in der Stadt noch nie eine grö­ße­re Wohl­tat zu­teil­ge­wor­den ist als die­ser mein Dienst an dem Gotte. Denn ich tue, wäh­rend ich euch nach­lau­fe, nichts An­de­res, als dass ich euch, die Jün­ge­ren wie die Äl­te­ren, dahin zu brin­gen suche, euch nicht zu­al­ler­erst um euer leib­li­ches Wohl und um Geld zu küm­mern und auch nicht mit sol­chem Eifer wie um einen mög­lichst guten Zu­stand eurer Seele, wobei ich sage, dass nicht der Reich­tum sitt­li­chen Wert her­vor­bringt, son­dern der sitt­li­che Wert Reich­tum und alle üb­ri­gen Güter, für jeden ein­zel­nen wie für die All­ge­mein­heit. Wenn ich nun, indem ich dies sage, die jun­gen Leute ver­der­be, dann müss­ten sie ja schäd­lich sein. Wenn aber je­mand be­haup­tet, ich sagte etwas An­de­res als dies, dann redet er Un­sinn. Kurz und gut, ihr Män­ner von Athen«, würde ich wohl sagen, »ob ihr auf Any­tos hört oder nicht, mich frei­sprecht oder nicht: ich werde auf kei­nen Fall an­ders han­deln, und wenn ich noch so oft den Tod dafür er­lei­den müss­te.«

 * Die Schlacht bei Po­ti­däa war 432 v. Chr., die bei Am­phi­po­lis am Stry­mon in Thra­ki­en 422 und die bei De­li­on in Böo­ti­en 424. Bei Po­ti­däa hatte So­kra­tes dem Al­ki­bia­des das Leben ge­ret­tet, und auch bei De­li­on hatte er sich durch Tap­fer­keit aus­ge­zeich­net.

Pla­ton: APO­LO­GIE (28d-30c), be­ar­bei­tet nach der Übers. von F. Schlei­er­ma­cher

Me­tho­di­sche An­re­gun­gen

  • A1: Iden­ti­fi­zie­re die An­kla­ge­punk­te gegen So­kra­tes

    Lö­sungs­hin­weis: Leug­net Staats­göt­ter; ver­dirbt die Ju­gend durch Dis­ku­tie­ren

  • A2: ‚Wis­sen’ – ‚Wahr­heit’ – ‚Weis­heit’: Ver­glei­che und er­klä­re in die­sem Zu­sam­men­hang, was ‚Phi­lo­so­phie’ für So­kra­tes be­deu­tet.

    Lö­sungs­hin­weis: Weis­heit = kein ein­ge­bil­de­tes Wis­sen; Wis­sen von be­grenz­tem Wis­sen (bzgl. Tod); Wahr­heits­er­for­schung, wörtl: ‚Liebe zur Weis­heit’

  • A3: Er­läu­te­re So­kra­tes’ Le­bens­ziel und Le­bens­pro­jekt.

    Lö­sungs­hin­weis: Selbst­prü­fung, Prü­fung der Mit­bür­ger (als göttl. Mis­si­on) Ver­tei­di­gung durch Recht­fer­ti­gung der kon­se­quen­ten und kon­sis­ten­ten Le­bens­füh­rung

  • A4: Prüfe: ‚Ver­tei­di­gung’ – ‚Recht­fer­ti­gung’ – ‚Be­grün­dung’ = Syn­ony­me?

  • A5: Un­ter­su­che die von So­kra­tes be­haup­te­te Ord­nung der Le­bens-‚Güter’(= Werte; Rang­fol­ge?).

    Lö­sungs­hin­weis: Reich­tum, Ruhm, leibl. Wohl­er­ge­hen Weis­heit, Ein­sicht, Tu­gend/Ge­sund­heit der Seele

  • A6: Er­klä­re den Un­ter­schied: ‚sich für etwas hal­ten’ – ‚etw. sein’.

    Lö­sungs­hin­weis: Ein­bil­dung/Mei­nung vs. Wirk­lich­keit, Wahr­heit, Sein; Schau­pro­zess, In­ter­es­se des Stadt­staa­tes vs. In­ter­es­se des Phi­lo­so­phen u. Staats­bür­gers S.

  • A7: Be­ur­tei­le die Wich­tig­keit von in­tel­lek­tu­el­ler und mo­ra­li­scher In­te­gri­tät/Red­lich­keit als Tu­gend.

    Lö­sungs­hin­weis: Das un­ge­prüf­te Leben ist nicht wirk­lich le­bens­wert: Selbst­prü­fung u Wahr­heits­su­che als Norm des phi­los. Leben; Wert der Au­then­ti­zi­tät

Um­set­zungs­bei­spiel So­kra­tes: Her­un­ter­la­den [docx][117 KB]