Textauswahl: Invidia, Minerva und Aglauros – Actaeon und Diana
Für die Erarbeitung der beschriebenen Visualisierungsstrategien und Erzähltechniken wurden eine eher unbekannte und im Unterricht gewöhnlich nicht behandelte Passage sowie ein prominenter Textausschnitt gewählt: Die Metamorphose der Minerva-Priesterin Aglauros (a) und die Actaeon-Episode (b).
- Die Erzählung um Aglauros und Invidia aus dem zweiten Buch der „Metamorphosen“ (VV 760 - 832) bietet mit dem geringen Umfang von etwa 70 Versen einen Einblick in die meisten visuellen und narrativen Strategien, die typisch für die „Metamorphosen“ sind, insbesondere:
- Kulissentechnik und Ekphrasis
- Zoomtechnik und Point of view/Perspektivenübernahme
- Gleichnis – Kurzvergleich – Allegorie und Personifikation
- Reflexion von Sehen und Gesehenwerden.14
Der inhaltliche Zusammenhang wird in der einführenden Audiodatei der entsprechenden h5p-Übung hergestellt: „Aglauros, eine Priesterin der Göttin Minerva, hat einen Befehl ihrer himmlischen Herrin missachtet. Dann erweist sich Aglauros auch noch als habgierig: Denn als sich Merkur in ihre Schwester Herse verliebt, fordert sie von dem Gott reichen Lohn dafür, dass sie ihm den Zugang zur Schwester ermöglicht. Nun hat Minerva genug: Sie möchte ihre Dienerin Aglauros bestrafen. Dazu macht sich die Göttin auf den Weg zu Invidia, der personifizierten Gestalt der Missgunst oder des Neides, auf: Diese soll die Priesterin im Auftrag Minervas mit ihrem zersetzenden Gift des Neids infizieren.“ Die konkret behandelte Textstelle umfasst den Gang von Minerva zu Invidia, die Begegnung der Gottheit mit der ekelerregend-hässlichen Gestalt, die Erteilung des Auftrags und dessen anschließende Erfüllung mit der grausamen Verwandlung der Aglauros in einen Stein, nachdem diese dem Gott Merkur den Zugang zu ihrer Schwester zu verwehren versucht. - Die anschließende Behandlung der allgemein bekannten und häufig im Unterricht und in zahlreichen Schülerausgaben behandelten Actaeon-Passage ermöglicht es, die in der Aglauros-Invidia-Passage gewonnenen Erkenntnisse wiederaufzunehmen und zu vertiefen.
Zu den bereits eingeführten Kameratechniken kommen die Kamerafahrt bzw. der Kameraflug und der Kameraschwenk hinzu. Auch in der Actaeon-Episode wird das Thema „Sehen und Gesehenwerden“ reflektiert15 und um eine religiöse und moralische Komponente erweitert, denn im Falle des Actaeon führt dessen unabsichtlicher Blick auf die nackte Diana und seine Entdeckung zu dessen Bestrafung, außerdem erkennen die Hunde und Gefährten den in einen Hirsch verwandelten Actaeon nicht, obwohl sie ihn ja sehen. Darüber hinaus bietet das Thema des Sehens Anlass dazu, das Verhältnis von Figuren, Erzählerinstanz und Leser/Zuhörer16 zu reflektieren; denn in einem raffinierten Vexierspiel wird der Leser hier unversehens in die Szene hineinversetzt und durch eine Apostrophe vom Erzähler als der eigentliche Voyeur entlarvt.
Erweitert wird das Spektrum narrativer Mittel außerdem um die Frage, in welchem Tempo das Geschehen erzählt wird (z. B. Zeitdehnung durch den Hundekatalog und Zeitraffung bei der Zerfleischung des Actaeon-Hirsches).
14 Fondermann 2008, S. 39f., zum Thema „Sehen“ a. a. O. S. 128.
15 Fondermann 2008, S. 59 ff und pass.
16 Zur mündlichen Rezeptionssituation des antiken Epos s. 7.1.
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