Seneca zum Thema Glück
Wiederholung (bzw. Einführung): Konjunktiv Präsens; Relativsatz als Subjekt; Stilmittel: Inversion, Asyndeton, Polysyndeton, Chiasmus, Paradoxon, Polyptoton
Text 1: Seneca über die wahre Freude (Vokabelblatt 7f.)
Der folgende Text stammt aus einem Brief Senecas an seinen Freund Lucilius. In der Einleitung schreibt Seneca, dass er sich nicht mit Belanglosigkeiten wie dem Wetter abgeben möchte:
- Stellen Sie die Formulierungen, mit denen Seneca die wahre Freude (verum gaudium) und die übrigen Freuden (ceterae hilaritates) charakterisiert, einander gegenüber.
verum gaudium
ceterae hilaritates
…qui scit, quo gaudeat
domi nascitur,
si modo intra te ipsum fitanimus alacer et fidens et
super omnia erectusres severa
vanis gaudere
felicitatem suam in aliena potestate ponere
fortuita
spes
non implent pectus
frontem remittuntleves sunt
ridere Senecas Briefe sind stilistisch sorgfältig gestaltet. Zeigen Sie, wie er in den Zeilen 13-17 („Ceterae hilaritates… severa est.“) den Unterschied zwischen der wahren Freude und oberflächlichen Vergnügungen durch die Verwendung von Stilmitteln hervorhebt.
Z. 13 ceterae hilaritates non implent pectus; frontem remittunt
Chiasmus: Der Gegensatz zwischen innerer Erfüllung und oberflächlicher Erheiterung wird durch das direkte Aufeinandertreffen von pectus und frontem hervorgehoben.
Z. 16f. verum gaudium res severa est
Paradoxon: Freude verbindet man normalerweise mit Lachen, Fröhlichkeit, Unbeschwertheit. Senecas Bezeichnung der wahren Freude als res severa erscheint deshalb auf den ersten Blick als „paradox“, als widersinnig. Aber gerade diese unerwartete Formulierung lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf Senecas Vorstellung von wahrer Freude.Erklären Sie anhand der gesammelten Belege, was Seneca unter wahrer Freude versteht.
Die wahre Freude ist eine innere, das Herz erfüllende Freude (Z. 12 intra te ipsum, Z. 13 implent pectus), die der Mensch erlebt, wenn er sich unabhängig macht von anderen Menschen (Z. 6 aliena potestate), von den äußeren Umständen (Z. 9 fortuita), von vagen Hoffnungen (Z. 9 spes). Dazu bedarf es eines wachen Geistes (Z. 15 animus alacer), der im Vertrauen auf die eigene Stärke (Z. 15 fidens) sich von nichts beunruhigen lässt (Z. 16 super omnia erectus).
Text 2. 1-4: Äußerungen Senecas über das wahre Glück
Erarbeiten Sie aus Text 2.1 das Menschenbild Senecas.
Der Mensch zeichnet sich gegenüber den übrigen Lebewesen durch seine Vernunft aus. Sie ist sein spezifisches Merkmal, das er mit den Göttern gemeinsam hat. Wenn er seine Vernunftanlage zur Vollendung bringt, kann er das sittlich Gute verwirklichen.
- „virtus“ ist ein Wort mit einem großen Bedeutungsspektrum, vgl. Vokabelblatt zum Text Sokrates 1 (Vokabeln S. 4). Suchen Sie eine dem Kontext entsprechen-de Wiedergabe von virtus in Text 2.1 und 2.2.
In Text 2.1 steht virtus in unmittelbarer Verbindung mit ratio perfecta und honestum. Von diesem Kontext her liegt die Übersetzung mit „sittliche Vollkommenheit“, „sittliche Vorbildlichkeit“ nahe.
Diese Wiedergabe von virtus passt auch zur ersten Stelle in Text 2.2: In virtute posita est vera felicitas = „Auf der sittlichen Vollkommenheit beruht das wahre Glück.“Im folgenden Satz wird virtus personifiziert: Was wird dir diese virtus raten? Eine Personifikation der sittlichen Vollkommenheit klingt ungewöhnlich, während dagegen Personifikationen der Tugend sowohl von der bildenden Kunst als auch von der Literatur her bekannt sind, was hier für die Wiedergabe mit „Tugend“ spricht. Da jedoch die vorausgehende Verwendung von virtus mit haec virtus wieder aufgenommen wird, wäre eine einheitliche Wiedergabe von virtus angemessen.
Man kann an diesem Beispiel sehr schön zeigen, welche Probleme sich beim Übersetzen von abstrakten Begriffen mit einem großen Bedeutungsspektrum ergeben können. Selten findet sich in der Zielsprache ein Begriff mit demselben Bedeutungssprektrum; so gerät der Übersetzer in ein gewisses Dilemma: Einerseits wäre eine einheitliche Wiedergabe des zu übersetzenden Begriffes wünschenswert, damit auch in der Übersetzung immer deutlich wird, wo dieser Begriff im Originaltext benutzt wird, andrerseits kann diese einheitliche Wiedergabe in der Regel nicht allen Kontexten ganz gerecht werden.
Bezogen auf die vorliegenden Texte: Eine einheitliche Wiedergabe von virtus mit „Tugend“ in Text 2.2 lässt sich gut vertreten: „Auf der Tugend beruht das wahre Glück. Was wird dir diese Tugend raten?“ Aber in Text 2.1 wäre diese Übersetzung aufgrund des unmittelbaren Kontextes ein gewisser Verlust gegenüber „sittliche Vollkommenheit“, womit sowohl ratio perfecta als auch honestum besser aufgenommen werden.
- Erläutern Sie Senecas Vorstellung vom wahren Glück unter besonderer Berücksichtigung der Begriffe ratio, virtus, honestum, fortuita, voluptas.
Das spezifische Merkmal des Menschen ist nach Seneca die Vernunft (ratio). Volles Glück kann der Mensch nur erreichen, wenn er diese seine Vernunftbegabung pflegt und zur Vollendung bringt. Also besteht das Glück in der Verwirklichung des eigenen Wesens.
Seneca setzt die vollendete Vernunft mit virtus gleich. Dass unter virtus hier die sittliche Vorbildlichkeit zu verstehen ist, geht aus der anschließenden Gleichsetzung von virtus mit honestum hervor.
Offensichtlich geht Seneca davon aus, dass sich, wer sich ganz von der Vernunft leiten lässt, für das sittlich Gute, das den Einsatz für den Nächsten miteinschließt (alteri vivas oportet), entscheiden wird. Und diese Entscheidung macht glücklich und zugleich unabhängig von allen Gütern und auch von allen Schlägen, die das Schicksal mit sich bringen kann (nec extollant fortuita nec frangant).
Gegenüber diesem wahren, inneren, auf der rationalen Entscheidung für das sittlich Gute beruhenden Glück, das der Mensch sich selbst geben kann (quod sibi dare potest), sind alle oberflächlichen Genüsse und Lustempfindungen geringzuschätzen (vgl. das Paradoxon vera voluptas erit voluptatum contemptio).
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