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Einstiegstext aus: Berlin liegt im Osten

Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten. Berlin: Aufbau-Verlag, 2015. Textauszug Erster Teil, Kapitel 2, S. 15 – 18.

 

Draußen ist es hell, vom gestrigen Schnee ist nichts übrig geblieben. Feuchte Steinschuppen glänzen in der Sonne. Ich bleibe an der Ampel bei der Karl-Liebknecht- Straße stehen. Die Autos bewegen sich langsam, wie eine dichte Herde bunter, satter Säue. Die heiße Luft über ihren gepanzerten Rücken schmilzt und bebt. Hochhäuser, Kaufhof, Glasärmel des Bahnhofs, Betonboden – alles hier am Alex ist aus grauen Vierecken zusammengebaut – der ungemütliche Platz selbst hat sich in einem karogemusterten Netz verfangen. Windig und öde ist es hier um diese späte Morgenstunde – die fleißigen Frühmenschen haben sich schon in alle Himmelsrichtungen zerstreut, die Stunde der Freien hat geschlagen. Die wachen Rentner mit den Pusteblumenköpfen suchen ihre Zerstreuung vor der üppigen Kaufhofwursttheke; dicke und gepiercte Mütter schieben ihre Kinderwagen ins Handgemenge um die täglichen Supersonderangebote. Der weihnachtliche Schund im Inneren der provisorischen Marktbuden bleibt in dieser Morgenstunde noch hinter Fensterklappen versteckt. Die ersten fliegenden Wurstverkäufer legen schon weiche, blasse Würste auf die heißen Grillstäbe ihrer Bauchläden auf, und die kräftigen Ausdünstungen schweben über den Platz. Es ist ganz so, wie wir es uns einst geträumt haben: Wir säen nicht und ernten nicht, Licht und Wärme kriegen wir auf Knopfdruck, Liebe und Fürsorge per gesellschaftlichem Vertrag.
Ich kaufe ein dickes Bündel wohlduftender Tannenzweige und schwebe hoch zu den Geleisen. Der S-Bahn-Waggon ist nicht voll, trotzdem bleibe ich an der Tür stehen. Im Abteil zu meiner Linken sitzen zwei junge Menschen einander gegenüber und lesen: weiße Zähne, zartbronzene Haut (Berge und Meer), wohltemperierte Glieder und Gedanken – eine Menschenspezies, die irgendwo in grünen Stadtvororten gezüchtet wird und liebevollen Eltern entspringt, die ihre Kinder bewundern und fördern. Solche Jungen und Mädchen werden selbst von den sonst so allmächtigen Pickeln gemieden. Er starrt in das Buch ‚Fucking Berlin. Studentin und Teilzeit-Hure‘ von Sonja Rossi, sie liest das Buch ‚Merde‘. Ihr glatt gekämmtes Haar schimmert wie die Oberfläche eines edlen Streichinstrumentes, der kleine freche Haarknoten sitzt hoch auf dem Wirbel. Die Köpfe der beiden Lesenden neigen sich zueinander wie die beiden Seiten eines Giebels, und es ist zu spüren, dass sie sich zwar nicht anschauen, aber wahrnehmen und mögen.
An der Friedrichstraße schiebt sich eine Frau im Rollstuhl in den Waggon, die ihre aufgedunsenen und fußlosen Stümpfe den Fahrgästen entgegenhält. Als der Zug losfährt, rollt sie ungewollt zurück und prallt gegen die Haltestange. Die jungen Leser springen hoch zum Rollstuhl, und als ihre Hände über dem Kopf der Beinlosen in Berührung kommen, lächeln sie einander zu, um dann fürsorglich zur Frau zu sagen: Alles o. k.? Der junge Mann beugt sich zu dem Buch mit dem Titel ‚Merde‘, das bäuchlings auf dem Boden liegt, reicht es der jungen Frau und setzt sich wieder neben sie. Die Beinlose presst ihre Lippen vor Wut zusammen, eine Abstoßende, Ausgestoßene, Nichtgeliebte, vielleicht auch von Kindheit an. Die Frau im Rollstuhl spuckt auf den Boden vor den Füßen der jungen Menschen, denen sie wider Willen zueinander geholfen hat. Sie schimpft auf die Ungerechtigkeit dieser Welt und rudert davon. Ich wende mich zum Fenster.
Der Zug schwebt über der Museumsinsel. In den Schießscharten ihrer majestätischen Tempel öffnen sich flüchtige Einblicke in die kühlen Welten des eingesperrten Altertums: Mal ein Weiberbein aus Marmor, mal ein trauriger, verbannter Heiland. Reichstag. Die schiefe Sony-Zeltkuppel hinter dem Tiergarten.

 

Denkbare Aufgaben:

  • Suchen Sie einen zentralen Platz in der Stadt auf, in der Sie leben bzw. die von Ihnen ohne Aufwand erreicht werden kann. Fotografieren Sie dort zur „rush hour“ Menschen, welche den Platz überqueren, dort verweilen, sich mit anderen Menschen treffen etc.
  • Erstellen Sie eine kurze Bildpräsentation (fünf bis acht Fotos), und unterlegen Sie diese mit von Ihnen ausgesuchter Musik, welche die Atmosphäre Ihres Platzes zum Ausdruck bringt.
  • Das Berlin-Bild aus der Textstelle: Analysieren und interpretieren Sie den Textauszug.

 

Einsteig über „Berlin liegt im Osten“: Herunterladen [pdf][1 MB]

 

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