Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Wie spricht man über jemanden, der nicht mehr sprechen kann?

Die Frage „Wer sieht?“ und die Frage „Wer spricht?“ müssen, wie du gelernt hast, getrennt voneinander beantwortet werden. Eine Frage, die auch berücksichtigt werden muss, lautet: „Wie wird gesprochen?“

Diese Frage spielt eine zentrale Rolle für die Verse 87-108: Denn die eigentliche Tragik Actaeons besteht darin, dass er mit seiner menschlichen Gestalt auch seine menschliche Stimme und Sprache verliert. Dies passiert bereits in dem Moment, als die Göttin Diana und ihre Nymphen Actaeon erblicken; denn Actaeon erhält nicht einmal die Gelegenheit, sich mit auch nur einem Wort zu rechtfertigen. Das bedeutet: Wer von der Sprachlosigkeit des Actaeon spricht, das ist der Erzähler.

Wie nun gelingt es dem Erzähler, die quälende Erfahrung zu schildern, dass jemand nicht mehr spricht bzw. nicht mehr sprechen und sich verständlich machen kann? Im Text werden folgende sprachlichen und erzählerischen Mittel eingesetzt:

  • gezielter Einsatz verschiedener Tempora und Modi bei den Verbformen
  • Stilmittel der Antithese: Gegensätze werden in einer besonders kompakten und sprachlich einprägsamen Weise einander gegenübergestellt
  • verschiedene Formen der Personenrede7:
    • direkte Wiedergabe von Gedanken
    • erlebte Rede
  • Apostrophe (s. Infokasten unter 1b)

Weise diese Mittel in den folgenden vier Textstellen nach, und zeige, wie das Erleben der Sprachlosigkeit dadurch eindrucksvoll zur Sprache gebracht wird.

VV 59-63:

Beschreibung
Lösungshinweise kursiv
  • Mit „Me miserum!“ gibt der Erzähler die Gedanken des Actaeon wieder und leiht damit dem Sprachlosen seine Stimme
  • Die Coniugatio periphrastica dicturus erat im (unvollendeten Imperfekt) bezeichnet hier den Wunsch, der mit dem realen Ausbleiben der Stimme (vox nulla secuta est) bzw. dem unmenschlichen Aufstöhnen im Perfekt (ingemuit – vox illa fuit) und den stattdessen fließenden Tränen (lacrimae fluxerunt) kontrastiert wird; ebenfalls im Indikativ Perfekt (mens ... mansit) beschrieben wird das schreckliche Erleben des Actaeon, dessen nach wie vor menschliches Bewusstsein im tierischen Körper gefangen ist.8
  • In VV 62f hat man tatsächlich den Eindruck, Actaeon erhielte eine Stimme – allerdings nur mit seinen Gedanken, die in Form der erlebten Rede vom Erzähler wiedergegeben werden.

VV 87-89:

Beschreibung
Lösungshinweise kursiv
  • Der emotionale Ausruf „Heu!“ lässt sich als Gedankenwiedergabe des Actaeon verstehen; plausibler aber ist es, dass der Erzähler sich hier in einer Apostrophe an die Figur Actaeon wendet und ihn in seiner ausweglosen Situation bedauert.
  • Die wörtliche Rede ist dabei fiktiv aus Sicht des Erzählers formuliert – da ja Actaeon nicht mehr sprechen kann – und höchstens denken: „Ich würde gerne sagen: …“ (clamare libebat!)
  • Die Antithese des Ind. Impf. libebat: „Er wollte“ (Imperfekt unterstreicht zugleich den vergeblichen Versuch) wird antithetisch dem realen historischen Präsens desunt und resonat gegenübergestellt.

VV 95b-99:

Beschreibung
Lösungshinweise kursiv
  • Die Laute, die Actaeon von sich gibt, werden – aus Sicht des Erzählers! – als Töne beschrieben, die unvorstellbar für einen Hirsch sind – auch wenn sie zugleich nicht mehr als menschliche Stimme erkennbar sind (der Konjunktiv markiert hier einen konsekutiven Relativsatz und zugleich eine Überlegung des Erzählers, denn die beteiligten Hunde und Gefährten bemerken ja gerade nichts: „einen Ton von so einer Art, dass ihn kein Hirsch hervorbringen könnte“)
  • Aus Perspektive der Erzählers gleicht der auf die Knie gesunkene Hirsch einem Bittflehenden, der seine Blicke in die Runde erhebt, wie dies ein Mensch in dieser Situation mit seinen Armen tun – und dazu sprechen würde (dahinter verbirgt sich eine irreale Überlegung).

VV 105-107:

Beschreibung
Lösungshinweise kursiv
  • Mit dem antithetischen Kontrast zwischen dem irrealen vellet und dem realen Indikativ Präsens adest bzw. dem Infinitiv sentire markiert der Erzähler den Kontrollverlust Actaeons, der in seiner verwandelten Gestalt nicht mehr so agieren kann, wie er das möchte, sondern der Situation hilflos ausgeliefert ist. 9

7 Vgl. Bildungsplan Gymnasium 2016 für das Fach Deutsch, 10. Klasse, 3.3.1.1.: SuS können „(10) Fachbegriffe zur formalen Beschreibung von Texten verwenden: – Autor, Erzähler, Erzählperspektive, Erzählform, Erzählhaltung, Erzählstruktur, Erzählzeit und erzählte Zeit, innere und äußere Handlung, offener Schluss, Erzählerbericht, Redewiedergabe in direkter, indirekter, erlebter Rede und innerem Monolog, Erzähltempora, Vorausdeutung und Rückblende“.

8 Ähnlich wie bei der Verwandlung der Aglauros in einen Stein wird hier ein Phänomen beschrieben, das einem Locked-in-Syndrom vergleichbar ist.

9 Die sprachliche Formulierung an dieser Stelle ähnelt dem Muster bei der Verwandlung der Aglauros: „Wenn sie versucht hätte (locata fuisset: Irrealis in V 70), zu sprechen, so hatte sie keinen Weg mehr für ihre Stimme“ (Indikativ habebat: V 71). – Auch in diesem Fall wird ein Irrealis, der den vergeblichen Wunsch bezeichnet, mit einem Indikativ kontrastiert, der die Vergeblichkeit dieses Wunsches markiert.

 

Actaeon: Lehrermaterial: Herunterladen [docx][328 KB]

Actaeon: Lehrermaterial: Herunterladen [pdf][2 MB]

 

Weiter zu Erzähltempo