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KRITON: Warum soll fliehen schlecht sein?

KRITON: Wenn du nicht fliehst und stirbst, ist das mehr als ein Unglück für mich, denn außer, dass ich einen Freund verliere wie ich nie wieder einen finden werde, werden viele meinen, ich hätte, obwohl ich es gekonnt hätte, nicht alles unternommen um dich zu retten, ich hätte nur genug Geld aufwenden müssen, um einen Freund zu retten. Außerdem ist es Unrecht, sich selbst aufzugeben, wenn man sich selbst retten kann; und: so befriedigst du nur deine Feinde und gibst ihnen Recht in ihrem Urteil. Schließlich wirst du auch deinen Söhnen untreu, die du, obwohl du noch für ihre Ausbildung sorgen könntest, im Stich lassen würdest. Es wird schändlich und feige aussehen, dass weder wir dich noch du dich selbst gerettet hast. Du wählst nur den bequemsten Weg, wenn du das Todesurteil akzeptierst, müsstest aber das wählen, was ein anständiger und mutiger Mann wählen würde, zumal wenn er behauptet, sich sein Leben lang der Tugend befleißigt zu haben. (44b- 45d)

SOKRATES: Deine Hilfsbereitschaft, lieber Kriton, ist viel wert, wenn es seine Richtigkeit damit hat; wenn aber nicht, dann ist sie, je größer, desto peinlicher. Wir müssen also prüfen, ob wir [!] dies tun sollen oder nicht.

Ich halte es ja nicht erst jetzt, sondern schon immer so, dass ich nichts Anderem von mir gehorche als dem Satz, der sich mir beim der Untersuchung als der beste erweist. Und die Grundsätze, die ich früher gefasst habe, kann ich jetzt nicht verwerfen, nur, weil mir dieses Schicksal zustößt; sie erscheinen mir noch ganz als dieselben und ich schätze und ehre sie noch ebenso wie vorher. Wenn wir also jetzt nicht bessere als sie vorzubringen können, dann werde ich dir nicht nachgeben, auch wenn die Macht der Menge uns noch mehr als es schon geschieht, um uns wie Kinder einzuschüchtern, mit Gefangenschaft, Tod und Vermögensverlust bedroht.

Wie können wir das am besten untersuchen? Wir sollten uns auch nicht einfach auf das berufen, was die Leute oder die Mehrheit im Allgemeinen darüber denkt, denn sie könnte sich irren; die guten Meinungen soll man ehren, die schlechten nicht – und die guten sind ja wohl die vernünftigen von Leuten, die sich auf Gerechtes und Ungerechtes verstehen; also wir müssen selbst die richtige, vernünftige Antwort finden und dürfen uns das Denken nicht von den anderen abnehmen lassen. Wir sollten uns, denke ich, nicht von Gefühlen irreleiten lassen; sondern einen klaren Kopf bewahren, den reinen Tatsachen ermitteln und uns von vernünftigen Argumenten leiten lassen. Schließlich sollten wir nicht dem (Über-)Leben den größten Wert beimessen, sondern dem Recht-leben; nie tun sollten wir tun, was moralisch falsch ist, sondern die Frage beantworten, ob unser Verhalten richtig oder falsch ist – egal, was mit uns geschehen wird, was die Leute denken oder mit welchen Gefühlen wir dem Vorgefallenen gegenüberstehen.

So sollten wir die Sache gemeinsam untersuchen, und wenn du etwas widerlegen kannst von dem, was ich sage, dann widerlege es, und ich werde dir folgen. - Nun hatten wir uns doch schon auf den Grundsatz verständigt:

Man sollte nie jemanden schädigen. [P1]

Wenn ich nun fliehe, schädige ich den Staat. [P2]
(Flucht würde das Prinzip der Gesetzesgeltung/Rechtssetzung in Frage stellen).

Also sollte ich nicht fliehen. [C]
Auch mit dem folgenden Grundsatz warst du doch einverstanden:

Versprechen und Abmachungen sollte man halten [P1]

Ich hab lange in Athen gelebt, das ich hätte verlassen können, [P2]
mich somit stillschweigend mit den bestehenden Gesetzen einverstanden erklärt.

Also sollte ich nicht fliehen.[C]
Und gilt nicht auch noch als Drittes der Grundsatz:

Eltern und Lehrern sollte man Respekt und Gehorsam erweisen[P1]

Der Staat, dem ich angehöre, hat praktisch die Funktion von Eltern und Lehrern. [P2]

Also sollte ich nicht fliehen. [C]

KRITON: Ich habe nichts einzuwenden.

Gekürzt und bearbeitet nach der Übers. von F. Schleiermacher

Arbeitsanregungen

A1: KRITONs Gründe. Gib sie in eigenen Worten wieder und charakterisiere diese Art von Gründen (Z. 1-10).

A2: Vorbemerkungen. Untersuche die Bemerkungen über das geeignete Verfahren zur Behandlung der Flucht-Frage (Z. 10-30). Charakterisiere die Methode und den Standpunkt, der in diesen Vorbemerkungen zum Ausdruck kommt.

SOKRATES’ Argumente (Z. 35-45): Analysiere zuerst ihre Struktur.

A4: ab: Welches Argument erscheint dir das stärkste, welches das schwächste? Wo wärst du an KRITONs Stelle nicht einverstanden gewesen? Begründe deine Kritik.

A5: Entwirf für die die aufgebaut sind wie diejenigen von Sokrates.

Video: von Schirach: „Justiz(selbst)mord?“ – Zum Prozess des Sokrates/mit Alexander Kluge/ magazin.dctp.tv/

Kompetenz des Argumentierens

Aussagen oder gelten als begründet, wenn sie sich her- bzw. ableiten lassen aus anderen Aussagen oder Forderungen, die als unstrittig vom Gesprächspartner angenommen werden. Deshalb versucht man die Aussage/Forderung, für die man argumentieren will als Schlussfolgerung ( Conclusion) darzustellen, die zwingend ergibt aus wenigstens zwei Vorannahmen ( Prämissen). Im Gespräch muss man natürlich vergewissern, ob der Partner diese Vorannahmen teilt. Damit die Schlussfolgerung triftig bzw. wahr ist, müssen auch die Prämissen wahr sein bzw. vom Partner als wahr eingeräumt werden, und die Schlussform muss gültig sein. Will man für einen praktischen Satz, also eine Handlung bzw. die Aufforderung zu einer einzelnen Handlung argumentieren, muss unter den Vorannahmen eine sein, die eine allgemeine Forderung bzw. moralische Regel enthält, und eine zweite Vorannahme, die behauptet, dass die gegebene Situation unter diese Regel fällt. – Will man die Schlussfolgerung bestreiten, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Man bestreitet, dass eine der Vorannahmen zutrifft oder man bestreitet, dass die Schlussform gültig ist. Sokrates hat seine Gesprächspartner immer wieder dazu eingeladen, ihre und seine eigenen Schlussfolgerungengenau auf diese Weise zu überprüfen und nur den im Gespräch gemeinsam bestgeprüften Satz als wahr gelten zu lassen.

P1= allg. moral. Regel

P2= Tatsachenbehauptung, Regel auf Fall angewendet

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C= Schluss auf gesollte Handlung

Umsetzungsbeispiel Sokrates: Herunterladen [docx][117 KB]